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04.12.2023

Schuldenbremse und Lernkurve

Gastbeitrag von Bundesfinanzminister Christian Lindner und Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann für die FAZ

Die Schuldenbremse des Grundgesetzes ist eine verfassungsrechtliche Errungenschaft. Sie sorgt für solide Staatsfinanzen, haushaltspolitische Krisenresilienz und stärkt die Generationengerechtigkeit. Sie zieht insbesondere die Konsequenz aus einem historischen Lernprozess.

In den späten Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der verfassungsändernde Gesetzgeber die Tore für die Staatsverschuldung weit geöffnet. Dem lag die Theorie des „deficit spending“ zu Grunde. Sie besagte, dass der Staat in schlechten Zeiten stärker schuldenfinanziert Geld ausgeben sollte, um die Konjunktur zu stabilisieren. Sie besagte auch, dass diese Schulden dann in wirtschaftlich besseren Zeiten getilgt werden sollen.

Diese Konzeption gelang jedoch nicht: Von 1967 bis 2009, dem Jahr der Einführung der Schuldenbremse, hatte sich die Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt mehr als verdreifacht. Offenbar war es im demokratischen Prozess zu verführerisch, Tagespolitik durch Schulden zu finanzieren, und zu wenig attraktiv, aufgelaufene Schulden zu tilgen. Das Ergebnis war eine Art haushaltpolitischer Ratscheneffekt: Schulden gingen immer nur weiter rauf, aber nie runter.

In dieser Zeit wurde auch getestet, ob der Begriff der Investition zu einer wirksamen Begrenzung der Staatsverschuldung führen könne. Die sogenannte „Goldene Regel“ des alten Finanzverfassungsrechts vor der Geltung der Schuldenbremse besagte, dass der Staat in dem Umfang Kredite aufnehmen dürfe, wie er Investitionen tätigt. Der Gedanke klingt zunächst plausibel. Auch ein seriöser Kaufmann, so heißt es oft, nehme Schulden auf, um Investitionen zu tätigen. Daher müsse es auch dem Staat erlaubt sein. Gerade heute führen insbesondere jene den Satz im Munde, die die geltende Schuldenbremse kritisieren.

Die Praxis des Haushaltsrechts führte jedoch zu einem praktisch uferlosen Begriff der Investition. Das hat strukturelle Gründe unabhängig von politischen Mehrheiten, die jeweils regierten. Denn der haushaltsrechtliche Begriff der Investition unterscheidet sich tiefgreifend vom ökonomisch-bilanziellen Begriff der Investition, den ein Kaufmann anlegt.

Ein Kaufmann tätigt eine Erstinvestition, etwa die Anschaffung einer neuen Maschine, durchaus schuldenfinanziert. Er tut dies aber, weil er mit zusätzlichen Einnahmen, also einer Verzinsung seiner Investition auch nach Abzug aller Kosten für den Kredit rechnet. Das ist maßgeblich für den ökonomischen Investitionsbegriff. Natürlich kann der Bau einer neuen Brücke, wo bislang noch keine stand, eine wirtschaftliche Entwicklung auslösen, die zu zusätzlichen Steuereinnahmen führt. Aber bei vielem, was in der Politik „Investition“ heißt, ist völlig unklar, ob es hier jemals zu einer Mehreinnahme des Staates kommen wird. Oft handelt es sich mehr um politische Rhetorik als um die Beschreibung realer Zahlungsströme.

Ein Kaufmann unterscheidet streng zwischen Erstinvestition, wie dem Bau einer Immobilie, und Erhaltungsinvestitionen, wie der Reparatur des Dachs. Bei der Erhaltung geht es um werterhaltende Maßnahmen wie Ausbesserungen und Reparaturen. Solche Maßnahmen finanziert ein seriöser Kaufmann regelmäßig nicht durch Schulden. Er bildet dafür Rücklagen. Damit er das nicht vergisst, muss er bilanziell Abschreibungen vornehmen. Diese Unterscheidung zwischen Erst- und Ersatzinvestitionen ist der Praxis des Haushaltsrechts fremd. Es legt den sogenannten Brutto-Investitionsbegriff zugrunde, der sowohl Erst- wie Ersatzinvestitionen meint. Der Bau einer Brücke und ihre Ausbesserung werden daher haushaltsrechtlich gleich behandelt.

Diese strukturellen Unterschiede zwischen dem ökonomisch-bilanziellen und dem haushaltsrechtlichen Investitionsbegriff führten dazu, dass die „Goldene Regel“ keine effektive Begrenzung der Staatsverschuldung bewirkte. Das Bundesverfassungsgericht merkte 2007 über das alte Finanzverfassungsrecht sogar an, dass es „sich als verfassungsrechtliches Instrument rationaler Steuerung und Begrenzung staatlicher Schuldenpolitik in der Realität nicht als wirksam erwiesen“ habe.

Aus diesen empirischen Befunden zog der verfassungsändernde Gesetzgeber eine Konsequenz: Das Regelungskonzept der Schuldenbremse sollte dem Haushaltsgesetzgeber eine klare Grenze der Kreditaufnahme aufzeigen. Sie sollte einerseits eine maßvolle Verschuldung zulassen, die aber andererseits in jedem Jahr betragsmäßig klar bestimmbar war. So kam es zu den 0,35 % am nominalen Bruttoinlandsprodukt, die Artikel 115 Absatz 2 GG heute als äußerste Grenze jenseits von Notlagen oder Naturkatastrophen für die jährliche Kreditaufnahme zieht.    

Diese Regelung ist eine Erfolgsgeschichte. Sie beendete den Trend einer chronisch ansteigenden Staatsverschuldung. Zugunsten nachfolgender Generationen wirkte sie steigenden Zinslasten und der Einengung der haushaltspolitischen Spielräume der Zukunft entgegen. Die Schuldenbremse wirkte präventiv gegen Staatsschuldenkrisen, wie sie andere Länder der Eurozone in den Jahren ab 2010 erlitten haben. Sie sorgt für eine ausgezeichnete Bonität unseres Landes an den Finanzmärkten. Das ermöglichte es, in kurzer Zeit große Finanzvolumina zu vertretbaren Konditionen an den Kapitalmärkten zu beschaffen, um die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Energiekrise 2022 erfolgreich abzufedern.

Vor diesem Hintergrund sollten wir die Schuldenbremse weder abschaffen, noch schleifen, sondern schlicht einhalten. Manchmal scheinen die historischen Lernerfolge, die die Politik mit der Einführung der Schuldenbremse gezogen hat, vergessen worden zu sein. Daher kann man nicht oft genug daran erinnern. Wir sollten zeigen, dass es auch in der Politik eine Lernkurve gibt.