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22.11.2024

Öffentliche Finanzen

Interview mit Jörg Kukies im Handelsblatt

„Die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit unseres Standorts muss sich verbessern, insbesondere was das Fachkräftepotenzial angeht, die Entbürokratisierung, steuerliche Investitions- und Forschungsanreize sowie Energiepreise“, so Bundesfinanzminister Jörg Kukies im Interview.

  • Datum 22.11.2024

Handelsblatt: Herr Kukies, tut Ihnen Olaf Scholz leid?

Jörg Kukies: Warum sollte er mir leidtun?

Handelsblatt: Während Sie gerade mit ihm beim G20-Gipfel in Brasilien waren, wurde er zu Haus von seiner eigenen Partei demontiert. Ein SPD-Politiker nach dem anderen spricht sich gegen seine Kanzlerkandidatur aus.

Jörg Kukies: Olaf Scholz ist unser Bundeskanzler und ein guter Wahlkämpfer. Die SPD wird eine gute Lösung für die Aufstellung bei der nächsten Bundestagswahl finden.

Handelsblatt: Ist Scholz‘ Autoritätsverlust im Ausland spürbar?

Jörg Kukies: Beim G20-Gipfel in Brasilien hatten wir sehr viele bilaterale Treffen, alle wollten mit dem Kanzler sprechen. Die Unterstellung in Ihrer Frage trifft nicht zu.

Handelsblatt: Eigentlich wollte die Ampelkoalition einen Nachtragshaushalt beschließen, durch den sich der Verschuldungsspielraum aufgrund der schwachen Konjunktur um 11,3 Milliarden Euro erhöht hätte. Daraus wird nun nichts. Droht jetzt eine Haushaltssperre?

Jörg Kukies: Die Frage, ob es einen Nachtragshaushalt gibt, entscheidet der Bundestag. Wir bereiten uns auf beide Szenarien vor. Nach aktuellem Stand gehe ich davon aus, dass wir ohne Haushaltssperre auskommen. Wir schauen jeden Tag sehr genau, was an Steuereinnahmen eingeht und was an Ausgaben rausgeht. Im Moment sieht es so aus, dass wir das Jahr gut abschließen können.

Handelsblatt: Schwieriger dürfte das kommende Jahr werden. Da der Bundestag wahrscheinlich keinen Etat mehr für 2025 beschließen wird, müssen Sie die so genannte vorläufige Haushaltsführung nutzen. Was kommt da auf die Bürger und die Wirtschaft zu?

Jörg Kukies: Die vorläufige Haushaltsführung ist ein erprobtes Instrument und basiert auf einer klaren rechtlichen Grundlage. Das Grundgesetz gibt den Rahmen vor. Rechtliche Ansprüche werden erfüllt, gesetzliche Zahlungsbeschlüsse werden umgesetzt und Projekte, die auf sicherer Rechtsgrundlage begonnen wurden, werden fortgesetzt. Neue Maßnahmen sind zwar nicht unmöglich, sie müssen aber sehr gut begründet sein um den grundgesetzlichen Ansprüchen zu genügen.

Handelsblatt: Normalerweise dauert dieser Zustand ein, zwei Monate. Nun könnte sich die vorläufige Haushaltsführung bis in den Sommer ziehen.

Jörg Kukies: Nach der Bundestagswahl 2017 dauerte die Regierungsbildung und damit die Zeit der vorläufigen Haushaltsführung auch etwas länger, weil die Regierungsbildung länger als üblich gedauert hat. Der Haushalt wurde dann im März beschlossen. Aber auch wenn es jetzt später wird, ist das kein Drama.

Handelsblatt: Die Ampel ist letztlich auch an der Schuldenbremse zerbrochen. Der Kanzler wollte nochmal die Ausnahmeregel nutzen. Und die SPD wird mit dem Ziel einer Reform in den Wahlkampf ziehen. Wie sagt der Bundesfinanzminister: Muss die Schuldenbremse reformiert werden?

Jörg Kukies: Die Schuldenbremse hat positive Auswirkungen gehabt. Deutschland konnte dank seiner soliden Staatsfinanzen in der Coronakrise mit sehr großer Kraft gegensteuern. Die Schuldenbremse sorgt also in guten Jahren dafür, dass Haushaltsdisziplin gewahrt wird, und ermöglicht in Krisenzeiten ausreichend finanziellen Spielraum, um gegenhalten zu können. Das ist vom Grundprinzip her richtig. Dennoch halte ich eine moderate Reform für sinnvoll.

Handelsblatt: Was bedeutet moderate Reform genau?

Jörg Kukies: Es gibt viele Vorschläge, vom Sachverständigenrat, der Bundebank, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Das sollte man sich genau anschauen und prüfen, was sinnvoll ist um die nötigen langfristigen Investitionen finanzieren zu können.

Handelsblatt: Es gibt den Vorschlag, Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse auszunehmen. Wäre das aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Jörg Kukies: Einzelne Maßnahmen will ich jetzt nicht bewerten.

Handelsblatt: Wenn Sie von moderaten Änderungen sprechen, soll das heißen, dass durch eine Reform nicht die gigantischen Spielräume entstehen werden, die sich manche erhoffen?

Jörg Kukies: Man muss doch schauen, was realistisch ist und wofür es auch einen politischen Konsens geben könnte. Dies wäre aus meiner Sicht eine moderate, zielgerichtete Reform.

Handelsblatt: Der Kanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt, er wolle kein „entweder-oder“. Der Staat soll die Ukraine unterstützen, die Rüstungsausgaben erhöhen, trotzdem kräftig in die Modernisierung des Landes investieren und auf keinen Fall bei den Sozialausgaben oder der Rente kürzen. Ist das verantwortungsvoll, den Bürgern zu suggerieren, es sei alles finanzierbar und man müsse keine Prioritäten setzen?

Jörg Kukies: In dem Haushalt für das Jahr 2024 haben wir klare Prioritäten gesetzt. Das war nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts notwendig. Und auch im Haushaltsentwurf für 2025 wurde abgewogen, was wir finanzieren können und was nicht. Das Ergebnis waren klare Prioritäten zugunsten von Zukunftsinvestitionen.

Handelsblatt: Wegen der Schuldenbremse?

Jörg Kukies: Die Mittel im Haushalt sind begrenzt. Selbst wenn wir keine Schuldenbremse hätten, wären wir immer noch den europäischen Schuldenregeln unterworfen. Auch die erfordern eine Priorisierung, weil sie den Anstieg der staatlichen Ausgaben begrenzen und eine solide Haushaltspolitik verlangen.

Handelsblatt: Ist es dann nicht populistisch, wenn der Kanzler mit der Parole in den Wahlkampf zieht, dass man Rüstungsausgaben nicht gegen Sozialausgaben ausspielen dürfe, dass wir uns eigentlich alles leisten können?

Jörg Kukies: Der Bundeskanzler hat nicht gesagt, wir könnten uns alles leisten.

Handelsblatt: Aber er suggeriert es jetzt den Wählern.

Jörg Kukies: Der Kanzler hat die Verhandlungen um die Aufstellung der Haushalte 2024 und 2025 geführt und geleitet. Und da hat er klare Prioritäten für Zukunftsinvestitionen durchgesetzt und dafür an zahlreichen Stellen Einsparungen eingefordert.

Handelsblatt: Die kommenden Jahre werden aber noch schwieriger. Aus der NATO werden Forderungen laut, dass die Europäer künftig nicht zwei, sondern eher drei oder vier Prozent der Wirtschaftsleistung in die Verteidigung leiten sollen. Woher soll das Geld kommen?

Jörg Kukies: Das Sondervermögen, das der Bundestag beschlossen hat, ist auf fünf Jahre angelegt. Wenn es kein weiteres Sondervermögen gibt, muss das Geld aus dem Haushalt kommen.

Handelsblatt: Was bedeutet das konkret?

Jörg Kukies: Diese Entscheidung muss der nächste Bundestag treffen. Dem will ich nicht vorgreifen.

Handelsblatt: Moment, Ihre Aufgabe als Finanzminister ist es ja schon, sich Gedanken über die Zukunft zu machen und nicht nur zu sagen: „Schau’n wir mal.“

Jörg Kukies: Dass es Handlungsbedarf gibt, stellt niemand in Abrede. Bei einem Bruttoinlandsprodukt von 4000 Milliarden Euro bedeuten zwei Prozent knapp 80 Milliarden Euro. Derzeit umfasst der Verteidigungshaushalt aber nur 50 Milliarden. Da ist eine große Lücke. Und selbstverständlich arbeiten wir schon an Ideen, wie wir das abdecken könnten.

Handelsblatt: Jetzt sind wir gespannt.

Jörg Kukies: Die oberste Maxime ist klar: die militärische Lage in der Ukraine, die geopolitische Situation Europas macht die Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels unerlässlich, und zwar dauerhaft.

Handelsblatt: Die G7-Staaten stellen der Ukraine einen Kredit über 50 Milliarden Dollar zur Verfügung, der mit Erträgen aus russischem Zentralbankvermögen finanziert wird. Wie lange wird das Geld ausreichen?

Jörg Kukies: Das hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Nicht zuletzt von den Zerstörungen, die Russland durch den Beschuss der Zivil- und Energieinfrastruktur anrichtet. Wichtig ist, dass wir die Widerstandskraft der Ukraine erhöhen. Und zwar militärisch und finanzpolitisch.

Handelsblatt: Es gibt die Befürchtung, dass das Geld nicht mal ein Jahr reichen wird.

Jörg Kukies: Wir haben nicht nur einen, wir haben verschiedene Töpfe, aus denen wir die Ukraine unterstützen. Die Europäische Union hat zusätzlich zu den Mitteln der G7 weitere 50 Milliarden Euro für mehrere Jahre zugesagt. Es gibt ein IWF-Programm. Wir werden die Ukraine solange unterstützen wie nötig, das haben wir in der EU und den G7 immer wieder beschlossen.

Handelsblatt: Sie hatten schon die EU-Defizitvorgaben angesprochen. Ihr Vorgänger Christian Lindner hat es wegen des Koalitionsbruchs nicht mehr geschafft, den erforderlichen Ausgabenplan an die Kommission zu schicken. Holen Sie das jetzt nach?

Jörg Kukies: Wir halten die europäischen Vorgaben ein. Und es ist üblich, dass die Kommission dem betreffenden Mitgliedsstaat etwas mehr Zeit einräumt, wenn dort wegen Neuwahlen noch kein Haushalt vorliegt. Darüber sind wir in Gesprächen mit der EU-Kommission.

Handelsblatt: In der Corona-Pandemie hat die EU erstmals Gemeinschaftskredite aufgenommen. Braucht Europa heute einen zweiten Wiederaufbaufonds? Einen für das Militär?

Jörg Kukies: Wir sprechen über gemeinsame europäische Militär- und Verteidigungsinitiativen in den dafür vorgesehenen Foren. Die Bundesregierung hat sich für eine Ausweitung der Aktivitäten der Europäischen Investitionsbank bei der Finanzierung der europäischen Verteidigungsindustrie unter Wahrung ihrer Refinanzierungsfähigkeit ausgesprochen. Dies wird derzeit umgesetzt. Von daher gibt es aus meiner Sicht viele gute Ideen, die aus meiner Sicht jetzt gut und schnell umgesetzt werden müssen.

Handelsblatt: Deutschland steckt im zweiten Jahr der Stagnation und auch für nächstes Jahr sieht es nicht gut aus. Wie bedrohlich ist die Krise der deutschen Wirtschaft?

Jörg Kukies: Das darf man nicht kleinreden. Wir haben auf der einen Seite die Nachwirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Die steigenden Energiekosten waren ein großer Schock für die deutsche Volkswirtschaft. Die Umstellung der Gasversorgung weg von russischem Gas bedeutete einen großen Investitionsbedarf, der von der Volkswirtschaft getragen werden muss. Hinzu kommt die Abschwächung des globalen Handels und zunehmend protektionistische Tendenzen, die ein Exportland wie Deutschland stärker treffen als andere.

Handelsblatt: Die Regierung trifft in dieser Logik keine Schuld. Machen Sie es sich damit nicht zu einfach?

Jörg Kukies: Wir haben seit langer Zeit strukturelle Wachstumsprobleme in unserer Volkswirtschaft. Der Sachverständigenrat hat uns das gerade wieder vor Augen geführt. Deutschland hatte Anfang des Jahrtausends ein Wachstumspotenzial von ungefähr 1,5 Prozent. Der Sachverständigenrat prognostiziert für die absehbare Zukunft nur noch 0,5 Prozent. Das heißt, wir sind auf ein Drittel gefallen. Diese Schwäche unseres Potentialwachstums müssen wir angehen.

Handelsblatt: Reformen könnten das ändern.

Jörg Kukies: Richtig. Deswegen habe ich mich so für die Wachstumsinitiative der Bundesregierung eingesetzt. Fachleute haben gesagt, wenn diese vollständig umgesetzt wird, könnten wir das Potenzialwachstum um 0,4 bis 0,5 Prozentpunkte steigern. Es ist bedauerlich, dass es durch das Aus der Ampelkoalition dazu in vielen Bereichen nicht kommen wird. Aber wir wollen einige der wichtigsten Elemente noch vor den Wahlen umsetzen, insbesondere die geplanten steuerlichen Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft.

Handelsblatt: Diese Bundesregierung hätte das schon früher angehen können. Aber von Scholz hieß es noch zu Jahresbeginn: Die Klage ist das Lied des Kaufmanns, man solle aufhören das Land schlecht zu reden.

Jörg Kukies: Der Bundeskanzler hat in vielen Reden auf die Notwendigkeit hingewiesen, unsere Wachstumsschwäche zu beheben und hat konkrete Schritte intensiv mit Industrie und Gewerkschaften beraten.

Handelsblatt: Viele industriepolitische Vorhaben der Regierung sind gescheitert. Intel hat den Bau einer Chipfabrik in Magdeburg auf unbestimmte Zeit verschoben. Auch bei anderen Projekten wie Wolfspeed im Saarland gibt es Verzögerungen.

Jörg Kukies: Wenn man in Geschäftsbereiche geht, die in ihrer Umsatzentwicklung sehr stark schwanken, ist es fast unvermeidlich, dass einige geplante Projekte sich verzögern oder auch mal nicht kommen. Wir setzen in Deutschland ungefähr 30 strategisch wichtige Projekte in der Mikroelektronik um, von denen viele jetzt in der Aufbauphase sind. TSMC, der größte Halbleiterhersteller der Welt, investiert in Dresden. Infineon tätigt eine Fünf-Milliarden-Investition. Global Foundries investiert an seinem Standort in Dresden. Unsere Strategie ist es, Deutschland zu einem Zentrum der Halbleiterproduktion zu machen. Wir lassen uns da nicht entmutigen.

Handelsblatt: Ein Investor sagte uns kürzlich: In Deutschland zu investieren, sei so, wie auf einem Friedhof jagen gehen.

Jörg Kukies: Solche Stimmen gibt es immer. Die Daten zeigen etwas anderes: Viele globale Investoren kommen nach Deutschland. Schauen Sie, was der Pharmakonzern Eli Lilly im rheinland-pfälzischen Alzey macht oder Daiichi in Bayern sowie Sanofi in Frankfurt-Höchst. Amazon und Microsoft haben Milliardeninvestitionen in KI-Rechenzentren in Deutschland angekündigt – das sind nur einige Beispiele. Was wir allerdings anerkennen müssen, ist, dass es Wachstumsdefizite und Reformbedarf gibt. Die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit unseres Standorts muss sich verbessern, insbesondere was das Fachkräftepotenzial angeht, die Entbürokratisierung, steuerliche Investitions- und Forschungsanreize sowie Energiepreise.

Handelsblatt: Der nächste Schock steht der deutschen Wirtschaft schon bevor: Der Amtsantritt des Handelskriegers Donald Trump in Washington.

Jörg Kukies: Die Bundesregierung hat sich stets für freie Handelsströme eingesetzt und das wird sie auch weiterhin tun. Wir wollen das Abkommen der EU mit den lateinamerikanischen Mercosur-Staaten schnell abschließen, wir setzen uns für ein Freihandelsabkommen mit Indien ein, mit Indonesien und vielen anderen. Wir wollen nicht mehr, sondern weniger Zölle. Mit der neuen amerikanischen Regierung wird es da sicherlich Diskussionen geben. Aber die ist noch nicht im Amt. Deshalb wäre es verwegen, jetzt schon Prognosen aufzustellen, wie die Gespräche verlaufen.

Handelsblatt: Die entscheidende Frage wird sein, ob die EU geschlossen bleibt.

Jörg Kukies: Es gibt die klare Bereitschaft aller 27 EU-Staaten, gemeinsam zu handeln. Dass das nicht einfach ist, liegt auf der Hand. Aber es gibt das Bewusstsein, dass Europa geschlossen auftreten muss.

Handelsblatt: Ist es gegenüber Trump vernünftig, mit Gegenzöllen zu drohen? Oder anders gefragt: Was ist die bessere Strategie: Abschreckung oder Appeasement?

Jörg Kukies: Ich würde sagen: abwarten, bis die neue Administration steht und dann möglichst konstruktive Gespräche führen.

Handelsblatt: Was werden Sie nach der Bundestagswahl machen?

Jörg Kukies: Das entscheiden die Wählerinnen und Wähler.

Handelsblatt: Das heißt, Sie würden schon gerne Finanzminister bleiben?

Jörg Kukies: Ich habe ein Mandat für diese Legislaturperiode. Alles andere entscheiden die Wählerinnen und Wähler am 23. Februar.

Handelsblatt: Herr Kukies, vielen Dank für das Gespräch.