Einleitung
In der öffentlichen Diskussion haben Verteilungsfragen in den vergangenen Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Politiker aller Couleur, Gewerkschaften und Sozialverbände sehen die soziale Balance in Gefahr. Durch die Globalisierung, aber auch durch die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der vergangenen Jahre – so das Argument – habe sich die soziale Kluft in Deutschland vergrößert. Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF1 hat die aktuelle öffentliche wie akademische Diskussion zum Anlass genommen, die empirischen Fakten zur Einkommensverteilung in Deutschland näher zu betrachten. Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF hinterfragt dabei kritisch die enge Ausrichtung der Verteilungsdiskussion an jährlich erhobenen Maßen wie dem Gini-Koeffizienten. Um Aussagen über die Verteilung treffen zu können, sollte vielmehr die soziale Mobilität der Menschen über die Zeit in die Betrachtung miteinbezogen werden. Die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF diskutiert die gesellschaftlichen Institutionen, die Chancengleichheit und soziale Mobilität determinieren und fragt, welche dieser Institutionen der Staat zur Erhöhung der Chancengleichheit nutzen kann.
Die empirischen Fakten
Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF untersucht die Trends in der Ungleichheit in Deutschland anhand der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) und mittels verschiedener Ungleichheitsindikatoren. Im Detail beantworten unterschiedliche Verteilungsmaße, die sich beispielsweise auf das untere und obere Ende der Einkommensskala konzentrieren, unterschiedliche Fragen, ob, wie stark und in welchen Bereichen die Ungleichheit in Deutschland in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Die Einbeziehung verschiedener Ungleichheitsmaße erlaubt es, ein differenziertes Bild der Verteilungsproblematik zu gewinnen.
Ein Maß, das die Ungleichheit über die gesamte Einkommensskala hinweg misst, ist der Gini-Koeffizient. Der Wert des Koeffizienten liegt zwischen 0 und 1. Er nimmt den Wert 0 an, wenn alle Haushalte dasselbe Einkommen erzielen und den Wert 1, wenn ein Haushalt alles Einkommen erzielt und alle anderen Haushalte kein Einkommen erhalten. Ein höherer Gini-Koeffizient weist also auf eine größere Einkommensungleichheit hin. Abbildung 1 legt nahe, dass die Lohnungleichheit in Deutschland seit den 1990er Jahren bis 2005 zugenommen hat. Seitdem ist der Gini-Koeffizient in etwa konstant geblieben. Interessant ist der Vergleich der Ungleichheit der Stundenlöhne mit und ohne Berücksichtigung der Arbeitslosen. Während die Verteilung der Stundenlöhne bei den Erwerbstätigen seit 2005 etwa gleich geblieben ist, ist die Ungleichheit bei allen Erwerbspersonen (inklusive Arbeitslosen) nach 2005 bedingt durch die positive Arbeitsmarktentwicklung zurückgegangen.
Über die Einkommensungleichheit der Haushalte sagt die Lohnungleichheit jedoch wenig aus. Denn erstens hängt das Einkommen nicht nur vom Stundenlohn, sondern auch von der Arbeitszeit ab, und zweitens tragen in einem Haushalt potenziell mehrere Mitglieder zum Haushaltseinkommen bei. Die helle durchgezogene Linie in Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Ungleichheit bezogen auf das Haushaltsarbeitseinkommen. Dabei wird, wie in der Literatur üblich, das Haushaltseinkommen in fiktive Pro-Kopf-Einkommen mithilfe der OECD-Äquivalenzskala umgerechnet. Um die Einkommensverteilung der erwerbsfähigen Bevölkerung zu erhalten, werden nur Haushalte mit mindestens einer Erwerbsperson und mit einem Haushaltsvorstand im Alter zwischen 25 Jahren und 60 Jahren berücksichtigt. Die Ungleichheit bei den Haushaltseinkommen liegt generell höher als bei den Stundenlöhnen. Dies kommt zum einen daher, dass Personen mit höheren Stundenlöhnen im Durchschnitt länger arbeiten und daher die Arbeitseinkommen ungleicher verteilt sind als die Stundenlöhne. Zum anderen entsteht der Unterschied auch durch die Zusammensetzung der Haushalte, da Gutverdiener eher Gutverdiener heiraten. Die Ungleichheit der Haushaltsarbeitseinkommen hat, wie diejenige der Stundenlöhne im langfristigen Trend, seit Anfang der 1990er Jahre bis Mitte der 2000er Jahre zugenommen, dann zunächst abgenommen, und zeigt in den vergangenen Jahren wieder eine Zunahme.
Für die Beurteilung der Verteilungsgerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft ist – unabhängig von der konkreten Verteilungsnorm – letztlich nicht die Ungleichheit vor, sondern nach Steuern und Transfers relevant. So werden Bezieher hoher Einkommen in Deutschland, wie in den meisten entwickelten Ländern, stärker zur Finanzierung des Staates herangezogen. Daher kann auch nur anhand der Einkommensverteilung nach Steuern und Transfers die Verteilungsgerechtigkeit sinnvoll beurteilt werden. Abbildung 2 stellt die Gini-Koeffizienten bei den Bruttoeinkommen und Nettoeinkommen der Haushalte gegenüber. Der Anstieg der Ungleichheit der Bruttoeinkommen spiegelt sich in abgeschwächter Form auch in den Nettoeinkommen wider. Steuersystem und Sozialstaat dämpfen die Ungleichheit der Bruttoeinkommen deutlich, sodass der Anstieg der Ungleichheit bei den Nettoeinkommen geringer ausgefallen ist als bei den Bruttoeinkommen. 1991 lag der Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen 0,08 Punkte unter demjenigen der Bruttoeinkommen, 2013 hat sich der Abstand auf 0,11 Punkte erhöht. Dies weist auf eine gestiegene staatliche Umverteilung hin.
Im internationalen Kontext liegt Deutschland beim Gini-Koeffizienten der Bruttoeinkommen unter den OECD-Ländern im Mittelfeld. Unter den 32 OECD-Ländern, für die vergleichbare Daten für das Jahr 2013 vorhanden sind, liegt Deutschland auf dem 14. Platz. Damit weist Deutschland eine gleichere Einkommensverteilung auf als ähnlich entwickelte Industrieländer wie Italien oder Frankreich. In einigen Ländern, in denen die Ungleichheit der im Markt erzielten Einkommen gering ist, wie z. B. in Südkorea, ist die umverteilende Wirkung des Staates eher klein. Dagegen führt in einem Land wie Irland, wo die Ungleichheit der marktlichen Einkommen vergleichsweise groß ist, das staatliche Umverteilungssystem zu einer deutlichen Reduzierung des Gini-Koeffizienten. Deutschland liegt auch hinsichtlich der Ungleichheit nach Steuern und Transfers im Mittelfeld der OECD-Länder. Die Wirkung des staatlichen Umverteilungssystems ist dabei in Deutschland deutlich höher als in Italien, jedoch etwas geringer als in Frankreich.
Soziale Mobilität
Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF weist in seinem Gutachten darauf hin, dass die ausschließliche Fixierung auf jährliche Veränderungen der Ungleichheitsmaße zu kurz greift und plädiert dafür, in der Diskussion um Verteilungsgerechtigkeit stärker als in der Vergangenheit auf Ungleichheiten in den Lebenseinkommen zu achten.
Ein erheblicher Teil der im Querschnitt gemessenen Ungleichheit bei den Arbeitseinkommen entsteht aus Arbeitslosigkeit. Bei verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit weisen die Personen, die im Querschnitt am unteren Ende der Einkommensskala auftauchen, auch niedrige Lebenseinkommen auf. Wenn die Arbeitslosigkeit über die Zeit hinweg jedoch sehr viele unterschiedliche Personen trifft, überträgt sich die Ungleichheit, die im Querschnitt gemessen wird, nicht auf die Lebenseinkommen. Eine hohe Mobilität zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung wirkt wie eine Selbstversicherung, die zu einer Angleichung der Lebenseinkommen führt.
Im internationalen Vergleich ist die im Querschnitt gemessene Einkommensungleichheit in Deutschland zwar niedriger als in den USA oder im Vereinigten Königreich. Allerdings gilt das auch für die Einkommensmobilität über den Lebenszyklus hinweg.2 Die Einkommensmobilität verringert im Ergebnis die Ungleichheit der Lebenseinkommen in den USA stärker als in Deutschland. Bei einer Querschnittsbetrachtung verdient eine (männliche) Person, die mehr verdient als 90 % der Erwerbstätigen (90. Perzentil), in den USA fast fünf Mal so viel wie eine Person am (unteren) 10. Perzentil, während dieses Verhältnis in Deutschland nur 2,7 beträgt. Die Einkommensungleichheit scheint demnach in den USA viel ausgeprägter zu sein als in Deutschland. In der Lebenszeitbetrachtung reduziert sich in den USA die Relation aber durch die hohe Einkommensmobilität auf 2,8; in Deutschland bleibt die Relation dagegen nahezu unverändert. Politikmaßnahmen, die die Ungleichheit zu einem Zeitpunkt verringern (z. B. Arbeitslosenunterstützung), können dabei gleichzeitig zu einer Erhöhung der Lebenseinkommensungleichheit führen, sofern sie die soziale Position im Zeitverlauf zementieren.
Ein Teil der Veränderung in der gemessenen Ungleichheit dürfte auch auf freiwillige individuelle Entscheidungen der Bürger zurückzuführen sein. Beispielsweise haben sich typische Lebensentwürfe verändert, auch was die Arbeitsmarktpartizipation angeht. Ein Anstieg der Ungleichheit ist daher nicht zwangsläufig ein Zeichen sich verschlechternder Lebensumstände. Rechnet man die individuellen Entscheidungen aus dem Ungleichheitsmaß heraus, zeigt sich für Deutschland, dass die Chancengleichheit – trotz gestiegener Einkommensungleichheit – seit der deutschen Einheit annähernd konstant geblieben ist.3
Institutionen der Mobilität und die Spielräume des Staates
Die soziale Mobilität wird mutmaßlich von vielen verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen determiniert. Für die Herausbildung von Ungleichheit der Einkommensverteilung in Haushalten sind beispielsweise Heiratsentscheidungen von großer Bedeutung. Heiraten von wirtschaftlich ähnlich gestellten Personen führen zu einer größeren Ungleichheit der Haushaltseinkommen als Heiraten zwischen wirtschaftlich unterschiedlich gestellten Personen. Nun würde kaum jemand ernsthaft fordern, der Staat solle darauf Einfluss nehmen, wer wen heiratet. Nur ein Teil der Institutionen, die die soziale Mobilität prägen, ist vom Staat geschaffen und vom Staat beeinflussbar. Auf Umwegen, beispielsweise über die Bildung oder über die öffentlichen Finanzen, kann der Staat aber zum Teil Einfluss nehmen, in welchem Umfang diese gesellschaftlichen Institutionen die Ungleichheit bestimmen.
Eine Verbesserung der Verteilungsgerechtigkeit ist nach Ansicht des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF vor allem durch Maßnahmen zu erzielen, die den Bildungserfolg benachteiligter Bevölkerungsgruppen steigern und so Chancengleichheit und soziale Mobilität fördern. Zu den Ansatzpunkten gehören die frühkindliche Förderung insbesondere bei besonders benachteiligten Gruppen, das längere gemeinsame Lernen, die Durchlässigkeit von Schulsystemen sowie die Verringerung von Abbrecherquoten. Die soziale Mobilität am unteren Ende der Einkommensverteilung wird zum Teil auch durch Schnittstellenprobleme zwischen den unterschiedlichen Institutionen des deutschen Sozialstaates behindert. Schon durch eine Verbesserung der Schnittstellen im deutschen Sozialstaat ließe sich die Förderung besonders benachteiligter Gruppen effektiver und zielgenauer ausgestalten und die Chancen für eine Aufwärtsmobilität insbesondere bei jungen Menschen mit schlechten Startchancen könnten deutlich gesteigert werden.
Die soziale Mobilität zwischen den Generationen könnte auch durch eine maßvolle, aber konsequente Besteuerung von Erbschaften erhöht werden. Die gegenwärtige Ausgestaltung der Erbschaftsteuer ist für eine wirksame Verringerung der Vermögensunterschiede jedoch ungeeignet. Die Privilegierung von Unternehmensvermögen verhindert de facto, dass Erbschaften, je nach Art von Vermögen, überhaupt nennenswert besteuert werden. Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF hat bereits in einem Gutachten aus dem Jahr 2012 einen Vorschlag unterbreitet, wie die Erbschaftsteuer verfassungskonform reformiert werden könnte, ohne übermäßige realwirtschaftliche Kosten zu verursachen.
Fußnoten
- 1
- Die Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF sind als Beitrag zum allgemeinen Diskurs zu verstehen und geben nicht notwendigerweise die Meinung des BMF wieder. Die Langfassung des Gutachtens wird auch als Broschüre herausgegeben.
- 2
- Audra J. Bowlus und Jean-Marc Robin (2012): „An International Comparison of Lifetime Inequality: How Continental Europe Resembles North America”, Journal of the European Economic Association 10(6), 1236–1262.
- 3
- Andreas Peichl und Martin Ungerer (2016): „Equality of Opportunity: East vs. West Germany”, Bulletin of Economic Research, im Druck.