Am 14. Mai 2023 jährt sich die Geburtsstunde des Staates Israel zum 75. Mal. Dieses Jubiläum ist auch für uns Deutsche von großer Bedeutung, denn die deutsch-israelische Freundschaft ist außergewöhnlich. Dass es diese Freundschaft überhaupt gibt, noch dazu eine so tiefe und innige, gleicht einem Wunder. Nach den unsagbaren Menschheitsverbrechen und Leiden der Shoa konnte dies vor 75 Jahren niemand für möglich halten.
„Nie wieder!“ – diese Botschaft der Shoa hat für Jüdinnen und Juden eine ganz besondere Bedeutung. Nie wieder sollte die Existenz jüdischen Lebens infrage gestellt werden können. Wehrhaftigkeit musste der neue Staat Israel unmittelbar nach seiner Gründung beweisen: Die benachbarten Staaten der Arabischen Liga erkannten die Ende November 1947 angenommene Resolution der Vereinten Nationen zur Gründung eines arabischen und israelischen Staates nicht an. Sofort nach Annahme der Resolution war es zu erbitterten Gefechten zwischen arabischen und jüdischen Militäreinheiten gekommen - „Israel“ sollte verhindert werden.
Forderungen nach einem Aufschub der Staatsgründung erteilte David Ben Gurion, der designierte israelische Ministerpräsident, eine vehemente Absage. Gerade nach den Erfahrungen der Shoa und trotz aller Gefahren und Mühen musste diese eine Chance unbedingt für das jüdische Volk genutzt werden: „Jetzt oder nie!“.
In seinem Tagebuch hielt Gurion diese fragile Gleichzeitigkeit von Freude und Sorge vor der Bedrohung fest: „Um 4 Uhr nachmittags Ausrufung des Staates. Jubel und Freude im Lande.“ Und, gleich darauf: „Das Schicksal des Staates liegt in den Händen der Sicherheitskräfte.“
So groß das Glück über die Staatsgründung war - es war für Israel kein leichter Beginn.
Sehr schwierig war auch der Weg der Annäherung zwischen dem neuen jüdischen Staat Israel und Deutschland. Heute ist es eine tiefe Freundschaft. Sie ist nicht erzwungen, sie ist absolut nicht selbstverständlich. Sie hat sich selbst entwickelt und lebt von den Menschen und ihren ganz persönlichen Verbindungen. Ich empfinde es deshalb als ein großes Glück, dass zwischen den Menschen in Israel und Deutschland heute ein so eng gewobenes und vielschichtiges Netz der Partnerschaften besteht.
An einen ersten sehr wichtigen Schritt auf dem Weg zu diesem Band haben wir im Herbst des vergangenen Jahres erinnert: das Luxemburger Abkommen zur Wiedergutmachung, das vor 70 Jahren, am 10. September 1952, unterzeichnet wurde. Für diese Entscheidung mussten sich damals die Väter des Abkommens - David Ben Gurion, Moshe Sharett, Nahum Goldmann und Konrad Adenauer - mutig und beherzt gegen Widerstände aus den eigenen Reihen durchsetzen. Sie waren erfolgreich: Diese Vereinbarung war die Grundlage für die spätere Aufnahme von diplomatischen Beziehungen.
Freundschaft verlangt nicht nur nach Diplomatie, sondern auch nach offenem Austausch. Das aktive Erinnern an die Verbrechen NS-Deutschlands und der aus der Verantwortung erwachsene, notwendige Dialog zwischen den Völkern und Generationen gehört zur politischen DNA der Bundesrepublik – und zwar für immer. Ich bin sehr froh, dass sich alle demokratischen Kräfte in unserem Land dieser Verpflichtung bewusst sind. Dabei geht es nicht um persönliche Schuld. Die heutige Generation hat die Verbrechen nicht begangen. Wir können nicht ändern, was geschehen ist. Aber was geschehen ist, muss uns eine Mahnung sein, für die Gegenwart und für die Zukunft: damit so etwas wie der Holocaust nie wieder passiert. Auf dieser Verpflichtung gründet die Demokratie unseres Deutschlands nach 1945. Dieses Ziel können wir nur erreichen durch Aufarbeitung, dauerhafte Bildung und aktive Erinnerung. Einen Schlussstrich kann und wird es nicht geben.
Als Bundesministerium der Finanzen fördern wir daher nicht nur finanziell die Bereiche Holocaust-Education und -Dokumentation, sondern richten auch selbst Veranstaltungen zu dem Thema „Verantwortung weitertragen“ aus. Mit dem „Themenportal Wiedergutmachung“ wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten das riesige und vielfältige „Dokumentenerbe“ der Wiedergutmachungsakten aus Deutschland und der ganzen Welt digital zusammengeführt - und damit die Biographien und Schilderungen der persönlichen Schicksale von Millionen von Menschen. Für nachfolgende Generationen und die Familien und Nachkommen der Verfolgten und für die wissenschaftliche Forschung und Bildungsprojekte weltweit sollen sie zur Verfügung stehen. Die nationalsozialistischen Verbrechen und der Versuch, mit den Folgen weiterzuleben, werden so erfahrbar - und können als Brücke dienen für die Frage, wie Deutschlands Verantwortung in Zukunft ausgestaltet wird.
Aus der Verantwortung der deutschen Geschichte und der Freundschaft zu Israel folgt als weiterer Teil der politischen DNA unseres Landes das unabdingbare Eintreten für die Existenz des Staates Israels. Dies ist und bleibt eine unverrückbare Grundposition deutscher Politik.
Letztlich aber kommt es darauf an, dass die Bürgerinnen und Bürger für diese gemeinsamen demokratischen Werte und Ziele stehen. Denn der Staat, das sind nicht Regierungen, sondern die Menschen.
Unsere Länder Israel und Deutschland verbindet das Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - und das Wissen darüber, dass beides nicht selbstverständlich ist. Beide Länder verbindet auch das Bewusstsein dafür, dass Demokratien wehrhaft sein müssen. Dem Staat Israel war dies - wie uns nicht zuletzt die Worte Ben Gurions zeigen - vom Tag seiner Gründung an in besonderem Maße bewusst.
Die Wehrhaftigkeit einer Demokratie muss sich aber auch nach innen richten. Sonst droht sie sich mit ihren eigenen Mitteln abzuschaffen. Grundrechte sind ihrem Wesen nach Minderheitenrechte. Sie bedürfen eines besonderen Schutzes, unter anderem durch eine funktionierende Gewaltenteilung und unabhängige Justiz.
Zum 75. Jahrestag der Unabhängigkeit des Staates Israel wünsche ich uns allen wehrhafte, überzeugte und leidenschaftliche Demokratinnen und Demokraten. Ich wünsche uns, dass Israel auch in Zukunft als demokratischer Rechtsstaat mit offener Gesellschaft und innerer Liberalität unser Wertepartner in der Region bleibt. Und dass es gelingen möge, dass Israelis und Palästinenser ohne Angst vor Terror in Frieden leben können.
Wir wissen: Es gibt diese Kraft in den Menschen, selbst aus tiefsten Verletzungen heraus einander die Hand zu reichen und sich für Versöhnung, Toleranz, Völkerverständigung und Frieden einzusetzen. Für dieses unschätzbare Geschenk der vertrauensvollen Partnerschaft, die das deutsch-israelische Verhältnis heute kennzeichnet, sind wir zutiefst dankbar.