- Datum 17.06.2023
Süddeutsche Zeitung: Von Olaf Scholz stammt der Satz: Wer Führung bestellt, kriegt sie auch. Hat bei Ihnen niemand was bestellt?
Christian Lindner: Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen.
Süddeutsche Zeitung: Ein Abgeordneter der FDP, der eigentlich nur für Bitcoins zuständig ist, hat im Heizungsstreit monatelang die Koalition vor sich hergetrieben. Sie als Parteichef haben ihn gewähren lassen.
Christian Lindner: Die FDP insgesamt hat Korrekturbedarf gesehen. Wir hatten in unserer Partei keine inhaltlichen Differenzen, die mich gefordert hätten. Im Ergebnis haben wir gemeinsam in der Koalition eine Neufassung des Heizungsgesetzes verabredet. Wir haben Praxistauglichkeit, Technologiefreiheit und vor allem die zeitliche Verknüpfung mit der örtlichen Wärmeplanung verbessert. Ich spüre geradezu ein Aufatmen im Land. Insgesamt müssen wir Klimaschutz so realisieren, dass wirtschaftlich Vernünftiges und physikalisch Mögliches berücksichtigt werden. Deshalb ist die diese Woche auch gelungene, marktwirtschaftliche Novelle des Klimaschutzgesetzes so wichtig. Mit der Überwindung der starren Sektorziele können sich die Bereiche gegenseitig helfen, massive Kostensteigerungen oder Freiheitseingriffe sollen so verhindert werden.
Süddeutsche Zeitung: Billigen Sie auch den Ton, in dem die Kritik von Ihren Leuten teilweise vorgetragen wurde?
Christian Lindner: Wenn ich alle Äußerungen der Grünen Jugend oder Abgeordneter anderer Fraktionen auf die Goldwaage legen würde, käme ich nicht zu meiner Arbeit. So sehe ich auch meine eigenen Leute.
Süddeutsche Zeitung: Welche Heizung haben Sie eigentlich in Ihrem Haus einbauen lassen?
Christian Lindner: Ich habe eine Wärmepumpe mit Photovoltaik. Und obwohl mich das persönlich begeistert, möchte ich das dennoch nicht allen anderen vorgeben.
Süddeutsche Zeitung: Die AfD muss derzeit nicht viel tun, um ihre Umfragewerte zu steigern. Welchen Anteil hat die Ampel mit ihren ewigen Streitereien am Aufstieg der Rechtspopulisten?
Christian Lindner: Diese Erzählung überzeugt mich nicht. Denn man bekommt Rechtspopulisten nicht klein, indem man Politik durchzieht, die Bedenken und Widersprüche ignoriert. Im Gegenteil sollten wir weniger über die AfD sprechen, sondern mit ihren Wählern und den über deren Anliegen. Wir müssen zum Beispiel Migration und Asyl besser steuern. Es wurde denjenigen zu leicht gemacht zu bleiben, die sich hier nicht rechtmäßig aufhalten. Und es wurde denjenigen zu schwer gemacht zu kommen, die wir dringend im Arbeitsmarkt brauchen. Die Bundesregierung wird das umkehren. Die europäischen Beschlüsse sind eine positive Zäsur. Darüber hinaus sollten wir Klimaschutz mit Vernunft vorantreiben, Bürokratielasten reduzieren und allen Lebensmodellen Respekt zollen – und nicht nur die Perspektive Berlin-Mitte für zeitgemäß halten.
Süddeutsche Zeitung: Die Dreierbeziehung Scholz, Habeck, Lindner gilt als Machtzentrum dieser Koalition. Ist sie noch intakt?
Christian Lindner: Natürlich.
Süddeutsche Zeitung: Hätte sich der Kanzler früher einschalten müssen in die Heizungsdebatte?
Christian Lindner: Die Ministerinnen und Minister führen ihre Ressorts in eigener Verantwortung.
Süddeutsche Zeitung: Das ist eine schöne Überleitung zum Haushalt für das Jahr 2024. Da führen Sie die Geschäfte ja auch in eigener Verantwortung, trotzdem muss Ihnen der Kanzler jetzt dabei helfen, andere Ressorts zum Sparen zu bewegen.
Christian Lindner: Der Haushalt ist ein Vorhaben der ganzen Bundesregierung. Ich habe Ende Mai den Ressorts ihre Ausgabenobergrenzen mitgeteilt. Schon damals habe ich im Kabinettskreis gesagt, dass ich die jeweiligen Haushaltszahlen natürlich auf Wunsch erläutere, aber den Bundeskanzler dazu bitten werde. Dadurch habe ich unterstrichen, dass es keine umfänglichen Verhandlungen mehr geben kann und dass meine Vorgabe mit dem Bundeskanzler abgestimmt war.
Süddeutsche Zeitung: Aber warum muss der Kanzler dabei sein?
Christian Lindner: Aus Gründen der Zeitersparnis. Die Alternative wäre gewesen, wie bei der Haushaltsplanung 2010 ein Wochenende im Kreis des Kabinetts oder des Koalitionsausschusses zu verbringen. Ich war damals als Generalsekretär dabei, wie die einzelnen Ressortchefs vortragen mussten. Da aber die zur Verfügung stehenden Mittel feststehen, hätte dieses Verfahren jetzt wenig Sinn gemacht.
Süddeutsche Zeitung: Sind Sie mit den Gesprächen schon durch?
Christian Lindner: Ja.
Süddeutsche Zeitung: Was folgt daraus?
Christian Lindner: Wir legen den Haushalt planmäßig und wie angekündigt vor der Sommerpause vor.
Süddeutsche Zeitung: Das ist der erste Haushalt der Koalition mit Schuldenbremse und ohne Sondertöpfe. Und schon gelingt es Ihnen nicht, eine gemeinsame Vorstellung von den finanzpolitischen Realitäten zu entwickeln. Woran liegt das?
Christian Lindner: Sie erwecken den Eindruck, wir hätten es mit einer Routine-Aufgabe zu tun. Tatsächlich sind es die schwierigsten Etatberatungen seit 2010. Manche erinnern sich, wie es damals zuging. Heute belastet allein die Zinswende den Haushalt mit gut 36 Milliarden Euro. Viele Entscheidungen der Großen Koalition sind nicht nachhaltig finanziert. Wir haben massiven Investitionsbedarf. Die Vernachlässigung der Bundeswehr wird beendet. Die Kabinettsmitglieder werben für viele wichtige Projekte. Ich will vieles ermöglichen, aber die Mittel sind begrenzt. Uferlos neue Schulden erlaubt die Verfassung nicht. Eine Fortsetzung der expansiven Finanzpolitik würde auch die Inflation befeuern und die Geldpolitik der EZB konterkarieren. Höhere Steuern wiederum in Zeiten einer technischen Rezession wären für die Konjunktur schädlich.
Süddeutsche Zeitung: Aber der Staat muss gerade jetzt viel investieren. Wie sinnvoll ist es da, fünf Milliarden Euro ausgerechnet bei den Investitionen einzusparen?
Christian Lindner: Wir werden öffentliche Investitionen auf Rekordhöhe fortschreiben. Tatsächlich war es in der Vergangenheit aber so, dass die Gelder für Investitionen niemals voll ausgeschöpft wurden - aufgrund der viel zu langen Planungs- und Genehmigungsverfahren. Da wollen wir wirksamer werden. Eines ist aber richtig: Mit dem Haushalt 2024 werden wir vor allem eine quantitative Konsolidierung erreichen. Die Ausgaben für Staatskonsum, Soziales und neuerdings Zinsen dominieren den Bundeshaushalt schon viele Jahre. Das kann man nicht von jetzt auf gleich umsteuern. Wir müssen nach der quantitativen Konsolidierung die qualitative anschließen. Neue Mittel sollten also künftig stärker in Zukunftsaufgaben wie klimaneutrale Technologie, Bildung, Forschung, Digitalisierung oder Infrastruktur fließen. Das ist dann der zweite Schritt.
Süddeutsche Zeitung: Ist es dann jedes Jahr so, dass die einen sagen: Ich will aber trotzdem mehr Geld, der Finanzminister kann ja die Steuern erhöhen. Und Sie sagen: Es gibt nix und außerdem hole ich gleich meinen großen Bruder?
Christian Lindner: Welchen großen Bruder?
Süddeutsche Zeitung: Den Kanzler.
Christian Lindner: Nein. Aber um es klar zu sagen, in der Vergangenheit gab es Kanzler, die haben den Finanzminister öffentlich überstimmt. Ich arbeite mit einem Kanzler, der meine Argumente unterstützt.
Süddeutsche Zeitung: Rechnen Sie mit einem Lerneffekt für die kommenden Jahre? Dass es beim nächsten Mal leichter wird?
Christian Lindner: Ich bin Realist. Gute Vorhaben werden auf knappe Ressourcen treffen, Jahr für Jahr. Wir werden dauerhaft großen Handlungsbedarf haben. Wir wollen beispielsweise das NATO-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Bundeswehr erreichen. Für den Beginn hatte ich eine Brücke über das Sonderprogramm im Grundgesetz vorgeschlagen, weil das ad hoc im Haushalt nicht darstellbar war. In wenigen Jahren muss es aber daraus finanziert werden. Das müssen wir erwirtschaften mit Weitblick.
Süddeutsche Zeitung: Die Grünen werfen Ihnen aber vor, dass Sie zusätzlich die Einnahmen gesenkt haben durch das Inflationsausgleichsgesetz, also den Ausgleich der kalten Progression.
Christian Lindner: Der Vorwurf der Grünen ist vollkommen berechtigt. Ich nehme ihn dankbar an. Tatsächlich haben wie die kalte Progression verhindert, damit der Staat sich nicht an der Inflation bereichert. Eine vierköpfige Familie mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 55 000 Euro hätte sonst dieses Jahr 800 Euro mehr an Steuern zahlen müssen. Der Staat muss lernen, mit dem Geld auszukommen, das die Bürgerinnen und Bürger ihm zur Verfügung stellen. Wer Steuern erhöhen will, kann in Wahlkämpfen dafür werben. Ich hingegen halte einen Wachstumsimpuls für nötig. Die von mir vorbereitete Steuerreform 2023 soll dazu einen Beitrag leisten, insbesondere im Bereich Bürokratieabbau, Investitionsanreiz und Forschung.
Süddeutsche Zeitung: Ende 2021 haben Sie gesagt, eine Koalition sollte mit der Absicht antreten, gemeinsam wiedergewählt zu werden. Gilt das heute noch?
Christian Lindner: Ja, wenn man erfolgreich arbeitet und von den Menschen bestätigt wird, ändert man ja die Konstellation nicht ohne Not. Klar ist aber auch, dass die FDP eigenständig in Wahlen geht und danach schaut, wo wir unsere Inhalte am besten einbringen können. Die Koalition stößt viele Modernisierungsvorhaben an, von denen unsere Gesellschaft dauerhaft profitieren wird. Die FDP achtet darauf, dass wir die Anliegen der Mitte der Gesellschaft, der Mehrheit, nicht aus den Augen verlieren. Beispielsweise haben wir deshalb dafür gesorgt, dass der Verbrennungsmotor im Auto als Option erhalten bleibt, wenn er mit klimafreundlichem Sprit genutzt wird. Ich bin aber überzeugt, dass diese Koalition nur dann eine Chance hat, eine Mehrheit zu gewinnen, wenn sie unser Land wieder auf den wirtschaftlichen Erfolgspfad zurückführt. Sonst wenden sich die Menschen anderen zu. „It’s the economy, stupid!“, sagte Bill Clinton. Nur mit Verteilungspolitik wird es nicht gehen.
Süddeutsche Zeitung: Wie groß ist denn die Sehnsucht nach einer Zusammenarbeit mit der Union?
Christian Lindner: Überschaubar. Die CDU liebäugelt jetzt zum Beispiel auch mit Steuererhöhungen. Wir koalieren aber schon mit Parteien, die Steuererhöhungen ins Auge fassen. Woraus also sollte da die Sehnsucht erwachsen, jetzt mit anderen zu koalieren, die ebenfalls die Steuern erhöhen wollen?
Süddeutsche Zeitung: Wenn die FDP, wie Sie sagen, auf den Willen der Bevölkerung achtet – warum steht sie dann in den Umfragen nicht besser da?
Christian Lindner: Ich bin mir sicher, dass wir bei der nächsten Bundestagswahl ein Ergebnis oberhalb von zehn Prozent erreichen. Zum dritten Mal nacheinander.
Süddeutsche Zeitung: Es gibt in Ihrer Partei einerseits die Jungen, Progressiven, ein bisschen Geschmeidigeren, die für die Ampel stehen – und andererseits die Lautstarken, die mehr FDP pur fordern.
Christian Lindner: Ich muss zurückweisen, dass diejenigen, die Sie als „geschmeidig“ bezeichnet haben, nicht auch FDP pur machen. Zu den Wurzeln der FDP gehört der Einsatz für Bürgerrechte und liberale Gesellschaftspolitik genauso wie für wirtschaftliche Freiheit, Technologie und den effektiven Staat. Es gibt in meiner Partei viele unterschiedliche Persönlichkeiten, die Akzente setzen. Aber alle sind sich einig darin, dass es die Mission der FDP ist, jeden einzelnen Menschen zu stärken.
Süddeutsche Zeitung: Und wenn jeder seinen Akzent gesetzt hat, setzen Sie am Schluss den Punkt.
Christian Lindner: Als Parteivorsitzender schlage ich die strategische Grundlinie vor und führe im Zentrum zusammen. Die Partei ist mit sich im Reinen, sie ist vielfältig, aber sie agiert geschlossen.
Süddeutsche Zeitung: Sie haben erwähnt, dass Deutschland dabei sei, international den Anschluss zu verlieren. Hat man das in der Ampel-Koalition verstanden oder ist die Koalition dafür zu sehr mit sich selbst beschäftigt?
Christian Lindner: Die Koalition ist intensiv damit beschäftigt, neue Antworten zu formulieren. Wir arbeiten daran, wie wir für Zukunftsunternehmen und Start-ups die Rahmenbedingungen verbessern. Wir wollen die gesetzliche Rente durch die Kapitaldeckung im Sinne einer Aktienrente auch für die junge Generation fit machen. Wir beschleunigen die Planungs- und Genehmigungsverfahren. Wir bauen unsere Energieversorgung um. Die Koalition ist nicht mit sich beschäftigt, sondern mit den Sachthemen, die aber eben schwierig sind.
Süddeutsche Zeitung: Der ehemalige Wirtschaftsweise Bert Rürup hat dieser Tage geschrieben, Deutschland sei wieder auf dem Weg, der kranke Mann Europas zu werden.
Christian Lindner: Die Gefahr bestünde in der Tat, wenn wir untätig wären. Denn wir sind inzwischen ein Höchststeuerland. Wir haben ein Problem bei Fach- und Arbeitskräften. Wir haben überbordenden Bürokratismus. Wir haben hohe Energiepreise. Die Rahmenbedingungen haben sich also auch im Vergleich zu anderen verschlechtert. Frankreich etwa hat eine umfangreiche Steuerentlastung angekündigt, während bei uns die öffentliche Debatte eher in Richtung Steuererhöhung zu kreisen scheint. Aber unser Bestreben ist es ja genau, diese Gefahr abzuwenden. Wir müssen unser Land wettbewerbsfähig machen.
Süddeutsche Zeitung: Als Finanzminister treffen Sie jetzt viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland. Verändert das den Blick auf Deutschland?
Christian Lindner: Ja. Deutschland darf sich nicht der Selbstzufriedenheit hingeben. Andere sind nämlich auch gut und schnell. Deutschland sollte sich auch vor Attitüden moralischer Überlegenheit hüten, denn andere haben ebenfalls ethische Abwägungen, selbst wenn sie manchmal nicht mit unseren übereinstimmen. Aber Deutschland sollte nicht zu pessimistisch sein. Ja, andere sind gut – Deutschland ist es auch.
Süddeutsche Zeitung: Kanzler Scholz schildert zuweilen die Zukunftsvision eines produktiven, klimafreundlichen Deutschlands, in dem es weder Arbeitslosigkeit noch Radikalismus gibt. Teilen Sie diese Vision?
Christian Lindner: Diese Ziele sind gut, ergeben sich aber nicht von selbst. Im Gegenteil, dazu müssen wir wirklich einen Zahn zulegen.
Süddeutsche Zeitung: Ist es angesichts des Zustands der Koalition das Beste an Ihrem Job, dass sie manchmal wegkommen aus Berlin?
Christian Lindner: Meine Gefühlslage schätzen Sie falsch ein. Und die Koalition auch. Ich weiß, dass manche Beobachter sich Rot-Grün wünschen. Die fühlen sich von uns gestört. Aber es gibt eben keine Mehrheit links oder rechts der FDP. Das dann gerungen wird um Inhalte, ist doch klar. Man ist ja in einer Koalition und nicht in einer Fusion.