In jedem Land stehen die Systeme der sozialen Sicherung in einem Spannungsverhältnis zwischen den Zielen Umverteilung und Allokationseffizienz. Diese Spannung verschärft sich, wenn die nationalen Abschottungen abgebaut werden. Sie ist besonders groß in der Europäischen Union.
Im Zuge der Errichtung des Gemeinsamen Marktes wird nämlich einerseits die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten - Freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr (Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EGV) - angestrebt, andererseits die soziale Sicherung im Interesse der Wahrung der unterschiedlichen nationalen Präferenzen im Prinzip weiterhin von den Mitgliedstaaten autonom gestaltet.
Seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist man bemüht, durch eine zweckmäßige Verknüpfung der unterschiedlichen nationalen Systeme bei grenzüberschreitenden Vorgängen in Form der Koordinierung und durch das Gebot der Inländergleichbehandlung die gleichzeitige Verwirklichung von Allokationseffizienz und sozialer Sicherung zu erleichtern.
Dieses Verknüpfungserfordernis ist nicht allein eine Folge der Unterschiede zwischen den nationalen Systemen, sondern beruht vor allem darauf, dass diese Systeme ursprünglich ganz weitgehend aus der Perspektive eines Nationalstaates gestaltet waren und grenzüberschreitende Vorgänge allenfalls am Rande berücksichtigten. Diese Systemunterschiede erschweren allerdings die Koordinierung oft zusätzlich, insbesondere wenn beschäftigungsort- und wohnsitzortorientierte bzw. beitrags- und steuerfinanzierte Systeme aufeinandertreffen.
Der Vertrag von Maastricht brachte den Status einer Unionsbürgerschaft, an den sich nicht nur politische Wahlrechte knüpfen. Dem Unionsbürger ist auch das Recht zugestanden worden, sich vorbehaltlich gemeinschaftsrechtlicher Beschränkungen und Bedingungen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Unklar ist seitdem, ob in Maastricht eine neue Stufe der europäischen Freizügigkeitspolitik eingeläutet wurde und welche Konsequenzen gegebenenfalls für die Koordinierung der mitgliedstaatlichen Politiken im Bereich der sozialen Sicherung zu ziehen sind. Offen ist grundsätzlich auch, wie sich das Freizügigkeitsrecht so gestalten lässt, dass möglichst alle Unionsbürger nach einheitlichen Regelungen davon Gebrauch machen können und es gleichzeitig nicht zu Wanderungen kommt, die lediglich auf die Erlangung sozialer Vergünstigungen gerichtet sind. Solche Fragen erscheinen mit Blick auf die anstehende Osterweiterung im besonderen Licht.
Zum derzeitigen Ordnungsrahmen der sozialen Sicherung in Europa zählen neben den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes, dem europäischen Wettbewerbsrecht und dem dazu ergangenen Sekundärrecht (Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen) die bilateralen und multilateralen Sozialversicherungsabkommen sowie das Sozialrecht der Mitgliedstaaten.
Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat Einfluss auf den Ordnungsrahmen für die soziale Sicherung in Europa, z.B. in den Bereichen, in denen das europäische Binnenmarkt- und Wettbewerbsrecht auf das mitgliedstaatliche Sozialrecht angewandt wird.
Die soziale Sicherung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union steht daher sowohl als Folge möglicher sozialrechtlicher Konsequenzen der Unionsbürgerschaft als auch durch die zunehmende Einwirkung der vier Grundfreiheiten und des europäischen Wettbewerbsrechts vor neuen Herausforderungen. Der Beirat möchte sich deshalb in diesem Gutachten eingehender mit den Problemen befassen, die sich durch den europäischen Ordnungsrahmen für die soziale Sicherung in Europa ergeben.
Kapitel II behandelt den gegenwärtigen europäischen Ordnungsrahmen für die soziale Sicherung und Reformvorschläge, die innerhalb dieses Rahmens unterbreitet werden. Es wird deutlich, dass dieses System von kleineren Unzulänglichkeiten abgesehen in sich zwar schlüssig konzipiert ist und insofern eine auf Erwerbstätigkeit bezogene Freizügigkeit funktionsgerecht unterstützt, dennoch aber nicht allen ökonomischen Anforderungen genügt.
In Kapitel III werden daher Probleme der sozialen Sicherung bei Freizügigkeit eingehend aus ökonomischer Sicht analysiert und darauf aufbauend Reformvorschläge vorgelegt, die über den bisherigen Ordnungsrahmen hinausgehen. Die im Vertrag von Maastricht angelegte Idee, das Freizügigkeitsrecht allen Unionsbürgern ohne Rücksicht auf Erwerbstätigkeit zu gewähren, macht systemsprengende Reformen notwendig. Ein entsprechender Lösungsvorschlag wird vorgestellt.