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06.02.2024

Öffentliche Finanzen

Bundesfinanzminister Christian Lindner im Interview mit dem Handelsblatt

„Wir müssen umschichten - von alten Strukturen und Ausgaben hin zu Zukunftsaufgaben wie Bildung, Digitalisierung und Wachstumspolitik“, hebt Bundesfinanzminister Christian Lindner im Interview mit dem Handelsblatt hervor.

  • Datum 06.02.2024

Handelsblatt: Herr Lindner, Herr Habeck will die Unternehmensteuern senken. Das müsste für Sie ein Grund zum Jubel sein, oder? 

Christian Lindner: Ganz so hat er es nicht gesagt. Er hat im Bundestag vorgeschlagen, potenziell hunderte Milliarden Euro Schulden aufzunehmen, damit danach die Politik den Unternehmen Subventionen zahlen kann. Richtig ist aber, dass Robert Habeck und ich dieselbe Analyse haben. Deutschland fällt zurück, weil das Wachstum ausbleibt. Der Standort ist nicht mehr wettbewerbsfähig. Eine Schuldenpolitik ist aber ökonomisch nicht sinnvoll.

Handelsblatt: Robert Habeck findet schon.

Christian Lindner: Wir zahlen hohe Zinsen für Staatsverschuldung. Wir würden unseren Haushalt rasch strangulieren. Tatsächlich halte ich es auch nicht für erfolgversprechend, wenn die Politik entscheidet, welche Branche, welche Technologie und welches Unternehmen eine Zukunft haben soll, indem dort dann Subventionen gewährt werden. Wir müssen die Standortbedingungen für alle verbessern. Nur im marktwirtschaftlichen Wettbewerb bilden sich dauerhaft starke Strukturen.

Handelsblatt: Robert Habeck sagt, er wolle ein Gesprächsangebot machen. Wenn Sie aber offenbar so weit auseinanderliegen, ist die Diskussion nur wieder viel Lärm um Nichts?

Christian Lindner: Das Gesprächsangebot begrüße ich absolut. Diese Standortdebatte ist überfällig. Tatsächlich darf dieser Vorstoß nicht folgenlos bleiben. Man stelle sich vor: Der Wirtschafts- und der Finanzminister gelangen beide zu der Erkenntnis, Deutschland ist nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähig. Es ist unvorstellbar, dass dies nicht zu politischen Veränderungen führt.

Handelsblatt: Was muss denn passieren?

Christian Lindner: Wir brauchen ein Dynamisierungspaket. Wir müssen also einerseits alles unternehmen, um Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Andererseits sollten wir alles unterlassen, was Dynamik kostet.

Handelsblatt: Nur wird diese Wende Geld kosten. Geld, das nicht da ist, wenn Sie die Schuldenbremse einhalten wollen.

Christian Lindner: Umgekehrt fehlen uns die Mittel für soziale und ökologische Vorhaben, wenn das wirtschaftliche Fundament nicht stimmt. Tatsächlich gibt es Wirtschaftsförderung ohne Geld. Das Konzept hat einen Namen: Soziale Marktwirtschaft. Bei der Arbeitsmarktflexibilität können wir besser werden. Wir können Bürokratieabbau wagen, der damit beginnt, nicht zusätzlich noch diese EU-Lieferkettenrichtlinie zu beschließen. Wir müssen den Klimaschutz marktwirtschaftlicher gestalten, um CO2-Vermeidungskosten zu reduzieren. Wir müssen in der Energiepolitik die Möglichkeiten nutzen, das Preisniveau bezahlbar zu halten. Und natürlich müssen wir auch das Steuersystem wettbewerbsfähig machen.

Handelsblatt: Steuersenkungen aber würden Geld kosten.

Christian Lindner: Ja, aber Steuerentlastung ist eine Investition, die sich mittelfristig auszahlt. Gerade verhandeln wir mit den Ländern über das Wachstumschancengesetz, das Impulse für private Investitionen und Forschung enthält. Es hat sich dabei gezeigt, dass die Länder größere Entlastungsvolumina nicht mittragen. Deshalb wäre allein ein Auslaufen des Solidaritätszuschlags eine realistische Reaktion auf die steuerliche Standortanalyse, die Robert Habeck und ich teilen. Hier werden ja Länder und Gemeinden nicht mit in Anspruch genommen.

Handelsblatt: Und wie wollen Sie das gegenfinanzieren?

Christian Lindner: Das wäre in der Koalition zu besprechen. Klar ist aber, dass jede Steuerentlastung die haushaltspolitischen Zwänge vergrößert. Es steht uns ohnehin ein Kraftakt bevor, von dem ich glaube, dass er ohne sinnvolle Alternative ist. Wenn wir eigentlich eine Reformagenda brauchen, aber wegen mangelndem Mut oder fehlender Entschlossenheit nichts tun, würde Deutschland ärmer. Das könnte eine Regierung nicht verantworten.

Handelsblatt: Aber auch nur die Gegenfinanzierung eines Soli-Abbaus würde doch Kürzungen im 20-fachen Ausmaß der Einschnitte für Landwirte bedeuten. Hat Habeck nicht einen Punkt, wenn er sagt, das hält das Land nicht aus?

Christian Lindner: Wir sollten die Menschen nicht überfordern, aber auch nicht unterschätzen. Viele spüren, dass unser Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist. Ich bin überzeugt, dass wir Möglichkeiten haben, die wir teilweise ja schon auf den Weg gebracht haben. Die neue Realpolitik beim Thema Migration beispielsweise wird die Kosten irregulärer Einwanderung reduzieren. Und eine fordernde Arbeitsmarktpolitik reduziert nicht nur Kosten, sondern schafft auch Lebenschancen. Nebenbei war es eine Gerechtigkeitsfrage klarzustellen, dass es kein Wahlrecht gibt, ob man arbeitet oder nicht arbeitet. Wir müssen für eine neue Wachstumsagenda hart arbeiten.

Handelsblatt: Und dabei wissen Sie den Kanzler an ihrer Seite? In einem öffentlich gewordenen Arbeitsprogramm des Kanzleramts für den Rest der Wahlperiode war von Wirtschaftspolitik keine Rede.

Christian Lindner: Der Kanzler hat einen realistischen Blick auf die Lage.

Handelsblatt: Was passiert jetzt? Setzen Sie sich jetzt mit Habeck an einen Tisch und schreiben eine neue Agenda 2010?

Christian Lindner: Wir haben bereits Arbeitsprozesse. Beispielsweise legt die Bundesregierung in Kürze ihren Jahreswirtschaftsbericht vor. Durch die Debatte ist dieser Vorgang politisch aufgewertet. Mein Ministerium arbeitet zudem an einem Pendant zur französischen Tibi-Initiative, um privates Kapital zu mobilisieren. Mitte des Jahres legt eine Expertengruppe auch Vorschläge für eine Unternehmenssteuerreform vor.

Handelsblatt: Robert Habeck will mit einem schuldenfinanzierten Sondervermögen die strukturellen Probleme Deutschlands lösen. SPD und Grüne, Teile der Wirtschaft jetzt auch noch die Wirtschaftsweisen fordern eine Lockerung der Schuldenbremse, um notwendige Investitionen stemmen zu können. Fühlen Sie sich langsam wie der einsame Rufer in der Wüste?

Christian Lindner: Umfragen unter Wirtschaftswissenschaftlern zeigen viel Unterstützung für die Selbstbindung des Staats an Fiskalregeln. Auch die CDU/CSU-Fraktion ist nicht bereit, eine Änderung bei der Schuldenbremse mitzugehen, wenngleich CDU-Ministerpräsidenten drängen. Ich warne davor, die Büchse der Pandora zu öffnen. Es bleibt nach einer Lockerung nicht bei kosmetischen Änderungen. Würden wir eine Fiskalpolitik machen wie die USA, könnte sich der Zinstitel im Bundeshaushalt in nicht ferner Zukunft verdoppeln.

Handelsblatt: Wenn Deutschland die Schuldenbremse strikt einhält, sinkt der Schuldenstand auf nahe 30 Prozent, was aus Sicht der Wirtschaftsweisen auch keinerlei Sinn ergibt.

Christian Lindner: Davon sind wir weit entfernt. Seit ich im Amt bin, ist die Schuldenquote zwar von 69 Prozent auf 64 Prozent gesunken. Vor der Pandemie betrug sie unter 60 Prozent. Der wahre Schuldenstand unseres Landes ist aber verdeckt durch die Anwartschaften in den Sozialversicherungen. Wir sind zugleich eine alternde Gesellschaft mit wenig Wachstum und Produktivitätsfortschritt. Das hat negative Auswirkungen auf die Schuldentragfähigkeit.

Handelsblatt: Trotzdem bleibt wie bei einer am Wochenende kursierenden Streichliste der Bahn haften: die Schuldenbremse hält die Modernisierung des Landes auf.

Christian Lindner: Diese Debatte hat sich vollkommen von den Realitäten entfernt. Wir investieren auf Rekordniveau. Auch die Bahn hat noch niemals so viele Mittel zugesagt bekommen wie jetzt. Man kann zudem öffentliche Investitionen bei begrenzten Kapazitäten der Volkswirtschaft nicht beliebig weit ausdehnen, ohne private Vorhaben zu verdrängen und die Preise zu treiben.

Handelsblatt: Das Ausland blickt inzwischen mit großer Sorge auf Deutschland. Braucht es nicht einen großen wirtschaftspolitischen Wumms, allein um eine Symbolwirkung zu erzeugen?

Christian Lindner: Es geht nicht mehr um Symbole, sondern um Substanz. Man wartet förmlich darauf, dass Deutschland seine Tugenden wie Leistungsdenken, Unternehmertum und Anpassungsfähigkeit mobilisiert. Wenn ich mit internationalen Investoren rede, spielt aktuell allerdings ein anderes Thema die Hauptrolle.

Handelsblatt: Was dann?

Christian Lindner: Die AfD. Investoren fragen, ob Sie davon ausgehen können, dass die AfD nicht in Regierungsverantwortung kommt. Bei der Bewerbung um die Europäische Geldwäschebehörde in Frankfurt wurde ich nach der AfD gefragt. Wenn es um Ansiedlung von Unternehmen in Ostdeutschland geht, dann gibt es die Sorge, dass man Talente nicht dorthin rekrutieren kann, wo die AfD stark ist. Die AfD ist ein Standortrisiko geworden.

Handelsblatt: Haben die Massen-Demonstrationen gegen die AfD Konsequenzen für die Ampel-Politik? 

Christian Lindner: Meine Grundüberzeugung hat sich nicht geändert. Wir müssen die Probleme klein machen, die die AfD groß gemacht haben. Gerade in der Migrations- und Arbeitsmarktpolitik sind die Erwartungen groß. Wir müssen ein Signal setzen für das Einfordern von Gegenleistungen für Solidarität. Und wir schauen nicht tatenlos zu, wenn Einwanderung in unseren Sozialstaat stattfindet, ohne dass damit der Gedanke an Erwerbstätigkeit verbunden ist.

Handelsblatt: Waren Sie schon auf der Demo gegen Rechts?

Christian Lindner: Ja, in Aachen.

Handelsblatt: Auf den Demos werden Friedrich Merz und Sie teils von Rednern in einen Topf mit der AfD geworfen. Wie sehr trifft Sie das?

Christian Lindner: Wer glaubt, die FDP sei zu rechts, der ist selbst zu links.

Handelsblatt: Nicht nur die Grünen, auch die SPD scheint Sie im Superwahljahr als neues Feindbild entdeckt zu haben, wie nicht nur die Debatte um die Kindergelderhöhung zeigt. Hilft der Streit am Ende nicht wieder nur der AfD?

Christian Lindner: Wir haben Verabredungen aus dem Jahr 2022, die ich schlicht umsetze. Das Kindergeld wäre in diesem Jahr erst auf 244 statt auf 250 Euro gestiegen. Wir müssen aus verfassungsrechtlichen Gründen den Kinderfreibetrag nachziehen. Das ist nur fair, denn eine Fachkraft muss schnell 170 Euro brutto verdienen, um einem Kind für 100 Euro etwas zu kaufen. Wer weniger verdient und damit geringer besteuert ist, muss nur 120 Euro brutto einsetzen. Tatsächlich wundere ich mich über manche Initiative. Letzte Woche hat im Bundestag der SPD-Fraktionsvorsitzende der CDU entgegen den Festlegungen im Koalitionsvertrag das Angebot gemacht, über die Schuldenbremse zu verhandeln. Ich mag mir nicht ausdenken, in welche Lage die Koalition gekommen wäre, wenn Friedrich Merz dieses Angebot angenommen hätte.

Handelsblatt: Herr Habeck denkt ähnlich wie Herr Mützenich und wirft Ihnen vor, nur an den nächsten Parteitag zu denken.

Christian Lindner: Ich fühle mich nicht angesprochen.

Handelsblatt: Er sagte, er hätte „kein Bock“ auf Politik, wenn er langfristig denkt und andere nur an den kurzfristigen Erfolg. Damit waren ziemlich klar Sie gemeint.

Christian Lindner: Man kann mir nun wirklich nicht vorwerfen, ich würde den bequemsten Weg gehen.

Handelsblatt: Planen müssen Sie gerade den neuen Haushalt. Im neuen Budget fehlen 40 Milliarden Euro, korrekt?

Christian Lindner: Nein, das konkretisiert sich erst nach der Steuerschätzung. Klar ist, es fehlt ein Betrag im unteren zweistelligen Milliardenbereich.

Handelsblatt: Also werden die neuen Haushaltsverhandlungen ein noch Größeres Hauen und Stechen als im Vorjahr?

Christian Lindner: Die Aufgabe ist größer, das stimmt. Wir müssen umschichten - von alten Strukturen und Ausgaben hin zu Zukunftsaufgaben wie Bildung, Digitalisierung und Wachstumspolitik. Und klar: Wenn es keine Mehrheit für eine Grundgesetzänderung zur Reform der Schuldenbremse, wenn es keine Mehrheiten für Steuererhöhungen gibt, die SPD und Grünen zwar fordern, die aber selbst laut Robert Habeck in der augenblicklichen Lage nicht angezeigt sind, werden es intensive Gespräche werden.

Handelsblatt: Wird wenigstens Verteidigungsminister Boris Pistorius mehr Geld bekommen?

Christian Lindner: Es ist sicher, dass er mit der Nutzung des Sonderprogramms für die Bundeswehr das NATO-Ziel von 2 Prozent Verteidigungsausgaben halten wird. 

Handelsblatt: Bei der Kraftwerksstrategie gibt es inzwischen ein Kompromiss. Warum hat es so lange gedauert?

Christian Lindner: Die Energiepolitik ist physikalisch und ökonomisch komplex. Wir haben einen wegweisenden Beschluss getroffen. Deutschland wird einen marktwirtschaftlichen Kapazitätsmechanismus erhalten. Im Vorgriff darauf werden wir in den kommenden Jahren nur eine begrenzte Kapazität an geförderten Gaskraftwerken ausschreiben. Baldmöglichst greift der Markt. Finanziert wird das Ganze nicht über die Stromrechnung der Betriebe und Bürgerinnen und Bürger, sondern aus dem Klima- und Transformationsfonds in einer leistbaren Größenordnung.

Handelsblatt: Von welcher Größenordnung reden wir?

Christian Lindner: Es geht in den nächsten 20 Jahren um insgesamt gut 15 Milliarden Euro. Das ist weit weg von früheren Debatten und daher realistisch.