CHRISTIAN LINDNER: Meine Damen und Herren, der schreckliche Angriff Russlands auf die Ukraine jährt sich jetzt bald zum ersten Mal. Unverändert stehen wir in Solidarität an der Seite der Ukraine, die diesen Krieg nicht verlieren darf, sondern gewinnen muss. Wir unternehmen alles, um die Ukraine in ihrer Durchhaltefähigkeit zu stärken. Die Durchhaltefähigkeit der Ukraine muss größer sein als die Bösartigkeit, die von Putins Krieg ausgeht.
Während dieses Jahres haben sich zum Glück die Wirtschaften in Europa als resilienter herausgestellt, als viele befürchtet hatten. Wir sind auch durch die Maßnahmen, die die Regierungen koordiniert ergriffen haben, von wirklich ernsthaften Strukturbrüchen verschont geblieben. Wir haben unsere privaten Haushalte und unsere Betriebe beschützt in diesem – man kann ihn nicht anders nennen – Energiekrieg, den wir haben. Das ist ein gutes Zeichen. Diese Resilienz ist eine Motivation, jetzt auch die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union in den Blick zu nehmen.
Das nächste Kapitel nach der Krisenbewältigung, das wir aufschlagen müssen, ist das der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union. Dazu macht die Europäische Kommission Vorschläge, um den Beihilferahmen agiler zu gestalten, auch als eine der Antworten auf den Inflation Reduction Act der Biden-Administration in den USA. Wir müssen in jedem Fall einen Subventionswettlauf verhindern. Wir haben sehr viel Geld, das bereits zur Verfügung steht. Nun geht es aber darum, die Qualität der öffentlichen Investitionen zu verbessern. Es geht nicht um eine höhere Quantität öffentlicher Investitionen, sondern eine Verbesserung der Qualität der Ausgaben. Wir wollen einen größeren Hebel haben für die digitale und grüne Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft in Europa. Deshalb begrüßt die Bundesregierung auch mehr Agilität und Flexibilität und mehr Tempo beim europäischen Beihilferahmen. Aber alles eben vor dem Hintergrund, dass ein Subventionswettlauf weder nötig noch sinnvoll ist.
Wir werden heute beginnen mit dem Gedankenaustausch über den Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Economic Governance der Europäischen Union. Wir haben noch nicht mehr als nur einen Start. Die Kommunikation der Kommission ist noch nicht das Ende des Prozesses, sondern nur der Beginn des Gedankenaustauschs. Es ist unsere Verantwortung, der jungen Generation stabile öffentliche Finanzen zu übergeben. Die hohen Schuldenstände auch nach der Pandemie sind eine Herausforderung für viele, aber sie dürfen nicht eine Einladung beschreiben, so weiterzumachen wie bisher. Wir müssen zurückkehren zu nachhaltig stabilen öffentlichen Finanzen. Nachhaltigkeit ist nicht nur eine ökologische, sondern auch eine ökonomische Frage. Für Deutschland ist deshalb zwingend, dass wir nachvollziehbare, glaubwürdige, berechenbare Pfade zur Reduzierung von Defiziten und Schuldenstände sehen. Das darf nicht in das Belieben gestellt werden.
Die Vorschläge der Europäischen Kommission bedeuten das Betreten eines unentdeckten Kontinents: Niemand kann exakt sagen, was damit verbunden ist. Und deshalb sind sie für uns so nicht zustimmungsfähig. Sie müssen in wesentlichen Fragen modifiziert werden. Das werde ich heute bei dieser Gelegenheit darstellen. Aber die Bundesregierung ist bereit anzuerkennen, dass wir neue Investitionsnotwendigkeiten haben und dass sich die Schuldenstände so erhöht haben, dass bei einer unveränderten Anwendung der alten Regeln Mitgliedstaaten vor teilweise kaum bewältigbare Aufgaben gestellt werden.
Wir sind also offen für eine Veränderung. Aber die Richtung der Veränderung muss klar sein: in Richtung auf Generationengerechtigkeit, Nachhaltigkeit und eine Stärkung von Investitionen, statt der Vermeidung von Reformen.
FRAGE: Herr Lindner, könnten Sie sich vorstellen, zum Beispiel künftig, wie das einige Staaten fordern, laxere Regeln, laxere Fiskalregeln für etwa neue Schulden für Umweltschutzprojekte zu haben?
CHRISTIAN LINDNER: Schulden sind Schulden, auch wenn die Motive edel sind, warum Schulden aufgenommen werden. Für die Kapitalmärkte, die Belastung mit Zinsen, die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen macht es keinen Unterschied. Wir brauchen öffentliche Investitionen, die unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken und zugleich unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhalten helfen, aber innerhalb eines klaren fiskalischen Rahmens, der Glaubwürdigkeit auch für die Kapitalmärkte sicherstellt und nicht die junge Generation mit Zinsen erdrosselt.
FRAGE: Die Eurozone soll heuer um 0,7 Prozent wachsen, aber auch die russische Wirtschaft um 0,3 Prozent. Sie sprechen heute auch über die Umsetzung der Sanktionen gegen Russland. Gibt es hier noch Verbesserungsbedarf Ihrer Meinung nach?
CHRISTIAN LINDNER: Wir sind fortwährend dabei zu schauen, wo die Sanktionen noch wirksamer werden können. Man darf allerdings Sanktionen nicht verwechseln mit einem Lichtschalter, den man betätigt, und dann ist ein Land ökonomisch ruiniert und stellt Kriegshandlungen ein. Es ist eben kein Lichtschalter, Sanktionen zu beschließen. Sondern ihre Wirksamkeit besteht darin, sie langfristig durchzuhalten und langfristig wirtschaftliche Schäden zu verursachen, die dann dazu führen, dass ein Staat wie Russland seine Politik verändert.
FRAGE: Herr Minister, darf ich die Sprache wechseln?
CHRISTIAN LINDNER: Ja, natürlich.
FRAGE: Sie haben das Inflationsbekämpfungsgesetz der USA erwähnt, wobei einige kleinere europäische Länder gesagt haben, dass sie sich über deutsche Subventionen tatsächlich mehr Sorgen machen als über amerikanische Subventionen. Was sagen Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen aus kleineren europäischen Ländern in Bezug auf staatliche Unterstützung, die Sie möglicherweise leisten wollen?
CHRISTIAN LINDNER: Die deutsche Regierung hat kein Interesse daran, Ausgaben zu erhöhen und Subventionen auszuweiten. Wir möchten die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft auf nationaler Ebene sowie die der europäischen Volkswirtschaften insgesamt fördern. Das bedeutet eine Fokussierung auf die Angebotsseite unserer Volkswirtschaften wie z. B. die Modernisierung unserer Arbeitsmärkte. Wir müssen die Qualität, nicht die Quantität öffentlicher Investitionen erhöhen. Ich kann daher allen Mitgliedstaaten versichern, dass Deutschland faire und gleiche Wettbewerbsbedingungen aufrechterhalten wird. Und ich fordere die Kolleginnen und Kollegen auf, gemeinsam mit uns zu überlegen, wie die Wettbewerbsfähigkeit gefördert werden kann, ohne immer mehr Geld auszugeben. Wir können uns keinen Wettlauf mit den Vereinigten Staaten leisten, die höhere Subventionen bereitstellen und höhere öffentliche Ausgaben tätigen können. Außerdem werden im Rahmen unseres Programms „Next Generation EU“, das über 800 Mrd. Euro umfasst, mehr öffentliche Investitionen bereitgestellt als im Rahmen des US-Inflationsbekämpfungsgesetzes.
FRAGE: Ich habe eine Frage zu den Fiskalregeln. Sie haben gestern in der FAZ geschrieben, dass Sie einer Flexibilisierung des Schuldenabbaus offen gegenüberstehen – des Tempos, aber nicht der Richtung. Was genau meinen Sie damit? Welchen Spielraum räumen Sie Ihren Kolleg:innen ein?
CHRISTIAN LINDNER: Wir stehen am Anfang eines Gedankenaustauschs über die Economic Governance der Europäischen Union und die Lage hat sich offensichtlich geändert. Wir müssen mit höheren Schuldenständen nach der Pandemie sowie mit dem Energiekrieg mit Russland umgehen, weshalb wir den Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts neu ausrichten müssen. Für Deutschland ist eine schnellstmögliche Rückkehr zu tragfähigen, soliden Staatsfinanzen von entscheidender Bedeutung. Wir brauchen einen zuverlässigen, glaubhaften Pfad zur Reduzierung von Defiziten und Schuldenständen in der Europäischen Union. Wir erkennen die Investitionsnotwendigkeiten der Mitgliedstaaten an. Wir benötigen private und öffentliche Investitionen für die grüne Transformation. Das ist aber keine Ausrede, um strukturelle Reformen in unseren Volkswirtschaften zu umgehen. Mittelfristig sind wir offen für mehr Flexibilität, aber wir brauchen einen zuverlässigen Pfad zur Reduzierung von Schulden und Defiziten innerhalb der Europäischen Union.
FRAGE: Wird sich eine Reform in den Maastricht-Kriterien noch in dieser Legislaturperiode ausgehen Ihrer Meinung nach?
CHRISTIAN LINDNER: Die Maastricht-Kriterien von 63 Prozent können nicht zur Disposition stehen. Sie sind fest. Das bleiben die glaubwürdigen und bekannten Referenzgrößen. Es kann nur darum gehen, andere Aspekte zu justieren und mehr Flexibilität zu ermöglichen. Immer aber unter der Bedingung, dass am Ende niedrigere Defizite und eine Reduktion von Schuldenständen steht. Es ist unsere Verantwortung gegenüber der jungen Generation, wieder zu geordneten öffentlichen Finanzen zurückzukehren.
Entschuldigen Sie, ich muss noch etwas ergänzen. Aus unserer Sicht ist es unsere Verantwortung gegenüber der jungen Generation, wieder zu geordneten öffentlichen Finanzen zurückzukehren, und nun sehen wir höhere Zinsen, die wir zahlen müssen. Meines Erachtens ist es eine extrem komplizierte Situation, in der wir einerseits Zinsen an die Kapitalmärkte zahlen müssen und andererseits höhere öffentliche Investitionen anstreben. Ich würde es vorziehen, weniger Zinsen an die Kapitalmärkte zu zahlen und dieses Geld stattdessen für Investitionen zu nutzen. Aus diesem Grund setzen wir uns für solide öffentliche Finanzen ein.
Okay, vielen Dank Ihnen, tschüss.