- Datum 16.12.2024
WELT: Herr Kukies, was macht ein Übergangsfinanzminister den ganzen Tag, außer Interviews zu geben?
Jörg Kukies: Ich war gerade in Brüssel, habe dort mit vielen Kommissaren, Finanzministern und Parlamentariern gesprochen. Uns alle treibt die gleiche Frage um: Wie steigern wir die Wettbewerbsfähigkeit in Europa?
WELT: Haben Sie etwas Neues erfahren?
Jörg Kukies: Alle arbeiten intensiv daran, die Berichtspflichten für Unternehmen zu reduzieren. Es ist für viele Unternehmen in unserem Land ein gigantischer Aufwand, die sich oft widersprechenden Vorschriften zu erfüllen. Gerade unter der Nachhaltigkeitsberichterstattung ächzt die deutsche Wirtschaft.
WELT: Wie sieht Ihr Ansatz aus?
Jörg Kukies: Aus meiner Sicht sollten wir die nächste Stufe der Nachhaltigkeitsberichterstattung, die sogenannte Corporate Sustainability Reporting Directive, um zwei Jahre aussetzen. Nach der kleinen Gruppe der börsengelisteten Unternehmen würde die nächste Stufe mit einem Schlag 13.000 weitere Unternehmen in Deutschland betreffen. Jedes Unternehmen muss über 1.000 Datenpunkte liefern. Da müssen wir dringend ran.
WELT: Was passiert nach den zwei Jahren?
Jörg Kukies: Die zwei Jahre müssen wir nutzen, um aus allen Aspekten der Nachhaltigkeitsberichterstattung, die wir haben, von dem Nachweis der weltweiten Lieferketten bis hin zur Taxonomie, ein in sich stimmiges Konzept zu entwickeln. Wir müssen die verschiedenen EU-Nachhaltigkeitsvorschriften in einer schlanken Vorschrift zusammenfassen. Jedes Unternehmen soll nur noch die Daten liefern, auf die es wirklich ankommt – und das vor allem nur noch einmal.
WELT: Wie viele Datenpunkte wären das dann?
Jörg Kukies: Eine niedrige dreistellige Zahl muss reichen. Wir haben in der Europäischen Union einen übertriebenen Wust an Berichtspflichten für Unternehmen.
WELT: Bürokratieabbau klingt jetzt nicht nach der Kernaufgabe eines Finanzministers.
Jörg Kukies: Das ist Teil des Problems. Das Lieferkettengesetz liegt in der Regel bei den Arbeitsministern, die Justizminister sind für die Nachhaltigkeitsberichte zuständig, die Finanzminister für die Taxonomie. Da kommen Bürokratielasten für die europäische Wirtschaft von verschiedenen Seiten. Das müssen wir dringend ändern.
WELT: Wie konnte Brüssel es so weit treiben?
Jörg Kukies: Ich halte es für einen Grundfehler, immer nur nach Brüssel zu zeigen. Jede dieser Regeln haben die Kommission, die Mitgliedsstaaten und das Europaparlament gemeinsam beschlossen. Und wir haben gelegentlich nationale Sonderregeln draufgepackt – das muss aufhören, und genau das haben wir in der Wachstumsinitiative als Bundesregierung beschlossen.
WELT: Kommen wir zu Ihrer Kernaufgabe. Wie steht es aktuell um die Finanzen des Bundes?
Jörg Kukies: Ich bin mir sicher, dass wir dieses Jahr gut durchkommen und keine Ausgaben sperren müssen.
WELT: Man hat den Eindruck, mit dem Wechsel der Farbe des Ministeriums – von FDP-Gelb zu SPD-Rot – hat sich die Haushaltslage schlagartig entspannt. Wurde die Situation vorher zu negativ dargestellt?
Jörg Kukies: Das Team in der Haushaltsabteilung des Finanzministeriums ist das gleiche geblieben. Wenn Herr Lindner noch da wäre, hätte auch er für den Rest des Jahres keine Haushaltssperre verhängen müssen.
WELT: Noch im Sommer galt ein Nachtragshaushalt für dieses Jahr als unvermeidbar, jetzt geht es plötzlich auch ohne.
Jörg Kukies: Im Sommer sah die Situation in der Tat noch kritischer aus, etwa weil die Kosten für das Bürgergeld höher waren als erwartet. Da auf der anderen Seite nun aber bestimmte Ausgaben, etwa die eingeplanten Milliarden für den Bau der Intel-Chipfabrik in Magdeburg nicht anfallen, hat sich die Situation entspannt.
WELT: Schauen wir auf 2025: Mit welchen geldwerten Beschlüssen können die Bürger noch rechnen, bevor der Bundestag im Januar aufgelöst wird – was ist mit der Erhöhung des Kindergeldes und dem Ausgleich der Kalten Progression?
Jörg Kukies: In diesem Kalenderjahr wird das nicht mehr endgültig beschlossen. Dafür fehlt mittlerweile schlicht die Zeit. Es wird also eine gewisse Rückwirkung beim Kindergeld und dem Ausgleich der Kalten Progression geben müssen. Das ist aber unproblematisch möglich. Sollte das entsprechende Gesetz nun rasch vom Bundestag beschlossen werden, hätte der Bundesrat bis zum 21. Februar Zeit, also zwei Tage vor der Wahl, es zu verabschieden. Ob es dazu noch kommt, liegt an CDU und FDP. Um die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten und unsere Wirtschaft zu stärken wäre eine steuerliche Entlastung in zweistelliger Milliardenhöhe aber auf jeden Fall sinnvoll.
WELT: Genauso wie über den Bundeshaushalt 2025. Bis dahin wird es eine sogenannte vorläufige Haushaltsführung geben. Wie viel Geld steht den Ministerien in der Zeit zur Verfügung?
Jörg Kukies: Wir werden uns bei den Ausgaben weitgehend an dem Regierungsentwurf für 2025 aus dem Sommer orientieren.
WELT: Obwohl er nicht mehr beschlossen wurde?
Jörg Kukies: Wir nutzen den Entwurf lediglich als Berechnungsgrundlage. Er dient als Orientierung, wie viel Geld zur Verfügung steht, quasi als Obergrenze. Das heißt aber nicht, dass jedes Ministerium entscheiden kann, für was es Geld ausgibt. Die zulässigen Ausgaben sind in Artikel 111 Absatz 1 des Grundgesetzes klar geregelt. Der Bund muss während einer vorläufigen Haushaltsführung beispielsweise seinen gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen, also beispielsweise Sozialtransfers zahlen. Auch Baumaßnahmen können fortgesetzt werden.
WELT: Die Sanierung der Bahn ist also nicht in Gefahr?
Jörg Kukies: Bereits begonnene Bautätigkeiten können fortgesetzt werden, die Firmen bekommen von der Bahn ganz normal ihr Geld. Und die Bahn wird auch im Rahmen der vorläufigen Haushaltsführung weiter Aufträge für die Sanierung vergeben können. Ich bin sicher, dass das Bundesverkehrsministerium an die Umsetzung des Artikel 111 GG mit logischem Pragmatismus herangehen wird.
WELT: Gleiches gilt für den Fall, dass Fördertöpfe leerlaufen?
Jörg Kukies: Laufende Förderprogramme können fortgesetzt werden. Dafür können die im Regierungsentwurf 2025 eingestellten Ausgaben bis zu einer vorgegebenen Grenze genutzt werden. Für Förderzusagen mit Haushaltswirkungen über mehrere Jahre stehen in diesem Haushaltsjahr nicht genutzte Verpflichtungsmöglichkeiten weiter zur Verfügung. Wenn diese Töpfe leer sind, können sie in einer Phase vorläufiger Haushaltsführung nicht so einfach wieder aufgefüllt werden. Es sei denn, es gibt auch dafür übergeordnete Gründe.
WELT: Das klingt so, als könnte im nächsten Jahr weiterhin munter Geld ausgegeben werden – auch ohne beschlossenen Haushalt.
Jörg Kukies: Nein, die Vorgaben sind streng. Ich habe auf Artikel 111 GG verwiesen. In der Regel wird in Phasen vorläufiger Haushaltsführung, wie sie nach Wahlen regelmäßig vorkommen, weniger Geld ausgegeben als budgetiert. Und für neue Maßnahmen gelten die noch strengeren Regeln des Artikels 112 des Grundgesetzes – der verlangt den hohen Maßstab eines sachlich und zeitlich unabweisbaren Bedürfnisses.
WELT: Sie wollen den Regierungsentwurf als Bemessungsgrundlage nutzen. Verfassungsrechtler verweisen darauf, dass der Entwurf für die vorläufige Haushaltsführung irrelevant ist, orientiert werden müsse sich stattdessen an den Ausgaben des Vorjahres. Riskiert die Regierung von Olaf Scholz den nächsten Verfassungsbruch?
Jörg Kukies: Ich kenne solche Stimmen. Es ist aber die feste Fachmeinung meines Hauses, dass die Orientierung am Regierungsentwurf verfassungsgemäß ist. Damit wird am bewährten Verfahren vergangener Jahre mit vorläufiger Haushaltsführung festgehalten. Die Frage, welche Berechnungs- und Bewirtschaftungsgrundlage bei einer vorläufigen Haushaltsführung herangezogen wird, ist auch nicht so entscheidend, wie in der öffentlichen Diskussion unterstellt wird. Entscheidend sind vielmehr die verfassungsrechtlichen Vorgaben nach Artikel 111 Grundgesetz, an denen wir uns bei jedem Ausgabenposten orientieren. Seien Sie unbesorgt.
WELT: Das behauptete die Regierung Scholz auch, bevor die Verfassungsrichter das 60-Milliarden-Euro-Manöver rund um den Klimafonds für nichtig erklärten.
Jörg Kukies: Den Regierungsentwurf für 2025 als Grundlage zu nehmen ist eine genaue Umsetzung einer intensiv geprüften Empfehlung der Haushaltsabteilung meines Hauses. Und um es noch einmal hervorzuheben, der Regierungsentwurf bildet nur die Berechnungsgrundlage und entbindet nicht von der Entscheidung, welche Ausgaben überhaupt getätigt werden dürfen.