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20.11.2023

Öffentliche Finanzen

Christian Lindner im Interview mit der BILD am Sonntag

Bundesfinanzminister Christian Lindner im Interview: „Wir entlasten die Menschen. So bleibt die Mehrwertsteuer auf Gas länger niedrig, die Stromsteuer sinkt für das produzierende Gewerbe. Vor allem aber werden wir bei der Einkommensteuer um rund 15 Milliarden Euro entlasten.“

  • Datum 20.11.2023

BILD am Sonntag: Herr Lindner, Können Sie trotz des 60 Milliarden Haushaltsloch nachts noch schlafen?

Christian Lindner: Ja.

BILD am Sonntag: Bereuen Sie manchmal, dass Sie das Finanzministerium übernommen haben?

Christian Lindner: Nie. Ich kämpfe jeden Tag, dass mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sorgfältig gewirtschaftet wird. Die deutsche Schuldenquote sinkt seit 2021 wieder. Das hilft gegen die Inflation. Und die Koalition senkt die Steuerlast, obwohl SPD und Grüne wieder Steuererhöhungen auf ihren Parteitagen beschließen werden. Es ist nicht einfach, aber hier hat man Einfluss.

BILD am Sonntag: Die Mehrwertsteuer in der Gastronomie wurde von 7 auf 19 Prozent erhöht. Müssen sich die Deutschen doch auf weitere Steuererhöhungen gefasst machen?

Christian Lindner: Die Gastro-Mehrwertsteuer war eine Krisenhilfe, die aufgrund der Entscheidungen der Großen Koalition schon dieses Jahr entfallen wäre. Das konnte ich für 2023 verhindern. Wenn alle Parteien an einem Strang gezogen hätten, wäre eine weitere Verlängerung drin gewesen. SPD und Grüne hatten aber andere Prioritäten. Ich verstehe, dass viele es bedauern. Aber die Rückkehr zur Normalität muss man akzeptieren.

BILD am Sonntag: Können Sie versprechen, dass es keine Steuererhöhungen mit Ihnen gibt?

Christian Lindner: Mehr noch, wir entlasten die Menschen. So bleibt die Mehrwertsteuer auf Gas länger niedrig, die Stromsteuer sinkt für das produzierende Gewerbe. Vor allem aber werden wir bei der Einkommensteuer um rund 15 Milliarden Euro entlasten. Zum Beispiel wird der Grundfreibetrag von 10908 auf 11784 Euro steigen, der Kinderfreibetrag von 6024 auf 6612 Euro. Die arbeitende Bevölkerung habe ich im Blick. Es darf nicht sein, dass in der Inflation nur Sozialleistungen steigen.

BILD am Sonntag: War es Ihre Idee, die 60 Milliarden Corona-Mittel einfach in den Klimatransformationsfonds zu stecken?

Christian Lindner: Nein, das war ein Koalitionskompromiss vor meinem Amtsantritt. Aber den habe ich akzeptiert, weshalb ich mich jetzt nicht wegducke. Das Vorgehen haben wir als rechtlich verantwortbar eingeschätzt, weil auch die CDU-geführte Vorgängerregierung 2020 schon einmal 26 Milliarden Euro in den Fonds überführt hatte. Jetzt wissen wir, dass es diesen Weg nicht gibt.

BILD am Sonntag: Der Staat fehlen diese 60 Milliarden und Sie müssen Ausgaben streichen. Müssen die Deutschen den Gürtel enger schnallen?

Christian Lindner: Es fehlen in der Zukunft staatliche Finanzmittel, die für die Erneuerung von Wirtschaft und Infrastruktur vorgesehen waren. Prinzipiell hat dieser Staat aber kein Einnahmeproblem. Seit einem Jahrzehnt wachsen lästige Bürokratie, teils leistungsfeindliche Umverteilung und planwirtschaftliche Subventionen. Wir müssen jetzt mit weniger Geld wirksamere Politik machen.

BILD am Sonntag: Das hört sich nach einer Streichliste.

Christian Lindner: Nein, es ist ein Wendepunkt. Es gibt kein Weiter so. Es liegt an uns, ob das ein Risiko oder eine Chance ist.

BILD am Sonntag: Wirtschaftsminister Robert Habeck hat es vor einigen Monaten etwas anders formuliert. Er hat gesagt, wenn diese Klage erfolgreich sei, würde das Deutschland wirklich wirtschaftspolitisch hart treffen. Stimmen Sie ihm zu?

Christian Lindner: Die kurzfristigen Folgen sind hart. Langfristig können wir uns Vorteile erarbeiten. Wir werden jetzt gezwungen, mit weniger öffentlichen Subventionen die Wirtschaft zu modernisieren. Es geht jetzt um weniger Bürokratie, agilere Verwaltung, Technikfreundlichkeit und die Mobilisierung privaten Kapitals für Investitionen. Gute Wirtschaftspolitik muss kein Geld kosten, wenn sie den Unternehmergeist anfacht. Jetzt muss jeder einsehen, dass auch immer weiter steigende Erwartungen an den Staat nicht erfüllt werden können.

BILD am Sonntag: Sie haben schon konkrete Ausgaben, die jetzt gestrichen werden sollten?

Christian Lindner: Die größten Veränderungen ergeben sich erst in der Zukunft im Bereich der Wirtschaftsförderung. An neuen Konzepten arbeiten wir.

BILD am Sonntag: Wird die Schuldenbremse fallen, damit die Lieblingsprojekte der Grünen bezahlt werden können?

Christian Lindner: Die Schuldenbremse ist Verfassungsrecht, hier geht es nicht um Parteipolitik. Außerdem hat sie ihre Verdienste, denn sie schützt die Bürgerinnen und Bürger vor untragbarer Schuldenlast und zwingt die Politik zu Entscheidungen.

BILD am Sonntag: Sie sind der erste Finanzminister, der einen verfassungswidrigen Haushalt zu verantworten hat. Ärgert Sie das?

Christian Lindner: Das Bundesverfassungsgericht hat sich zum ersten Mal umfassend mit der Schuldenbremse befasst. Wir haben neue Klarheit. Hätte es diese vor zwei Jahren gegeben, wäre anders entschieden worden. Jetzt sehe ich das Urteil als Auftrag. Die neue Rechtsklarheit ist kein Anlass, die Schuldenbremse zu schleifen, sondern sie zu stärken.

BILD am Sonntag: Wie wurde bei früheren Bundesregierungen beim Haushalt getrickst?

Christian Lindner: Ich werde nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Frühere Bundesregierungen und die Länder haben teilweise Entscheidungen getroffen, die nach der Rechtsprechung der Schuldenbremse durch das Verfassungsgericht jetzt nicht mehr möglich wären. Geklagt wurde gegen einen Bundeshaushalt, geurteilt wurde über die Staatspraxis.

BILD am Sonntag: Muss man den ganzen Koalitionsvertrag neu schreiben?

Christian Lindner: Nein, der Koalitionsvertrag enthält wichtige Ziele. Nichts ist falsch daran, dass wir unser Bildungssystem besser machen wollen. Dass wir in Digitalisierung und Infrastruktur investieren wollen. Dass wir dafür sorgen wollen, dass Wirtschaftskraft und Wahlfreiheit mit Klimaschutz verbunden werden. Aber wir werden teilweise über andere Wege zum Ziel sprechen müssen.

BILD am Sonntag: Ist das Bürgergeld jetzt noch finanzierbar?

Christian Lindner: Die Kostensteigerungen können nicht so weitergehen. Wir müssen dafür mehr Menschen in Arbeit bekommen. Wer sich da verweigert, kann nicht auf Solidarität zählen. Zudem müssen wir sicherstellen, dass sich Arbeit immer lohnt. Im Zusammenspiel von Bürgergeld, Wohngeld, Kinderzuschlag und anderen Sozialtransfers stellen sich zu viele Menschen die Frage, ob Arbeit noch Sinn macht. Mir geht es dabei nicht zuerst um Einsparungen für den Staat, sondern um Gerechtigkeit.

BILD am Sonntag: Aber konkret sagen Sie nicht, ob eine Chip-Fabrik fünf und die Bahn noch 12,5 Milliarden bekommen. Was wird aus dem Klimafonds gestrichen?

Christian Lindner: Das ist zu früh. Für die Bürgerinnen und Bürger ist nun wichtig, dass alle rechtsverbindlich gegebenen Zusagen eingehalten werden. Der neue Wirtschaftsplan braucht aber noch Zeit.

BILD am Sonntag: Sie wollen jetzt einen neuen Wirtschaftsplan erarbeiten. Also gehen Sie davon aus, dass die Ampel-Koalition das überstehen wird?

Christian Lindner: Wir sind seit 2021 fortwährend in einem Krisenmodus. Das härtet ab.

BILD am Sonntag: Können wir uns die Flüchtlingskrise und die Aufnahme der Migranten noch leisten?

Christian Lindner: Weil wir uns die seit Jahren ungeordnete Migration in keiner Hinsicht mehr erlauben können, verfolgen wir eine neue Realpolitik. Geringe Hürden für Fachkräfte im Arbeitsmarkt, Unterbinden der illegalen Migration in das Sozialsystem. Da geht es um unser Geld, aber vor allem um Werte. Wir werden zum Beispiel das Staatsbürgerschaftsrecht verschärfen. Anders als bisher soll niemand einen deutschen Pass erhalten, wer nicht seinen Lebensunterhalt selbst finanziert und Antisemitismus ablehnt. Wer allerdings als Leistungsträger zu unserer Gesellschaft beiträgt, soll schneller Deutscher werden können.

BILD am Sonntag: Einer INSA-Umfrage zufolge möchten mehr als 60 Prozent der Bürger keine Einwanderung aus muslimischen Staaten mehr. Haben Sie dafür Verständnis?

Christian Lindner: Ich möchte Kontrolle bei der Migration. Aber wir sind ein weltoffenes Land. An welchen Gott jemand glaubt oder ob er überhaupt nicht glaubt, welche kulinarischen Vorlieben sie oder er hat oder welche ethnische Herkunft, das darf in einem liberalen Staat keine Rolle spielen.

BILD am Sonntag: Ihre Partei steht aktuell in Umfragen bei 5 Prozent, nicht einmal halb so viel wie bei der Bundestagswahl. Sind Sie schuld?

Christian Lindner: Als Parteivorsitzender kenne ich das Auf und Ab. Gewählt wird später, jetzt ist Problemlösung statt Wahlkampf angesagt.

BILD am Sonntag: Hat das Amt Sie verändert oder haben Sie das Amt verändert?

Christian Lindner: Das Finanzministerium setzt sicher mehr auf Freiheit, Marktwirtschaft und Entlastung, seit ich hier arbeite. Aber auch mich hat umgekehrt das Amt verändert. Ich spüre die Verantwortung, die dieses Amt mit sich bringt.