- Datum 05.01.2024
Stuttgarter Zeitung: Herr Lindner, mehr als 47 Prozent haben bei der Mitgliederbefragung in der FDP gegen die Ampel gestimmt. Können Sie die Parteifreunde verstehen?
Christian Lindner: Mein Respekt ist groß gegenüber allen, die wollen, dass Deutschland freier, moderner und digitaler wird und gleichzeitig ein weltoffenes Land bleibt. Ich teile manche Ungeduld. Aber ich sehe, was die FDP tatsächlich erreicht. Die Regierungspolitik wäre ohne die FDP eine völlig andere. Deshalb sollte man nicht ohne Not aufgeben, Einfluss darauf zu nehmen, in welche Richtung unser Land geht.
Stuttgarter Zeitung: Welchen Einfluss hat das Ergebnis der Mitgliederbefragung auf die künftige Zusammenarbeit mit SPD und Grünen?
Christian Lindner: Wir haben bislang für unsere Projekte gearbeitet. Das werden wir weiter tun. Die Schuldenquote des Staats sinkt, obwohl wir auf Rekordniveau in Infrastruktur investieren und die Einkommensteuer gesenkt haben. Wir haben eine neue Realpolitik bei der Kontrolle der Einwanderung und der Bekämpfung der illegalen Migration erreicht. Beim Klimaschutz haben wir Planwirtschaft durch Technologieoffenheit ersetzt. Mit dem Startchancenprogramm wollen wir in den kommenden Jahren 10 Milliarden Euro in Schulen investieren. Außerdem kommt mit dem Einstieg in eine Kapitaldeckung bei der Rente eine bedeutsame Modernisierung. Wir erreichen mehr, als zu erwarten war.
Stuttgarter Zeitung: Aber gerade für Durchschnittsverdiener werden die Steuerentlastungen durch höhere Verbraucherpreise aufgefressen. Ist das nicht ein berechtigter Grund für den Unmut sowohl Ihrer Parteifreunde als auch der Bürger im Land?
Christian Lindner: Ich verstehe die Stimmung. Der Staat kann aber zum Beispiel nicht dauerhaft mit Subventionen ausgleichen, wenn wir auf dem Weltmarkt höhere Preise zahlen. Krisenhilfen wie reduzierte Mehrwertsteuersätze, der Aufschub beim CO2-Preis oder die Preisbremsen beim Strom waren befristet. Ihr Auslaufen ist die Rückkehr zur Normalität. Auf der anderen Seite stehen die Senkung der Einkommensteuer, die hohe Kindergelderhöhung, die Abschaffung der Umlage für Erneuerbare Energie auf der Stromrechnung und anderes. Verglichen mit der Politik der Vorgängerregierung wurde die Mitte des Landes entlastet.
Stuttgarter Zeitung: Wie will die Ampel angesichts der schlechten Stimmung eine neue Aufbruchstimmung im Land erzeugen?
Christian Lindner: Die Stimmung ist auch eine Folge der Krisen, auf die wir keinen Einfluss haben. Es tobt ein Krieg in der Ukraine, es gibt schreckliche Bilder aus Nahost, den Rückgang der Nachfrage aus China, die Auswirkungen der Zinserhöhungen. Die hohen Zahlen bei der Migration wecken Ängste der Überforderung. Die Bundesregierung handelt. Wir haben die wirtschaftlichen Folgen gedämpft, die Vernachlässigung der Bundeswehr beendet, die Inflation durch restriktive Fiskalpolitik bekämpft und eine neue Realpolitik bei der Migration eingeleitet. Nach meiner Überzeugung sollte nun ein Dynamisierungspaket für die Wirtschaft folgen, damit wir beim Wachstum bessere Zahlen sehen.
Stuttgarter Zeitung: Wie soll das aussehen?
Christian Lindner: Ein Baustein ist das Wachstumschancengesetz, mit dem wir steuerliche Anreize für Investitionen und Forschung in der Wirtschaft setzen. Ich hoffe, die CDU kehrt hierzu bald an den Verhandlungstisch zurück, damit der Bundesrat zustimmen kann. Die Betriebe brauchen diese Signale. Daneben sollten wir konkret werden bei der Verschlankung der Bürokratie, der Beschleunigung der Verwaltungsverfahren und der Mobilisierung am Arbeitsmarkt. Mit der großen Substanz, die unsere Wirtschaft hat, ist schneller der Turnaround zu schaffen, als manche denken.
Stuttgarter Zeitung: Viele Menschen befürchten eine Deindustrialisierung. Ist das ein Schreckgespenst, das Lobbyisten an die Wand malen, um Subventionen einzustreichen, oder eine reale Gefahr?
Christian Lindner: Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärken. Das ist aber eben nicht eine Frage der Subventionen. Wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern, damit die Wirtschaft selbst auf Herausforderungen reagieren kann. Know-how und Kapital ist ja vorhanden. In der Vergangenheit war es die sehr starke D-Mark, die man die Produktivitätspeitsche für die Wirtschaft genannt hat. Jetzt sind es die durch den Ukraine-Krieg gestiegenen Energiepreise und die europäischen Klimaschutzauflagen, die dazu führen, dass Deutschland sich nach der Decke strecken muss. Ich bin überzeugt, dass damit ein Effizienz- und Technologieschub verbunden sein wird.
Stuttgarter Zeitung: Andere Länder nehmen gerade sehr viele Schulden auf, um Ihre Wirtschaften mit Subventionen wettbewerbsfähig zu halten, China etwa oder die USA. Die FDP hingegen beharrt auf die Schuldenbremse. Haben die Liberalen die Zeichen der Zeit nicht erkannt?
Christian Lindner: Ich bin skeptisch, ob die USA über die nächste Präsidentschaftswahl hinaus diese Politik überhaupt fortsetzen kann. Und zwar unabhängig davon, wer regiert. Die USA zahlen inzwischen immens hohe Zinsen und haben ein gewaltiges Haushaltsdefizit. Im Übrigen: Deutschland investiert öffentliche Mittel auf Rekordniveau. Wo wir besser werden müssen, das ist die Attraktivität für privates Kapital.
Stuttgarter Zeitung: Aus der SPD kommen Rufe, die Schuldenbremse wegen des Hochwassers auszusetzen. Was sagen Sie?
Christian Lindner: Die Not der Menschen in den Katastrophengebieten eignet sich nicht für Parteipolitik. Unsere Gesellschaft wird solidarisch sein. Wer aber ohne den Umfang des Schadens zu kennen, sofort nach neuen Schulden ruft, verkennt den Ernst der Lage. Hier sucht eine parteipolitisch gewünschte Lösung nach einem Problem – nicht umgekehrt.
Stuttgarter Zeitung: Müssen Sie wegen der Hilfe für die Ukraine die Schuldenbremse im Lauf des Jahres aussetzen?
Christian Lindner: Wir können alle absehbaren Hilfen für die Ukraine aus dem Bundeshaushalt finanzieren. Deutschland zahlt übrigens die Hälfte aller europäischen Unterstützungsleistungen. Es darf nicht dazu kommen, dass Deutschland mehr tut, damit andere weiter wenig tun können.
Stuttgarter Zeitung: Wer muss mehr tun?
Christian Lindner: Ohne unsere starken Partner in der EU wird es nicht gehen.
Stuttgarter Zeitung: Die Hürden für eine Aussetzung der Schuldenbremse sind also hoch?
Christian Lindner: Die umfassende Auslegung der Schuldenbremse durch das Verfassungsgericht hat die rechtlichen Anforderungen verschärft. Aber auch die hohen Zinszahlungen sollten alle belehren, die glauben, höhere Staatsverschuldung sei der leichteste Weg. Tatsächlich hat dieser Staat große finanzielle Möglichkeiten. Die Aufgabe heißt Schwerpunktsetzung. Wer etwas Neues will, muss sich von Altem lösen.
Stuttgarter Zeitung: Thema Haushalt. Die Ampel will die geplanten Kürzungen für Landwirte teilweise zurücknehmen. Ist das jetzt die bessere Lösung – oder knicken Sie nur vor dem Protest der Bauern ein?
Christian Lindner: Die nähere Prüfung hat bürokratische Hürden ergeben. Wir haben von Anfang an auch gesagt, dass wir Hinweise auf eine wirtschaftliche Überforderung der Betriebe ernst nehmen. Der Subventionsabbau wird nun zeitlich gestreckt. Ich bin froh, dass innerhalb der Koalition eine alternative Gegenfinanzierung vereinbart werden konnte.
Stuttgarter Zeitung: Als Ausgleich für den steigenden CO2-Preis sollte es eigentlich ein Klimageld geben. Die Einnahmen scheinen aber bereits für alle möglichen Subventionen verplant zu sein. Kommt das Klimageld: ja oder nein?
Christian Lindner: Moment, die Bundesregierung kehrt lediglich auf den Pfad des CO2-Preises zurück, den die CDU-geführte Vorgängerregierung beschlossen hat. Wir hatten befristet einen niedrigeren Preis wegen der ruinösen Gaspreise. Deshalb wundere ich mich über die Kritik der Union. Die CDU hatte kein Klimageld vorgesehen, sondern die Einnahmen für bestimmte Fördermaßnahmen eingeplant. Daran hat sich nichts verändert. Das Klimageld ist ein Instrument für die nahe Zukunft.
Stuttgarter Zeitung: Kommt das Klimageld in dieser Legislaturperiode?
Christian Lindner: Der Plan war, in dieser Legislaturperiode den Mechanismus einzuführen. Das wird bis 2025 abgeschlossen. Die Idee des Klimageldes ist, die Einnahmen aus dem CO2-Preis pro Kopf an die Bürger auszuzahlen. Dann kann aber dasselbe Geld nicht für Subventionen eingesetzt werden. Zu gegebener Zeit wird man sich also die Förderpolitik des Bundes ansehen müssen, wenn es ein Klimageld in signifikanter Höhe geben soll.
Stuttgarter Zeitung: Bereuen Sie es, mit der Ampel die Reform von Hartz IV hin zum Bürgergeld gemacht zu haben?
Christian Lindner: Nein, denn es gab Verbesserungen auch für mehr Leistungsgerechtigkeit. Ich nenne das Beispiel einer Auszubildenden aus einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft, die von 800 Euro Ausbildungsvergütung früher 600 Euro abgeben musste. Das war ungerecht.
Stuttgarter Zeitung: Ist das Bürgergeld also völlig zu Unrecht in der Kritik?
Christian Lindner: Nein, manche Kritik ist berechtigt, galt aber auch schon bei Hartz IV. Ich nenne zwei Probleme. Wir müssen erstens stärker für den Arbeitsmarkt mobilisieren. Wer sich verweigert und Jobangebote ablehnt, muss stärker sanktioniert werden. Das tun wir jetzt. Gleichzeitig werden wir die Ukrainerinnen und Ukrainer im Land schneller in Arbeit bringen.
Stuttgarter Zeitung: Und das zweite Problem?
Christian Lindner: Wir müssen sicherstellen, dass sich Arbeit immer mehr lohnt als Nicht-Arbeit. Das bezieht sich nicht nur auf das System Bürgergeld, sondern auf den ganzen Sozialbereich mit Kinderzuschlag und Wohngeld beispielsweise. Aufgrund der Inflationserwartung ist auch der Regelsatz des Bürgergelds zum 1. Januar sehr stark gestiegen. Deshalb muss die Berechnungsmethode überprüft werden, damit die Inflation nicht überschätzt wird.
Stuttgarter Zeitung: Müsste der Kanzler – wie so oft gefordert wird – in der Ampel mehr führen? Oder funktioniert das in einem lagerübergreifenden Dreierbündnis nicht?
Christian Lindner: Der Kanzler kann gar nicht anders führen, als er es mit seinem Verhandlungsstil tut. Diejenigen, die das von ihm fordern – beispielsweise aus dem linken Flügel der SPD – erwarten von ihm ja, dass er einfach FDP-Überzeugungen unterpflügt. So könnte man aber keine Koalition erhalten.
Stuttgarter Zeitung: Gilt nach der nächsten Bundestagswahl: Besser nicht regieren als noch mal mit den Grünen?
Christian Lindner: Die Karten werden neu gemischt. Was nach der Wahl kommt, entscheiden die Bürgerinnen und Bürger. Die FDP wird jedenfalls eigenständig in die Wahl gehen. Und wie bei den beiden letzten Bundestagswahlen kämpfe ich dafür, dass wir wieder ein zweistelliges Ergebnis erreichen.
Das Gespräch führten Tobias Peter und Igor Steinle.