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27.09.2023

Internationales/Finanzmarkt

Christian Lindner beim Handelsblatt Banken-Gipfel

"Vor uns liegt viel. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass, so wie früher unsere Sicherheit, heute unser Wohlstand von anderen garantiert wird. Wir müssen wirklich etwas dafür tun, damit wir unsere wirtschaftliche Substanz sichern."

  • Datum 21.09.2023

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Ich wäre gerne jetzt bei Ihnen gewesen. Aber leider haben mich daran zuerst parlamentarische Verpflichtungen gehindert. Heute ist ja das Zukunftsfinanzierungsgesetz in erster Lesung vom Deutschen Bundestag beraten worden. Ich gehe gleich noch einmal darauf ein. Aber selbst daran habe ich nicht teilnehmen können, weil ich vermutlich vom Europäischen Rat in Santiago de Compostela das Covid Virus mitgebracht habe. Immerhin kann ich jetzt vom Home Office aus arbeiten. Ich war auch schon mal in Hotelzimmerquarantäne beim IWF in Washington. Insofern gibt es überall Fortschritte, auch beim Umgang mit dem Corona Virus.

Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, einen herzlichen Glückwunsch an Claudia Buch auszusprechen. Sie haben es verfolgt: Professorin Buch ist gestern vom Europäischen Parlament für den Single Supervisory Mechanism der EZB Bankenaufsicht gewählt bzw. nominiert worden. Wir haben diese Bewerbung gefördert und begleitet, weil Frau Buch eine exzellente Besetzung ist. Nebenbei freut es mich natürlich auch, dass eine deutsche Staatsangehörige an der Spitze einer EU-Institution sitzt, nicht allein aus landsmannschaftlicher Verbundenheit, sondern weil sie auch Anwältin unserer deutschen Stabilitätskultur ist.

 Meine sehr verehrten Damen und Herren,

im letzten Jahr hatten wir über die Zeitenwende aus einer sicherheitspolitischen Perspektive gesprochen. Ohne Weiteres kann man sagen, dass wir in einer ökonomischen Zeitenwende stehen. Die Gewichte in der Weltwirtschaft verschieben sich. Wir haben technologische Sprünge und Disruptionen. Wir erleben ein deutlich abgekühltes, konjunkturelles Klima und wir kämpfen immer noch mit der Inflation.

Aus meiner Sicht hat die Bekämpfung der Inflation die erste Priorität. Geldwertstabilität wieder herzustellen, ist entscheidend nicht nur für den sozialen Zusammenhalt, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt. Sonst wird irgendwann unser Fundament unterspült. Die EZB hat dieser Tage erneut einen Zinsschritt vorgenommen. Ich sage ausdrücklich: Für die Bundesregierung ist das nachvollziehbar, wenngleich wir die realwirtschaftlichen Auswirkungen nicht übersehen können – Stichwort „Baukonjunktur“. Die Bundesregierung tut jetzt das Ihrige, um die Bekämpfung der Inflation nicht künstlich zu verlängern, um die Kosten der Bekämpfung der Inflation nicht noch zu vergrößern. Es ist wie bei einem Brand: Nicht nur das Feuer ist gefährlich, auch das Löschwasser könnte gefährlich sein. Und deshalb muss es möglichst schnell Schritte in die richtige Richtung geben. Unser Beitrag seitens der staatlichen Fiskalpolitik ist es, auf expansive Programme zu verzichten. Tatsächlich gelingt schon in diesem Jahr die Trendwende. Nach der Pandemie ist in jedem Jahr der Schuldenstand bzw. die Staatsschuldenquote - entscheidend ist ja das Verhältnis von Schuldenstand zu Wirtschaftsleistung - gestiegen. In diesem Jahr sinken erstmals die Schuldenquote und die Defizitquote im Staatshaushalt wieder. Wir haben also eine restriktive fiskalpolitische Ausrichtung erreicht - moderat restriktiv, so wie das auch die internationalen Finanzinstitutionen empfehlen.

Wachstum bleibt dabei eine große Herausforderung. Allerdings müssen wir das Wachstum verstärken und das erreichen wir nicht durch staatliche Nachfrageprogramme, die die Inflation anheizen könnten, sondern eher auf der Angebotsseite. Dazu, ich habe es gerade angedeutet, habe ich zwei Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg gebracht: einerseits das Wachstumschancengesetz mit Entlastungen in den nächsten Jahren in einer Größenordnung von 32 Milliarden Euro für Investitionsanreize, die Verstärkung der steuerlichen Forschungsförderung und die Verbesserung der Eigenkapitalbasis des Mittelstands durch den Verlustvortrag. Und heute das Zukunftsfinanzierungsgesetz, das das Ökosystem nicht nur für Start-ups, sondern auch für den Kapitalmarktbereich insgesamt verbessern soll: leichterer Zugang zur Börsennotierung, deutliche Modernisierung, Digitalisierung auch in rechtlichen Fragen, die Verbesserung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung in steuerlicher Hinsicht. Das ist ein wirklicher Bottleneck in Deutschland, um Talente für Wachstumsunternehmen zu gewinnen. Und auch für den Fondsstandort Deutschland haben wir uns einiges vorgenommen. Damit wir uns klar verstehen: Das sind wichtige Bausteine. Aber wir müssen noch darüber hinausgehen, wenn wir unseren Wachstumspfad verbessern wollen, und wenn das Potenzialwachstum in Deutschland steigen und nicht in den nächsten Jahren sinken soll.

Das betrifft zum einen die Verfügbarkeit von Fach- und Arbeitskräften in Deutschland. Das ist eine Frage der Fachkräfteeinwanderung, aber auch von gezielten Erwerbsanreizen für diejenigen, die bislang nicht arbeiten. Dazu gehört auch die Überwindung ungewollter Teilzeit. Das ist leider überwiegend ein Problem bei Müttern wegen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier müssen wir besser werden. Also in dem Beriech ist viel zu tun.

Zweitens: eine massive Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie Abbau von Bürokratismus in Deutschland und Europa. Wenn ich wahrnehme, dass in Brüssel immer noch über Technologieeinschränkung nachgedacht wird. Dass etwa im Bereich der Chemischen Industrie ganze Produktgruppen nicht mehr in Europa produziert werden sollen, dies dann aber im Ausland passiert. Dann glaube ich, dass das nicht in die Zeit passt. Der französische Staatspräsident hat mit „Regulierungspause“, wie ich finde, das richtige Wort zu diesen wirtschaftlichen Zeiten gefunden.

Und, wir müssen selbstverständlich investieren in unsere eigene Zukunftsfähigkeit. In Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, in Infrastruktur im Verkehrsbereich und in das Bildungssystem. Der Bund tut da das Seine. Wir haben trotz der jetzt gelungenen Wende zu einer moderat restriktiven Haushaltspolitik Rekordinvestitionen. Nur um ein paar Zahlen zu nennen: von etwas 36 Milliarden Euro 2019 Vor-Pandemieniveau auf jetzt 54 Milliarden Euro. Gemessen am Haushalt: zehn auf zwölf Prozent und dazu kommen ja noch zahlreiche andere Investitionsmöglichkeiten aus dem Klima- und Transformationsfonds und aus europäischen Fonds, wie Next Generation EU. Also, wir investieren bereits auf Rekordniveau. Die Aufgabe wird sein, wirklich dieses Geld auf die Straße bzw. die Schiene, ins digitale Netz und die Schule zu bringen. Das ist die Kernaufgabe und hier schließe ich gerne an die Fachkräfte-Frage an. Denn wenn der Staat stark in einer Mangelsituation am Arbeitsmarkt investiert, dann könnte es auch zu einer Verdrängung privater Projekte kommen. Deshalb ist es so entscheidend, dass wir Arbeitskräfte aktivieren.

Letzter Gedanke, denn ich soll nur fünf Minuten sprechen, weil Herr Matthes [Chefredakteur des Handelsblatts] wartet. Was das öffentliche Investitionskapital angeht, haben wir also gegenwärtig keinen Mangel. Wenn man Investitionen verstärken will, dann sehe ich zwei Ansatzpunkte:

Der erste Ansatzpunkt ist, dass wir Mittel in unseren nationalen Haushalten dadurch gewinnen können, dass wir bestimmte, sehr kostenträchtige Entwicklungen der vergangenen Jahre unter Kontrolle bekommen. Ich spreche es offen an: Wir verwenden gegenwärtig Milliarden Euro für die Konsequenzen irregulärer Einwanderung in unseren Staat. Milliarden, die nicht für Investitionen oder steuerliche Entlastungsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Die Bekämpfung irregulärer Einwanderung ist also nicht nur eine Frage des sozialen Friedens, sondern es gibt auch eine fiskalische Dimension, die inzwischen unübersehbar ist.

Und zum anderen die Capital Markets Union: Es gibt keinen Mangel an öffentlichem Kapital in Europa. Aber es fehlt uns privates Kapital, sowohl im Eigen- wie im Fremdkapitalbereich. Deshalb habe ich mit meinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire eine Initiative gestartet. Wir haben eine Roadmap vorgelegt, damit wir wirklich bei der Capital Markets Union nun vom Reden ins Handeln kommen. Es sind viele Verbesserungen nötig, um aus dem privaten Sektor selbst Finanzierungen zu stellen. Um nur einen einzigen Aspekt zu nennen: Wir brauchen eine Aktivierung des Verbriefungsmarktes in Europa. Aus meiner Sicht sind die gestiegenen Kapitalanforderungen gegenüber den Banken einerseits nur dann ohne realwirtschaftliche Konsequenz, wenn wir das richtige Instrument der Verbriefung, also der marktwirtschaftlichen Streuung von Risiken, nutzen, damit tatsächlich keine sinnvolle Investition unfinanziert bleibt.

Vor uns liegt viel. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass, so wie früher unsere Sicherheit, heute unser Wohlstand von anderen garantiert wird. Wir müssen wirklich etwas dafür tun, damit wir unsere wirtschaftliche Substanz sichern. Das muss höchste Priorität haben. Und am Ende ist das eine Mentalitätsfrage. Eine Gesellschaft, die mehr darüber nachdenkt, eine Vier-Tage-Woche einzuführen, also wovon sie zukünftig ihren Staat finanzieren will, ist dabei, ihren Wohlstand in Frage zu stellen. Bitte missverstehen Sie mich nicht. Jeder kann vier Tage arbeiten. Aber gemeint ist hier ja, vier Tage zu arbeiten, aber für fünf bezahlt zu werden. 25% Produktivitätsfortschritt braucht man dafür mindestens, damit das nicht ohne volkswirtschaftlichen Schaden abläuft. Das kann ich nicht sehen. Deshalb kommen wir zu der Erkenntnis zurück, dass jeder Wohlstand, der verteilt werden soll, zuvor erst einmal erwirtschaftet werden muss.