MELINDA CRANE: Guten Abend, bonsoir, good evening Exzellenzen, verehrte Gäste, und herzlich willkommen im Bundesministerium der Finanzen. Ich bin Melinda Crane und habe die große Ehre, Sie heute Abend als Moderatorin zu begleiten bei diesem Economic Dialogue.
Es ist für dieses Jahr die letzte in einer Reihe von Veranstaltungen, welche sich mit den großen Herausforderungen dieser wirklich sehr umbruchsreichen Zeit befassen. Die Inflationsbekämpfung gehört dazu. Und das ist heute Abend unser Thema. Und das Datum könnte nicht passender sein. Es sind fast genau 100 Jahre seit der Währungsreform von Reichskanzler Gustav Stresemann, die zusammen mit der harten und umfassenden Konsolidierung des Staatshaushaltes die Hyperinflation von 1923 beendete. Damit stabilisierte Stresemann nicht nur die wirtschaftliche Lage, sondern auch noch die politische Situation in der fragilen Weimar Republik, die dem Kollaps nahe war, nicht nur aufgrund der Teuerungen und Verknappungen, dessen Folgen Thomas Mann zum Beispiel sehr eindringlich in seiner Erzählung Unordnung und frühes Leid geschildert hat, sondern vor allem wegen der gesellschaftlichen Unruhe, die Victor Klemperer mit folgenden Worten beschrieb: „Die Zeit ist allzu sehr aus den Fugen, jeder fühlt etwas Bedrohliches in nächster Nähe, niemand weiß, was wird.“
Einige Mitglieder der Familie Stresemann sind heute Abend bei uns. Ich freue mich sehr, Sie und alle anderen Redner des Abends sehr herzlich zu begrüßen. In Anerkennung der Verquickung zwischen wirtschaftlicher und politischer Stabilität lautet unserer Titel heute Abend: Inflation kills democracy – finanzpolitische Vernunft als Grundlage funktionierender Gemeinschaften. Und auch wenn die hohe Inflation der letzten zwei Jahre natürlich nicht mit der rasenden Geldentwertung von 1923 zu vergleichen ist, können wir aus den wichtigen Lehren der damaligen Zeit lernen, und das ist heute Abend unser Ziel.
Erlauben Sie mir ein ganz kurzes Wort zum Programm. Nach Impulsreden vom Bundesfinanzminister Christian Lindner und von der Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, werden Sie im Dialog miteinander einige Aspekte der Inflationsbekämpfung diskutieren. Anschließend wird der Gouverneur der Zentralbank von Sri Lanka die Auswirkung der galoppierenden Inflation in seinem Land schildern. Und zum Schluss erörtern wir noch einmal die geschichtlichen „lessons learned“ mit dem renommierten Wirtschaftshistoriker Dr. Albrecht Ritschl und mit dem Vorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Professor Dr. Karl-Heinz Paqué.
Verehrte Gäste, wie Sie unserem Titel entnehmen konnten, ist unsere heutige Veranstaltung zweisprachig, das heißt, es wird auch Beiträge in Englisch später geben, und nun beginnen wir.
Der Bundesfinanzminister betonte bereits im letzten Jahr, dass die Bekämpfung der Inflation erste Priorität sein müsse, weil die Teuerung die Menschen verunsichere und belaste und damit den sozialen Frieden gefährde. Es ist mir eine sehr große Ehre, die Bühne an unseren Gastgeber zu übergeben. Lieber Bundesminister Lindner, Sie haben das Wort.
CHRISTIAN LINDNER: Recht herzlichen Dank, liebe Frau Crane, liebe Gäste, herzlich willkommen hier im Bundesfinanzministerium zu unserem heutigen Economic Dialogue. Diese Veranstaltung – Sie sehen es – ist Dank der hochrangigen und illustren Zahl und Schar der Gäste auf eine besonders große Resonanz gestoßen. Darüber freuen wir uns sehr. Kaum waren die Einladungen versandt, mussten wir auch bereits die Liste schließen. Die Warteliste ist unverändert sehr lang. Und deshalb begrüße ich auch all diejenigen, die der Veranstaltung nur am Livestream folgen können und hoffe, dass Sie von ihr profitieren.
Frau Crane, Sie haben es bereits angedeutet, die Hyperinflation des Jahres 1923 gehört zu den geschichtlichen Ereignissen, die sich in besonderer Weise eingeprägt haben, auch in die deutsche Mentalität, auch bildgewaltig in das kollektive Bewusstsein eingegangen sind: die Schubkarren voller Geldbündel, die dicht gedrängten Menschentrauben vor den Geschäften, hungernde Kinder. Und vielleicht gibt es die eine oder den anderen hier im Saal, der auch noch die Überlieferungen von Großeltern oder Urgroßeltern gehört hat, so wie ich das getan habe. Das waren Geschichten davon, wie die Hyperinflation alles Ersparte aufgefressen hat, wie der Lohn vom Vortag nicht reichte, um einen Leib Brot zu kaufen, und wie das Überleben wortwörtlich zu einem Kampf wurde. Am 19. August 1923 kostete ein US-Dollar 4 Millionen Reichsmark. Die Hyperinflation der Jahre 1922/1923 und ihre Folgen, oftmals beschrieben als vererbtes Trauma der Deutschen, fasziniert uns nach wie vor.
Gerade mit Blick auf das aktuelle Zeitgeschehen wollen wir verstehen, welche Lehren wir aus diesen schicksalshaften Jahren ziehen können und wie wir Inflation langfristig wirksam bekämpfen. Denn wir spüren auch heute die Gefahr: Inflation, und sei es auch keine Hyperinflation, kann verheerende Auswirkungen haben. Nicht nur schränkt sie die Menschen ein, weil sie ihren Lebensstandard nicht halten können, und das trifft insbesondere ja die sozial Schwachen. Auch die Allokationsfunktion des Marktes selbst wird gestört, wenn nicht mehr Angebot und Nachfrage und damit Knappheiten den Preis bestimmen, sondern der Verfall des Geldwertes zusätzlich interferiert.
Hier, Frau Crane, ist dann in der Tat das wirtschaftliche Fundament bedroht. Es kann unterspült werden. Um in der Gegenwart die Geldwertstabilität wiederherzustellen, haben überall auf der Welt die Notenbanken ihre Geldpolitik verändert und die Zinsen angehoben. Das hat Auswirkungen in der Realwirtschaft. Ich denke an die Baukonjunktur in Deutschland beispielsweise. Und das merken wir auch in den Staatshaushalten, denn wir müssen mehr Geld aufwenden, um die Verpflichtungen gegenüber der Vergangenheit, sprich den Kapitaldienst, darzustellen. Und deshalb ist unsere Aufgabe auch unsere fiskalpolitische Priorität, die Geldpolitik der Zentralbanken zu unterstützen, damit die Bekämpfung der Inflation nicht länger dauert als nötig, damit ihre realwirtschaftlichen Folgeschäden begrenzt werden und damit die Auswirkungen auf die Staatshaushalte ebenfalls unter Kontrolle gehalten werden.
Eine expansive Finanzpolitik, die gewissermaßen auf Pump mit immer neuen Ausgabeprogrammen agieren würde, die würde gewissermaßen der Zentralbank in den Arm fallen. Dann würde die Bekämpfung der Inflation länger dauern und die damit verbundenen Folgen wären empfindlicher. Und aus diesem Grund folgen wir in Deutschland einer Politik der restriktiven – moderat-restriktiven – Fiskalpolitik, Schuldenbremse, das ist die Inflationsbremse. Und es ist zu erwarten, dass die moderat-restriktiv angelegte Fiskalpolitik nach gewissen höchstrichterlichen Entscheidungen vielleicht sogar noch ein bisschen weniger moderat und noch ein bisschen restriktiver im nächsten Jahr sein wird, als wir sie angelegt haben.
Der Mann, dem es im Jahr 1923 erfolgreich gelungen ist, die Hyperinflation zu stoppen, war der damalige Reichskanzler Gustav Stresemann. Und ich betone Reichskanzler, denn oft wird seine diesbezügliche Rolle ausgeblendet. Weil seine Tätigkeit als Außenminister im Vordergrund stand. Es war aber in genau dieser Funktion, die er übrigens nur etwas mehr als 100 Tage innehatte, in der Gustav Stresemann gelang, Deutschland zu stabilisieren. Unser Land stand vor dem Abgrund. Als er die Kanzlerschaft antrat, drohte der Zusammenbruch der Wirtschaft – Hyperinflation. Separationstendenzen im Rheinland nicht zu vergessen, kommunistische Aufstandspläne in Sachsen und Thüringen und der Putschversuch von Hitler und Ludendorff in München. Und dennoch gelang es Stresemann mit einem ungehörigen Optimismus – wie sein Sohn Wolfgang später beschrieben hat – innerhalb kürzester Zeit zunächst unlösbar scheinende Probleme zu bewältigen. Und ich darf heute sagen – ich bin jetzt 700 Tage etwa im Amt – ungehöriger Optimismus, den braucht man tatsächlich und auch in der Gegenwart.
Die Anzahl grundlegende Entscheidungen, die damals innerhalb kürzester Zeit getroffen worden sind, die sind tatsächlich bemerkenswert. Und Karl-Heinz, du hast Gustav Stresemann einmal einen der, wenn nicht den produktivsten Kanzler Deutschlands genannt. Stresemann beendete am 26. September 1923 den Ruhrkampf und legte damit den Grundstein für den Stopp der Hyperinflation und die Stabilisierung der Währung. Der Reichsfinanzminister, Hans Luther, einer seiner Vertrauten, der hat die Rentenmark konzipiert und mit der Währungsreform Mitte November 1923 einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass die Notenpresse von einem Tag auf den anderen stillstehen konnte. Die Bevölkerung musste sich an zwölf Nullen weniger gewöhnen. Darüberhinaus konsolidierten Stresemann und Luther den Staatshaushalt, wie ich eben ausgeführt habe, eine unabdingbare Bedingung für die Rückkehr zur Preisstabilität, und damit führten beide Deutschland zurück an die internationalen Kapitalmärkte. Zugleich gelang es Stresemann, die Einheit des Deutschen Reiches zu bewahren, und zwar unter Einhaltung der Demokratie, der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit. Was müssen das damals für Wochen gewesen sein?
Aber Stresemanns große Koalition zerbrach bekanntlich. Ende November 1923 trat er als Reichskanzler zurück, wurde dann jedoch zum Garanten der ständig wechselnden Regierungen der Weimarer Republik, indem er sechs Jahre als Außenminister diente. In dieser Zeit leistete er Bahnbrechendes für den Frieden in Europa. 1924 wurden die Reparationszahlungen von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Deutschen Reiches abhängig gemacht. Ausländische Kredite und Investitionen leiteten eine Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs ein, und der vermutlich größte Schritt erfolgte – wir erinnern uns – 1925 mit dem Vertrag von Locarno: Deutschland verzichtete auf jede Grenzrevision im Westen, die Entmilitarisierung des Rheinlandes wurde beschlossen, und diese Einigung markierte ja die Wiederaufnahme Deutschlands in den Kreis der europäischen Mächte. Ein Meilenstein auf dem Weg zum Beitritt zum Völkerbund 1926. Und dieser historische Moment des Erscheinens der deutschen Delegation im Völkerbund, das ist auch so ein Bild im kollektiven Bewusstsein. Es soll damals einen Beifallsturm, „Bravo Stresemann“ gegeben haben. Im Völkerbund hat sich eine solche Szene nie wieder abgespielt, und das kaum zehn Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs.
Gustav Stresemann hat 1926 den Friedensnobelpreis erhalten zusammen mit Aristide Briand und damit wurde diese historische Leistung ja auch gewürdigt. Viele von Ihnen wissen es oder haben es zumindest beim Reingehen bemerkt, wir befinden uns hier im Matthias-Erzberger-Saal. Matthias Erzberger war ein Zeitgenosse Gustav Stresemanns. Er war Reichsfinanzminister, bis er 1921 von ehemaligen Freikorpsoffizieren ermordet wurde. Dieses Attentat und übrigens auch die Ermordung Walther Rathenaus führen uns eindrücklich vor Augen, welche Bedrohung demokratische Politiker in der damaligen Zeit zu vergegenwärtigen hatten, welche Ängste sie zu überwinden hatten, welchen Grad an tödlicher Anfeindung sie zu ertragen hatten. Auch Gustav Stresemann, dessen Aussöhnungspolitik ihn ja zur Hassfigur der politischen Rechten gemacht hatte, sah sich diesen Attacken ausgesetzt. Das alles konnte ihn in seinem politischen Engagement allerdings nicht stoppen. Getragen von einem klaren Ziel vor Augen, bot er allen Widrigkeiten die Stirn und sagte selbst, ich zitiere ihn: „Nur der Geist, der unverrückbar an ein fernes, schönes Ziel glaubt, vermag die Lebenskraft sich zu erhalten, die ihn über den Alltag hinweg führt.“ Stresemann stellte sich seinen Aufgaben gewissenhaft, zugleich durchaus pragmatisch und kompromissbereit – Stichwort große Koalition – folgte er seinen Überzeugungen. Auch wenn das bedeutete, gegen den Strom schwimmen zu müssen, so wäre es ja ein leichtes für Stresemann gewesen, die nationalistischen Töne aufzunehmen. Er tat es aber nicht und folgte diesem Zeitgeist ausdrücklich nicht.
Der Preis, den Stresemann für seinen unermüdlichen Einsatz zahlte, der ist hoch, ein physischer Preis, denn er starb mit nur 51 Jahren 1929 an den Folgen eines Schlaganfalls. Und damals ahnte die Nation, welch enormer Verlust damit verbunden war, denn bei seinem Trauermarsch zu seinen Ehren hier in Berlin sollen über 200.000 Menschen den größten Staatsmann der Weimarer Republik geehrt haben. Und das alles passierte gut zwei Wochen vor dem Schwarzen Freitag und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise.
Verehrte Damen, meine Herren, wir alle wissen, welchen Weg, welchen dramatischen Lauf, muss man sagen, die Deutsche Geschichte ab 1930 nahm. Und wir werden niemals erfahren, was passiert wäre, wenn Stresemann an Stelle des konservativen Hindenburg bei der Präsidentenwahl 1932 Kandidat der demokratischen Parteien geworden wäre. Eine Option, die kurz vor seinem Tod ja diskutiert worden ist. Wir wissen nicht, ob ein Gustav Stresemann hätte verhindern können, dass das politische System der Weimarer Republik vor dem Nationalsozialismus einknickt. Dennoch, wir wissen, dass es Gustav Stresemann 1923 zumindest gelungen ist, die liberale Demokratie zu stabilisieren und zu retten, wenngleich nur für einige Jahre. Neben der großen Hochachtung und Demut, die wir dem aufopferungsvollen Einsatz Gustav Stresemanns entgegenbringen, erfüllt mich, aber diese Erkenntnis und die historische Lehre zugleich auch, mit Zuversicht. Denn sie ist ein Beleg dafür, was gelingen kann durch kluges, mutiges und eben optimistisches Handeln, selbst unter großen Schwierigkeiten und einer vielleicht sogar ausweglos erscheinenden Lage.
Die heutige Situation, gottlob und trotz allem, lässt sich mit dem Jahr 1923 in keiner Weise vergleichen. Das heißt aber nicht, dass wir unser Verhalten und unsere Entscheidungen nicht auch im Lichte der Lehren aus der Geschichte reflektieren sollten. Ich wünsche mir daher, dass wir das Vermächtnis Stresemanns, diesen bedingungslosen Einsatz zur Wahrung und Sicherung der liberalen Demokratie, auch zum Leitbild unseres Handelns machen, und zwar auch bei der Inflationsbekämpfung. In seiner letzten Rede vor dem Völkerbund bekannte sich Gustav Stresemann zu dem Gedanken, dass sich jede große Idee zuerst wie eine Tollheit anmutet, um dann seine Fantasien zu einer europäischen Wirtschaftsunion und einer einheitlichen europäischen Währung freien Lauf zu machen. Und heute leben wir diese Utopie. Lassen Sie uns also ein bisschen wie Stresemann sein: Bleiben wir auch unaufhörlich optimistisch.
Vielen Dank.
MELINDA CRANE: Herzlichen Dank, lieber Herr Minister, für diese sehr inspirierenden Worte. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir bitte einen Sprachwechsel in Rücksicht auf unsere internationalen Gäste.
In Ihrer wundervollen Hommage an Gustav Stresemann ist deutlich geworden, dass er mit Mut, Engagement und Konsequenz vorangegangen ist. Er war bereit, Kurs zu halten und hat dies auch getan. Auch unsere nächste Rednerin hat diese drei Qualitäten unter Beweis gestellt, sowohl in ihrer Zeit an der Spitze des IWF während der Finanzkrise als auch als Präsidentin der EZB, welche angesichts der aktuellen Verwerfungen die Zinsen auf ein seit Einführung des Euro noch nie dagewesenes Niveau angehoben hat. Sie hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es sich um einen Marathon handelt, nicht um einen Sprint, und dass die EZB bereit ist, die Zinsen so lange auf einem hohen Niveau zu halten, bis das Inflationsziel wieder annähernd erreicht wird. Begrüßen Sie mit mir die Präsidentin der EZB, Christine Lagarde.
CHRISTINE LAGARDE: Dankeschön, merci, thank you very much! Guten Abend. Vielen Dank an Minister Lindner für die Einladung zu dieser Veranstaltung und diesem 100. Jubiläum. Ich möchte den Nachfahren von Reichskanzler Stresemann meine besondere Hochachtung aussprechen. Er war nur kurze Zeit Reichskanzler und verantwortlich für Finanzen und hat der Geschichte dennoch seinen Stempel aufgedrückt. Ich denke, auf die Geschichte zurückzublicken und Errungenschaften zu feiern, ist sehr wertvoll, da wir darin Vorbilder finden. Es inspiriert uns.
Ich habe Ihnen aufmerksam zugehört und dabei festgestellt, dass sich manche Dinge nie ändern, andere aber schon. Sein Werdegang hin zu einem derart erfolgreichen Reichskanzler und späteren Außenminister seines Landes und seine enge Beziehung zu Aristide Briand, die den beiden den Friedensnobelpreis eingebracht hat, machen sehr deutlich, dass sich manche Dinge nie ändern. Wahrscheinlich wirst du keinen Nobelpreis erhalten, auch, wenn ich es dir wünsche, aber ich weiß um deine großen Bemühungen um die deutsch-französischen Beziehungen und darum, mit dem Mythos aufzuräumen, dass unsere beiden Länder einfach nicht miteinander können. Aber andere Dinge ändern sich. Wenn Sie heute mit Ihren Kindern oder Enkeln über „Black Friday“ sprechen, dann denken Sie sicher nicht an die Krise, die wir damals erlebt haben. Passen Sie in den nächsten zwei Tagen gut auf Ihre Kreditkarte auf. Die Entwicklungen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg machen sehr deutlich, wie Preisstabilität und Demokratie zusammenhängen.
Ich möchte dabei nicht noch einmal das wunderbare Zitat aufgreifen, mit dem Christian Lindner beschrieben hat, was vor 100 Jahren geschehen ist. Ich werde den Blick eher darauf richten, was heute passiert. Ganz sicher werde ich mir kein Urteil darüber erlauben, wer Recht und wer Unrecht hatte. Das überlasse ich dem Historiker Gerald Feldman, der diese turbulenten Jahre einmal als „The Great Disorder“ beschrieben hat, und der Frage nachging, ob und in welchem Umfang die Hyperinflation der 1920er Jahre und die Deflation der 1930er Jahre zu der weiteren Entwicklung beigetragen haben. Es besteht jedoch wenig Zweifel daran, dass die großen Preisschwankungen die wirtschaftlichen Fundamente der Demokratie angegriffen haben. Die Preisinstabilität tut dies, indem sie umfangreiche Verteilungseffekte auslöst, von denen oft die Ärmsten einer Gesellschaft am stärksten betroffen sind. Wir haben z. B. bei der EZB festgestellt, dass Haushalte mit geringem Einkommen überproportional vom starken Anstieg der Inflation in den letzten 18 Monaten betroffen waren, da sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für grundlegende Bedürfnisse wie Lebensmittel und Energie aufwenden, deren Preise besonders stark gestiegen sind. Deshalb haben zentrale Notenbanken in den meisten freiheitlichen Demokratien das Mandat erhalten, die Preisstabilität zu gewährleisten.
Als EZB werden wir dabei keine Abstriche machen. Es ist unser Mandat. Deshalb haben wir in Reaktion auf die steigende Inflation die Zinsen innerhalb eines Jahres so schnell wie noch nie seit Bestehen der EZB um 450 Basispunkte angehoben. Wir werden die Inflation zeitnah auf unser mittelfristiges Zielniveau zurückführen und dabei entschlossen bleiben. Vor dem Hintergrund einer so deutlichen und schnellen Anhebung befinden wir uns jedoch an einem Punkt, an dem wir auf alle Details achten und extrem fokussiert sind. Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine. Bevor ich dies jedoch tue hoffe ich, dass allen hier in diesem Raum bewusst ist, dass die Inflation zurückgegangen ist. Ob Gesamt- oder Kerninflation und unabhängig davon, wie sich die Kerninflation zusammensetzt, sie ist deutlich zurückgegangen. Woran liegt das? Zwei Aspekte sind hauptsächlich für den Rückgang der Inflation verantwortlich. Erstens schwächen sich die Verwerfungen im Energiebereich und bei den Lieferketten, die letztes Jahr entscheidend zum Anstieg der Inflation beigetragen haben, ab. Auf dem Höhepunkt waren Energie- und Lebensmittelpreise für mehr als zwei Drittel der Gesamtinflation im Euroraum verantwortlich, obwohl sie weniger als ein Drittel des Warenkorbes ausmachen. Dies hatte, zusammen mit Unterbrechungen der Lieferketten, auch einen beträchtlichen Einfluss auf die Kerninflation, also die Inflation ohne Lebensmittel- und Energiekosten, da die Herstellungskosten für Unternehmen aller Branchen gestiegen sind. Es ist also nicht überraschend, dass wir vor dem Hintergrund sich erholender Lieferketten und sinkender Energiepreise eine gegensätzliche Entwicklung zu der vor zwei Jahren erleben. Sowohl die Gesamt- als auch die Kerninflationsraten sinken. Wir gehen jedoch davon aus, dass die Gesamtinflation in den kommenden Monaten hauptsächlich aufgrund einiger Basiseffekte wieder leicht anziehen wird. Darin spiegelt sich der spürbare Rückgang der Energiekosten gegen Ende des letzten Jahres sowie das Auslaufen einiger der haushaltspolitischen Maßnahmen wieder, die im Kampf gegen die Energiekrise eingeführt wurden. Wir gehen jedoch von einer weiteren Abschwächung des inflationären Drucks aus.
Worum geht es beim zweiten Aspekt? Beim zweiten Aspekt handelt es sich um die straffere Geldpolitik. Wir mussten die Geldpolitik deutlich straffen, um die Nachfrage dem Angebot anzupassen und die Inflationserwartungen während des starken Inflationsanstiegs zu stabilisieren. Diese Anpassungsmaßnahmen haben sich sehr schnell in den Finanzierungsbedingungen niedergeschlagen. Aber sie werden ihre volle Wirkung auf die Inflation erst mit einer Verzögerung entfalten. Angesichts des beispiellosen Umfangs und der Geschwindigkeit unsere Straffungsmaßnahmen ist nicht gänzlich abzusehen, wie stark dieser Effekt ausfallen wird. Aus diesem Grund beobachten wir sehr genau, wie sich dies auf die Wirtschaft auswirkt. Aufgrund des Umfangs unserer Maßnahmen können wir die Entwicklung nun einige Zeit beobachten. Während wir gleichzeitig auf die Details achten. Darauf komme ich noch einmal zurück.
Deshalb haben wir die Zinsen bei unserem letzten EZB-Treffen unverändert gelassen. Basierend auf unserer aktuellen Einschätzung gehen wir davon aus, dass die Zinsen der EZB auf ihrem aktuellen Niveau, sofern sie ausreichend lange beibehalten werden, einen wichtigen Beitrag zur zeitnahen Reduzierung der Inflation auf unseren mittelfristigen Zielwert leisten werden. Ist unsere Arbeit also getan? Nein, und wir sollten auch noch nicht den Sieg ausrufen. Es liegt in der Natur der Inflationsentwicklung im Euroraum, dass wir uns auch des Risikos einer anhaltenden Inflation bewusst sein sollten. Da die Lohnbildung im Euroraum über mehrere Jahre und zeitlich versetzt abläuft, wirken sich die Inflationsraten der Vergangenheit nach wie vor stark auf die aktuell verhandelten Lohnabschlüsse aus und werden dies auch bis Anfang 2024 tun. Das jährliche Lohnwachstum pro Arbeitnehmer lag z. B. im zweiten Quartal 2023 bei 5,6 Prozent und damit 1,2 Prozentpunkte über dem Durchschnitt des Jahres 2022. Zudem werden höhere Lohnabschlüsse durch einen angespannten Arbeitsmarkt und eine hohe Arbeitskräftenachfrage begünstigt, die sich angesichts einer sich seit Ende 2022 verlangsamenden Wirtschaft als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen hat. Nach unserer aktuellen Einschätzung handelt es sich bei den starken Lohnzuwächsen eher um Nachholeffekte vergangener Inflation als um eine sich selbst verstärkende Dynamik, bei der Menschen von einer steigenden Inflation ausgehen und deshalb höhere Löhne verlangen, womit wir in einen Kreislauf gerieten, den wir vermeiden wollen. Um die Lohnentwicklung zu verfolgen und bewerten zu können, ob es sich um ein Risiko für die Preisstabilität handelt, werden wir unterschiedliche Entwicklungen beobachten.
Ich möchte deshalb etwas genauer darauf eingehen, worauf wir momentan ganz besonders schauen und auch in Zukunft schauen werden. Wir beobachten, justieren und bewerten dabei viele Bereiche, wobei ich besonders auf den Bereich der Löhne und Gehälter eingehen möchte. Wir werden sehr genau beobachten, ob Unternehmen und Konzerne, unabhängig von ihrer Größe, steigende Löhne in ihren Gewinnmargen auffangen, wodurch ein Teil der Reallohnverluste der Vergangenheit wieder ausgeglichen werden könnte, ohne dass der Anstieg unmittelbar auf die Inflation durchschlagen würde. Zweitens werden wir beobachten, ob sich die Arbeitsmärkte entspannen, wodurch verhindert würde, dass eine zu hohe Arbeitskräftenachfrage zu dauerhaft hohen Lohnforderungen führt. Dabei handelt es sich um einen sehr uneinheitlichen Effekt, bei dem wir uns jeden einzelnen Mitgliedsstaat des Euroraums und die durchschnittlichen Zahlen sowie die Gesamtzahlen anschauen. Und drittens werden wir die Inflationserwartungen beobachten und ihre Stabilisierung gewährleisten, damit sich, sobald die aktuellen Verwerfungen hinter uns liegen, die Lohn- und Preisentwicklung an unserem Inflationsziel von 2 Prozent orientiert. Mit anderen Worten: Wir werden so lange wachsam sein müssen, bis wir schlüssige Anzeichen für ein Umfeld erkennen, in dem die Inflation auch langfristig zu unserem Zielwert zurückkehrt.
Deshalb haben wir deutlich gemacht, dass wir auch bei zukünftigen Entscheidungen sicherstellen werden, dass unsere Zinsraten so lange wie nötig ein entsprechend restriktives Niveau beibehalten. Zudem werden sich zukünftige Entscheidungen an der Entwicklung orientieren, sodass wir erneut einschreiten können, sollte sich ein Verfehlen unseres Inflationsziels abzeichnen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass wir einen großen Inflationsschock erlebt und daraufhin eine umfassende politische Anpassung vorgenommen haben. Die Auswirkungen dieser Anpassungen werden immer stärker spürbar und der inflationäre Druck nimmt ab. Aber die Reise ist noch nicht zu Ende, wir müssen noch ins Ziel kommen. Hermann Hesse hat einmal gesagt, dass zu den besten Waffen gegen die Schandtaten des Lebens Mut und Charakter gehören. Ich hoffe, dass wir im Kampf gegen den Inflationsanstieg Charakter und vielleicht auch etwas Mut bewiesen haben. Unsere Geldpolitik befindet sich nun in einer Phase, in der wir die verschiedenen Kräfte, die sich auf die Inflation auswirken, aufmerksam beobachten und uns dabei immer auf unser Mandat, die Preisstabilität, besinnen müssen. Vielen Dank.
MELINDA CRANE: Haben Sie vielen, vielen Dank, Christine Lagarde, für diese Ausführungen. Bitte, nehmen Sie Platz. Ich möchte nun auch Bundesminister Lindner zu uns auf die Bühne bitten. Bitte, nehmen Sie dort Platz.
Wir wollen uns nun einigen der Themen, die Sie beide angesprochen haben, näher widmen. Lassen Sie uns mit dem Kampf gegen die Inflation und der Frage beginnen, ob wir dabei sind, diesen zu gewinnen. Lieber Herr Minister, Sie saßen vor etwa einem Monat in Marrakesch auf einer Bühne, neben Ihnen Bundesbankpräsident Nagel, der bei dieser Gelegenheit, der Jahrestagung des IWF und der Weltbank, sagte, die Inflation habe ihren Höchststand erreicht. Sie würde nun sinken. Und dass Deutschland nicht länger der kranke Mann Europas sei. Sind Sie sich sicher, dass er Recht hat?
CHRISTIAN LINDNER: Wir waren nie der kranke Mann Europas. Wir haben strukturelle Stärken, müssen aber auch unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Es sind einige strukturelle Reformen nötig, an denen wir arbeiten. Wir konzentrieren uns bei unserer Politik auf die Angebotsseite. Wir investieren z. B. auf dem Arbeits- und Energiemarkt in einem Umfang, den wir in Deutschland seit vielen Jahren, seit der Wiedervereinigung, nicht mehr gesehen haben. Wir sind also nicht der kranke Mann Europas, aber es gibt einige Herausforderungen. Im Kampf gegen die Inflation haben wir, denke ich, einige Fortschritte gemacht. Nur wenige haben einen derartigen Rückgang in so kurzer Zeit erwartet. Für viele Experten ist diese Entwicklung eine Überraschung und ich bin der Meinung, dass dies hauptsächlich auf unsere restriktive beziehungsweise moderat restriktive Finanzpolitik zurückzuführen ist. Unser Defizit liegt dieses Jahr bei 2,5 Prozent. Erwartet waren 4,25 Prozent. Der Sachverständigenrat geht für kommendes Jahr von 1,5 Prozent aus. Zudem reduziert sich unsere Schuldenquote.
Zweitens haben wir denke ich bei den Maßnahmen gute Entscheidungen getroffen, um z. B. die Lohn-Preis-Spirale zu verhindern, die Christine erwähnt hat. Zudem möchte ich an unsere Inflationsprämie erinnern, eine steuerfreie Einmalzahlung in Höhe von 3.000 Euro. Die Gewerkschaften und Arbeitgeber haben diese Maßnahme genutzt. Das hat denke ich zu gewisser Zurückhaltung bei der Lohnentwicklung geführt, und ich könnte dazu noch viel sagen. Ich denke, dass wir gute politische Entscheidungen getroffen haben und wir nun die Herausforderung meistern müssen, dieser Linie treu zu bleiben, unsere Haushaltsdisziplin zu wahren und uns auf die Angebotsseite zu konzentrieren. Und auch, wenn die Zahlen nun wieder etwas besser aussehen, dürfen wir nicht nachlassen, nur weil man mehr Applaus bekommt, wenn man neue Maßnahmen oder Subventionen auf der Nachfrageseite bekannt gibt. Ich denke, wir müssen dieser Linie für mindestens ein bis zwei Jahre treu bleiben.
MELINDA CRANE: Vielen Dank. Präsidentin Lagarde, gestatten Sie mir, mit einer etwas persönlichen Frage zu beginnen. Sie haben über die Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit dem Disinflationspfad gesprochen, über Verzögerungen bei der Transmission, aber natürlich gibt es vieles mehr. Unvorhergesehene Schocks, zum Beispiel. Und ich frage mich, wie Sie damit umgehen. Was hilft Ihnen, nachts ruhig zu schlafen?
CHRISTINE LAGARDE: Wissen Sie, manchmal ist es sehr hilfreich, mit beiden Beinen im Leben zu stehen oder sich mit Menschen zu umgeben, die einen erden. Und ich muss gestehen, dass ich mindestens einmal die Woche
im Supermarkt einkaufen gehe, nicht dass ich mir jedes einzelne Preisschild anschaue, aber um die Reaktion der Bürgerinnen und Bürger zu verstehen, um zu verstehen, wie schmerzhaft es ist, wie es besser wird. Das ist mir wichtig. Mit meinem Einkaufswagen genau die gleiche Erfahrung zu machen, ist vermutlich ein Weg, um geerdet zu bleiben. Und ich habe Kinder und Enkelkinder, die mir ebenfalls dabei helfen. Das hilft mir also, mit der Ungewissheit umzugehen. Dies sind aber natürlich nur Anekdoten. Doch im Ernst, ich habe das Glück mit einem Team von Ökonominnen und Ökonomen, von Expertinnen und Experten zusammenzuarbeiten, die sich bemühen, möglichst viele Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen.
Die Art und Weise, wie wir die sogenannte „Reaktionsfunktion“ gestalten, d. h. die Art und Weise wie wir unseren geldpolitischen Kurs angesichts der Entwicklungen in der Realität festlegen, ist genau darauf ausgerichtet, mit Unsicherheiten umzugehen. Wir haben es also nicht mit einem einzigen Paket von Maßnahmen oder Instrumenten zu tun. Wir stützen uns nicht ausschließlich auf Modelle und wir beobachten die Inflationsaussichten. Wir beobachten die Kerninflation. Wir beobachten die Transmission. Meines Erachtens lassen sich die zahlreichen Unsicherheiten wohl am besten in den Griff bekommen, indem wir auf möglichst vielfältige Weise messen, wie sich die Lage entwickelt und wie wirksam unsere Maßnahmen sind. Die Unsicherheiten bestehen nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer und geopolitischer Hinsicht. Abgesehen von der Demografie, die recht vorhersehbar ist, ist der Rest derzeit mit großen Unsicherheiten behaftet.
MELINDA CRANE: Ich würde Sie gerne zu einigen dieser Risiken befragen. Bei der letzten Zinserhöhung der EZB Mitte September haben Sie eingeräumt, dass die Risiken für das Wirtschaftswachstum „abwärtsgerichtet“ sind. Wie viel Sorge bereiten Ihnen die negativen Auswirkungen der Disinflation? Sie haben die bestehenden Arbeitsmarktrisiken angesprochen. Doch was ist mit dem Schuldenabbau der Unternehmen und Insolvenzen, mit der Möglichkeit eines Bankzusammenbruchs und strauchelnden Immobilienmärkten? Es gibt etliche dunkle Wolken, die am Horizont aufziehen könnten.
CHRISTINE LAGARDE: Schauen Sie, unser Auftrag, unser Mandat besteht darin, die Preisstabilität wiederherzustellen und die Inflation auf das mittelfristige Ziel von 2 Prozent zurückzuführen, das wir im Einklang mit dem Vertrag als unser strategisches Ziel festgelegt haben. Wir haben keine andere Wahl, als dieses Mandat zu erfüllen. Wenn ich die Auswirkungen auf die Wirtschaft betrachte, die Dämpfung der Nachfrage, die Neujustierung zwischen Angebot und Nachfrage, dann muss ich auch das alternative Szenario im Blick haben. Was wären die Folgen, würden wir es nicht machen? Erstens würden wir unser Mandat nicht erfüllen. Zweitens wären die Auswirkungen auf die Wirtschaft viel schlimmer. Wir haben eigentlich keine andere Wahl. Mut macht mir zudem die Situation im Finanzsektor, insbesondere im Bankensektor. Wissen Sie, ich war in den Jahren 2007 und 2008 Finanzministerin und wir haben heute eine andere Situation. Wenn ich die Widerstandsfähigkeit des Bankensektors betrachte, seine Kapitalausstattung, den Liquiditätszugang und den Umgang der Banken mit notleidenden Krediten, glaube ich, dass wir einen deutlich stärkeren Bankensektor haben. Wir haben einen Nichtbanken-Finanzsektor, das ist natürlich eine ganz andere Geschichte, der in geringerem Maß reguliert und überwacht wird. Das gilt es meines Erachtens anzugehen. Aber ich glaube im Hinblick auf die Finanzstabilität, übrigens wird unser Bericht heute veröffentlicht und in ihm werden z. B. Gewerbeimmobilien als ein risikoanfälliger Bereich aufgeführt, ist der Finanzsektor im Bankenbereich im Großen und Ganzen deutlich widerstandsfähiger.
MELINDA CRANE: Vielen Dank. Bitte.
CHRISTIAN LINDNER: Ich stehe voll und ganz hinter dem, was Christine gesagt hat, und ich begrüße sehr, dass die EZB sich auf ihr Kernmandat, die Preisstabilität, konzentriert. Uns als Politik stellt das jedoch vor Herausforderungen. Einerseits leiden die Unternehmen unter den höheren Zinssätzen. Ich denke z. B. an die Bau- und Immobilienbranche in Deutschland. Unsere Antwort als Politik sollte daher darauf abzielen, eine weitere bürokratische und steuerliche Belastung dieser Unternehmen zu vermeiden, da sie von geldpolitischer Seite bereits unter Druck stehen. Wir dürfen sie nicht durch noch mehr Bürokratie zusätzlich belasten.
Andererseits hat die straffere Geldpolitik die Lage für den öffentlichen Sektor durch die höheren Zinssätze völlig verändert. Mir bereitet die globale Schuldentragfähigkeit wirklich Sorgen. Zudem gibt es Verschuldungsprobleme, z. B. in afrikanischen Staaten. Wir haben gerade gestern die Mitgliedstaaten des „Compact with Africa“ hier in Berlin empfangen. Wir müssen daher die Nebeneffekte für gewisse Länder, insbesondere Niedrigeinkommensländer, und die Probleme für die globale Finanzstabilität im Blick haben. Und damit sind wir wieder bei soliden öffentlichen Finanzen.
Uns muss klar sein, dass sich die Schuldentragfähigkeit heute völlig von der Situation unterscheidet, die wir vor einigen Jahren erlebt haben. Sie haben eingangs ein Zitat von mir von der IWF-Tagung erwähnt. Als ich letztes Jahr das erste Mal an den IWF-Tagungen teilgenommen habe, ging es vor allem darum, wie wir zusätzliche Finanzmittel für Investitionen in die Transformation, die grüne Transformation, die digitale Transformation usw. beschaffen können. Inzwischen hat sich die Diskussion verändert. Natürlich ist es wichtig, die Transformation zu finanzieren, Armut zu bekämpfen und Wachstum zu fördern. Natürlich, natürlich, natürlich. Aber das Problem der Schuldentragfähigkeit steht nun im Mittelpunkt der Diskussion. Meines Erachtens zeigt uns das, dass wir die internationale Finanzarchitektur stärken, die Kreditgeber an ihre Verantwortung gegenüber Niedrigeinkommensländern erinnern und natürlich fiskalische Puffer auf nationaler Ebene wiederaufbauen müssen.
MELINDA CRANE: Lassen Sie uns einige dieser von Ihnen erwähnten Punkte aufgreifen. Ich würde zunächst gerne in eine etwas andere Richtung gehen und über den Zusammenhang zwischen Finanz- und Geldpolitik sprechen – ein Thema, das Sie seit Ihrer Zeit beim IWF begleitet, Frau Lagarde. In einer beachtenswerten Rede – meines Erachtens bei der Frühjahrstagung diesen April – zu politischen Rahmenbedingungen für eine fragmentierte Welt, wie Sie es nannten, haben Sie gesagt, dass die geopolitischen Spaltungen einen stärkeren finanz- und geldpolitischen Zusammenhalt hier in Europa erforderlich machen, nicht zuletzt, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. Welche finanzpolitischen Prioritäten sollten aus Ihrer Sicht in der aktuellen Lage gesetzt werden?
CHRISTINE LAGARDE: Zunächst würde ich anmerken, dass Finanz- und Geldpolitik während der Krise Hand in Hand gearbeitet haben, sei es während der Coronakrise oder der Energiekrise. Sie haben sich gegenseitig ergänzt und das untergräbt nicht die Unabhängigkeit der Zentralbank und der einzelnen nationalen Zentralbanken im Euro-Währungsgebiet, die das Eurosystem bilden. Wissen Sie, schauen wir uns unseren gegenwärtigen Zustand an, nachdem wir die Coronakrise bewältigt und dem Schreckensszenario entkommen sind, das erst letztes Jahr für Europa vorhergesagt wurde. Erinnern Sie sich? Die Gaslieferungen kamen zum Erliegen. Es wurden Engpässe bei allem vorhergesagt, es wurde eine völlige Katastrophe erwartet. Nun, Europa hat sich als unheimlich resilient erwiesen und hat es tatsächlich geschafft, die Lieferketten umzustrukturieren, die Quellen umzustellen und unseren Energiemix zu verbessern.
Nachdem das nun hinter uns liegt und wir unsere vereinte Kraft unter Beweis gestellt haben, müssen wir natürlich weiterhin zusammenarbeiten, aber auf andere Weise. Ich möchte mich gar nicht allzu sehr zur Finanzpolitik äußern, da das nicht meine Aufgabe ist. Ich muss mich auf die Geldpolitik konzentrieren, aber ich hoffe, dass die von den Europäerinnen und Europäern beschlossene Finanzpolitik im Rahmen einer europäischen finanzpolitischen Steuerung beschlossen wird. Und ich hoffe, dass Frankreich und Deutschland das vorantreiben können. Außerdem hoffe ich, dass die beschlossene Finanzpolitik dazu beitragen wird, Europa wettbewerbsfähiger, effizienter und produktiver zu machen und dass Investitionen auch in diesem Sinne gelenkt werden. Denn für meine Geldpolitik, für unsere Geldpolitik, denn sie gehört uns allen, ist es ein Problem, wenn wir nicht wissen, wie die Finanzministerinnen und Finanzminister finanzpolitisch agieren werden. Ich muss verstehen, wie und innerhalb welchen europäischen Rahmens sie operieren, welchen Zeitplan sie verfolgen und wie viel Zeit ihnen zur Verfügung steht für die Wiederherstellung der öffentlichen Finanzen und um sicherzustellen, dass sich ihre Schulden in die richtige Richtung entwickeln.
Ebenso muss der finanzpolitische Spielraum genutzt werden, um uns resilienter und wettbewerbsfähiger zu machen mit einem Politikmix, Verzeihung, mit einem Energiemix, der uns nicht abhängiger, sondern unabhängiger macht. Wie Sie wissen, habe ich eine Kapitalmarktunion gefordert, weil dem Investitionsbedarf damit meines Erachtens nicht nur aus finanzpolitischer Sicht, sondern insgesamt betrachtet, angemessen Rechnung getragen wird.
MELINDA CRANE: Ich möchte auf die Kapitalmarktunion später zurückkommen, vielleicht am Ende unserer Diskussion. Herr Minister Lindner, gestatten Sie mir die Feststellung, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts es Ihnen nicht leichter gemacht hat, Teile des dringenden Investitionsbedarfs zu decken. Investitionen, die in der Tat zur Förderung der deutschen und europäischen Wettbewerbsfähigkeit beitragen würden. Noch ist es dadurch leichter geworden, das Leid der schwächeren Gesellschaftsgruppen abzumildern, die womöglich nicht nur unter den Folgen der Inflation, sondern auch unter den Folgen der Disinflation leiden werden. Abermals wird nun darüber diskutiert, ob wir Sondervermögen brauchen, auf die die Schuldenbremse nicht anwendbar ist. Wie sehen Sie das? Ich weiß, dass hier derzeit viel in Bewegung ist, aber wie beurteilen Sie das?
CHRISTIAN LINDNER: Im Vergleich zu den USA gibt es in Europa insgesamt keinen Mangel an öffentlichen Mitteln. Vergleicht man „Next Generation EU“ mit dem „Inflation Reduction Act“ zeigt sich, dass in ganz Europa viel Geld auf dem Tisch liegt. Ich frage mich, ob alle Mitgliedstaaten in der Lage sind, die Beträge an öffentlichen Mitteln zu absorbieren, die wir Ihnen zur Verfügung stellen können. Aus meiner Sicht bestehen diesbezüglich Zweifel. Wenn ich an die Wettbewerbsnachteile Europas denke, betreffen sie die Kapitalmarktunion, die Verfügbarkeit von privaten Mitteln zur Finanzierung von innovativen Unternehmen und Unternehmenswachstum. In dieser Hinsicht macht die deutsch-französische Zusammenarbeit Fortschritte. Mein französischer Kollege und ich haben einen Fahrplan für die Kapitalmarktunion vorgestellt, den wir, so hoffe ich, sehr bald umsetzen können. Auch im Hinblick auf die Fiskalregeln machen wir Fortschritte, aber die Lage hat sich verändert. Wie bereits erwähnt, geht es angesichts höherer Zinssätze und der von uns für die Bedienung alter Schulden benötigten Mittel, nicht nur darum, Möglichkeiten zur Finanzierung neuer Investitionen zu finden, sondern auch darum, die finanzpolitische Stabilität in ganz Europa zu wahren.
Schauen Sie sich die Zinssätze und Spreads an, die viele Mitgliedstaaten zahlen müssen. Aus meiner Sicht ist eine Rückkehr zu soliden öffentlichen Finanzen, geringeren Defiziten und einem zuverlässigen Pfad zur Reduzierung der Schuldenquote erforderlich. Dies sollte im Mittelpunkt der neuen Fiskalregeln im Rahmen der „Economic Governance Review“ stehen. Sie haben die Entscheidung unseres Bundesverfassungsgerichts erwähnt. Nun, wir werden Möglichkeiten finden, um die Transformation unserer Wirtschaft zu unterstützen. Der Jahreshaushalt hat ein Volumen von 450 Milliarden Euro pro Jahr. Wir können ihn umstrukturieren und neue Prioritäten beschließen. Aber die Bedeutung der Angebotsseite unserer Wirtschaft rückt nun in den Vordergrund, weil wir uns nicht alle Subventionen leisten können. Und weil wir uns nicht alle Subventionen leisten können, abgesehen davon können wir uns keinen Subventionswettlauf mit den USA leisten, müssen wir die Verbesserung der Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen und die Industrie ins Auge fassen. Man kann ihnen finanzielle Mittel zur Verfügung stellen oder den bürokratischen Aufwand verringern, man kann Anreize für private Investitionen schaffen oder mit Steuergeldern zahlen. Ob vor oder nach dem Gerichtsurteil, ich bleibe ein Befürworter der sozialen Marktwirtschaft.
MELINDA CRANE: Vielen Dank. Bevor wir zur Kapitalmarktunion kommen – und wir werden dazu kommen, versprochen – aber nur kurz, wenn es Ihnen nichts ausmacht: Wenn wir an die riesigen Transformationsprojekte denken, die in ganz Europa anstehen, und an die Digitalisierung, nicht einfach nur die grüne Transformation, sondern tatsächlich auch an den Verteidigungssektor, dann kommt eine restriktivere Geldpolitik zu einer Zeit, in der dieser Investitionsbedarf wahrscheinlich so hoch ist wie seit Langem nicht mehr, Christine Lagarde. Und Isabel Schnabel von der EZB wies kürzlich darauf hin, dass Zinsänderungen nicht neutral sind und nicht symmetrisch zwischen den Wirtschaftssektoren verlaufen, sondern im Gegenteil diejenigen Sektoren unverhältnismäßig stark belasten können, in denen Vorabinvestitionen besonders wichtig sind. Dazu zählen auch die grüne Infrastruktur und die Tech-Branche. Sind Sie besorgt, dass höhere Zinsen die Dekarbonisierung verlangsamen könnten?
CHRISTINE LAGARDE: Zunächst einmal haben Sie Recht, wenn Sie auf zwei massive Investitionsbedarfe hinweisen. Und wenn wir uns beispielsweise die Zahlen der Kommission anschauen, dann wissen wir, dass zusätzlich zu allem, was bereits geplant ist, bis 2030 jährlich weitere 625 Milliarden Euro benötigt werden, wenn wir die von den Regierungen in Europa beschlossene und vom Parlament abgesegnete grüne Transformation vollziehen wollen. Und das ist nur für die grüne Transformation. Wenn wir die digitale Transformation dazuzählen, sprechen wir von weiteren 125 Milliarden Euro. Das sind also gewaltige Investitionen. Sind sie sehr kapitalintensiv? Viele von ihnen, ja. Sind dafür beträchtliche Mittel erforderlich? Ja. Aber sie erfordern ebenfalls eine langfristige Sichtbarkeit, denn diese Projekte, insbesondere im Bereich der grünen Transformation, sind Projekte, die im Vergleich zu traditionellen Investitionsprogrammen erst später, sehr viel später, eine Rendite bringen.
Wenn die Investoren also unsicher sind oder Zweifel an der Preisstabilität haben, wenn sie vermuten, dass die Inflation wieder ansteigen könnte und dass die zuständige Zentralbank selbstgefällig ist und dies zulässt, dann wird aus meiner Sicht ihre Investitionsbereitschaft nachlassen. Ich glaube also, dass Preisstabilität und angemessen auf den Zielwert ausgerichtete Inflationserwartungen tatsächlich zu mehr Sicherheit und Verlässlichkeit bei denjenigen führen, die ihr Geld dort anlegen, wo die Projekte eine Rendite abwerfen werden, wenn auch auf längere Sicht als üblich.
MELINDA CRANE: Vielen Dank.
CHRISTIAN LINDNER: Ich würde gern einen Aspekt ergänzen. Ich bin voll und ganz für die grüne Transformation und ihre Finanzierung. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich steht die gesamte Menschheit vor der Herausforderung, den Klimawandel zu bekämpfen und die Erderwärmung einzudämmen. Doch nicht alle Investitionen in die grüne Transformation wirken sich positiv auf das Potenzialwachstum aus. Investitionen in die grüne Transformation könnten also der Schuldentragfähigkeit schaden. Deshalb setze ich mich für eine Finanzierung der grünen Transformation im Einklang mit der Schuldenbremse unseres Grundgesetzes und den europäischen Fiskalregeln ein. Das heißt, wir müssen einen Mittelweg zwischen der Finanzierung der grünen Transformation auf der einen Seite und der Aufrechterhaltung der Schuldentragfähigkeit auf der anderen Seite finden. Dies wird aus meiner Sicht bisweilen in den Debatten vergessen.
MELINDA CRANE: Vielen Dank. So, lassen Sie uns als letztes noch ganz kurz über die Kapitalmarktunion sprechen. Und ich möchte dies mit dem Thema des heutigen Abends verknüpfen, nämlich der Bekämpfung der Hyperinflation vor 100 Jahren. Denn interessanterweise waren die Währungsreform und die Haushaltskonsolidierung in Deutschland nicht zuletzt deshalb erfolgreich, weil sie den Weg für einen massiven Zustrom von amerikanischem, auch britischem, aber vor allem amerikanischem Kapital ebneten. Und deshalb möchte ich das gerne mit dem leidenschaftlichen Plädoyer verbinden, das Sie letzten Freitag in meiner Anwesenheit auf dem Europäischen Bankenkongress gehalten haben, als Sie sagten, dass wir angesichts des Investitionsbedarfs, dem wir gegenüberstehen, mit der Kapitalmarktunion vorankommen müssen. Wie? Was sind die wichtigsten konkreten Schritte, die wir jetzt unternehmen müssen und können? Diese Frage geht an Sie beide. Frau Lagarde, Sie zuerst.
CHRISTINE LAGARDE: Mit dem Mikro geht es besser. Diese beiden von Hermann Hesse genannten Eigenschaften, Mut und Entschlossenheit, werden meiner Meinung nach von Führungskräften erwartet, die immer wieder Druck machen müssen, weil es an vielen Ecken und Enden persönliche Interessen gibt. Und ich habe eine europäische Börsenaufsicht nach dem Vorbild der US-amerikanischen SEC gefordert, also Europäisch und mit Zuständigkeiten über alle derzeitigen europäischen Kapitalmärkte – im Plural. Ich denke, die Kapitalmarktunion dürfte für eine stärkere und bessere Einheit sorgen. Dann gibt es noch viele technische und praktische Detailfragen und es besteht die Gefahr, dass wir uns in diesen vielen Detailfragen verlieren. Die konsolidierte Herangehensweise wäre eine Frage. Der einheitliche Zugangspunkt wäre eine andere. Eine hinreichende Mindestharmonisierung der Insolvenzregelungen, die mit Sicherheit unterschiedlich bleiben werden. Aber zumindest die Rangordnung der Gläubiger wird hoffentlich harmonisiert werden, damit die Menschen, wenn sie investieren und ihr Geld beispielsweise in ein Unternehmen stecken, das Aktien ausgibt, wissen, ob und in welcher Reihenfolge sie leer ausgehen.
Viele technische Details müssen zunächst umgesetzt werden, damit es dazu kommt. Aber wenn wir das nicht schaffen, werden wir dem finanzpolitischen Spielraum, der nachhaltigen Verschuldung, den Ersparnissen, die aus anderen Teilen der Welt nach Europa gelenkt werden, ausgeliefert sein, und wenn ja, warum? Ich fordere also eine bewusste Veränderung und ich denke, dass es notwendig ist, sich tatsächlich in diese Richtung zu bewegen. Das ist nicht die einzige Lösung für unsere Probleme, denn ich denke, dass wir insbesondere im Energiebereich Schwachstellen haben, die es beispielsweise in den Vereinigten Staaten nicht gibt, und die wir angehen müssen, aber dafür brauchen wir Kapital, und die Kapitalmarktunion kann dabei helfen.
MELINDA CRANE: Vielen Dank. Herr Minister.
CHRISTIAN LINDNER: Ich stimme dem voll und ganz zu und würde noch den „Listing Act“ ergänzen. Unternehmen brauchen einen schnelleren und weniger bürokratischen Zugang zu den Aktienmärkten. Ich würde noch angemessene regulatorische Vorgaben für Marktteilnehmer hinzufügen. Wir sollten es nicht übertreiben. Und natürlich muss auch der Markt für Verbriefungen wiederbelebt werden. Ich denke, wir haben nach der letzten großen Finanzkrise vor zehn Jahren einige Fehler gemacht. Die Subprime-Krise kam aus den USA nach Europa und der europäische Markt für Verbriefungen ist seither fast zum Erliegen gekommen. Damit fehlt uns ein nützliches Instrument, um die Fähigkeit der Banken zur Finanzierung von Unternehmen zu verbessern. Wir müssen ihn also auf vernünftige und verantwortungsvolle Weise wiederbeleben, aber wir müssen ihn wiederbeleben.
MELINDA CRANE: Vielen Dank. Leider werden wir es dabei belassen müssen. Aber das Plädoyer für die Kapitalmarktunion hat etwas von dem Optimismus, den Sie von uns allen gefordert haben. Dann lassen Sie uns an die Arbeit gehen.
CHRISTINE LAGARDE: Ich denke, ein weiterer Grund, optimistisch zu sein und es auch zu bleiben, ist, dass die Banken selbst ein Interesse an der Entwicklung dieser Kapitalmarktunion haben sollten. Die Verbriefung, die Christian genannt hat, ist ein Grund. Wenn jedoch anderswo genügend Kapital zur Verfügung steht, gewinnen sie etwas Spielraum zurück, um das Geschäft fortzusetzen, in dem sie gut sind, nämlich die Kreditvergabe, die Geschäftsbeziehungen und das sorgfältige Risikomanagement.
MELINDA CRANE: Und genau das haben wir von den französischen und deutschen Banken gehört, die am vergangenen Freitag auf dem Kongress waren. Vielen, vielen Dank an Sie beide für diese sehr anregende Diskussion.
Wir werden direkt mit Einblicken aus Sri Lanka fortfahren. Das Land kämpft seit anderthalb Jahren darum, eine Wirtschaftskrise einzudämmen, die die Preise für Lebensmittel und Kraftstoff in die Höhe getrieben hat und Millionen von Familien von Armut und Hunger bedroht. Im September 2022 erreichte die Inflation in Sri Lanka mit 67,4 Prozent ihren Höchststand. Im Juli dieses Jahres war sie auf weniger als ein Zehntel davon gesunken. Wie sie das geschafft haben und was noch zu tun ist, hören wir jetzt vom Gouverneur der Zentralbank von Sri Lanka. Ein Wirtschaftswissenschaftler und langjähriger Angehöriger der Zentralbank, der außerdem als Stellvertretender Exekutivdirektor für Indien, Sri Lanka, Bangladesch und Bhutan beim IWF tätig war. Bitte begrüßen Sie gemeinsam mit mir P. Nandalal Weerasinghe. Sie haben das Wort.
P. NANDALAL WEERASINGHE: Guten Abend. Zunächst möchte ich Herrn Finanzminister Lindner und Frau Christine Lagarde danken. Es ist mir eine Ehre, hier teilzunehmen und meine Erfahrungen aus Sri Lanka mit Ihnen zu teilen. Ich werde mich sehr kurz fassen. Ich wurde gebeten, nur 10 Minuten zu sprechen. Ich werde nur 10 Minuten benötigen. Vielen Dank.
Ich möchte mit der Inflationserfahrung in Sri Lanka beginnen. Sie sehen hier, dass Sri Lanka nicht zu den Ländern mit einer Inflation von rund 2 Prozent beziehungsweise einer niedrigen Inflation gehörte. Wir betrachten hier den Zeitraum von den späten 1980er Jahren bis 2009. In dieser Zeit war die Inflation, wie Sie sehen, sehr volatil, und lag zudem im Durchschnitt bei rund 12 Prozent, was keine niedrige Inflationsrate ist, eher eine recht hohe Inflation, aber keine Hyperinflation. Danach sehen Sie eine Periode mit einer relativ niedrigen durchschnittlichen Inflation von 5 Prozent. Zwischen 2009 und Ende 2021, 12 Jahre lang, hatten wir eine niedrige Inflation, bevor das Land von der Krise getroffen wurde. Hier beginnt, wie Sie wissen müssen, eine andere Strategie der Inflationssteuerung.
Im Prinzip unterlag die Geldpolitik früher einer fiskalischen Dominanz, was sich auf die hohe, volatile Inflation ausgewirkt hat, und später, mit der Umsetzung der informellen Strategie der flexiblen Inflationssteuerung als Geldpolitik konnten wir eine Absenkung auf eine relativ stabile Inflationsrate erzielen. In aufstrebenden Marktwirtschaften, in Niedrigeinkommensländern, wie z. B. in Sri Lanka, hat eine Inflationsrate von 5 Prozent die richtige Höhe. Dieser Strategie lag jedoch kein ordentlicher Rechtsrahmen zugrunde, mit dem die Zentralbank diese flexible Inflationssteuerungsstrategie hätte umsetzen können, die als eine der besseren geldpolitischen Strategien gilt. Und aus diesem Grund hatten wir nicht das rechtliche Mandat, diese Strategie fortzuführen. Ende 2020 beziehungsweise 2020/2021 schlug die Zentralbank einen anderen geldpolitischen Pfad ein. Die Strategie des flexiblen Inflationsziels wurde ad acta gelegt und zur neuen Überzeugung wurde, was als „die frühen 1920er Jahre in Deutschland“ bezeichnet wurde.
Mit dieser neuen geldpolitischen Theorie galt im Prinzip, dass Geld, egal wie viel Geld die Zentralbank drucken würde, keine Inflation verursachen würde. Dies war für kurze Zeit die Überzeugung des Vorstands der Zentralbank. Nun, das Ergebnis können Sie natürlich sehen: eine Inflation von 70 Prozent im September 2022. Und dann sehen Sie deutlich die entgegengesetzte Entwicklung. Die Inflation wurde eingedämmt und innerhalb von 12 Monaten, zwischen Ende September 2022 und Ende September 2023, auf 1 Prozent gesenkt. Sie blieb bei 1 Prozent in den letzten Monaten. Das ist also die Erfahrung, die Sri Lanka mit der Inflation gemacht hat, und von der wir lernen können.
Wie ich bereits sagte, haben wir hier den klassischen Fall der fiskalischen Dominanz und auch das Problem der Zwillingsdefizithypothese. Wer sich näher mit dieser Hypothese befassen möchte, kann sich Sri Lanka anschauen. Wie Sie hier sehen, korrelieren Leistungsbilanzdefizit und Haushaltsdefizit stark, was der Hauptgrund für eine so hohe Inflation in Sri Lanka und die instabilen makroökonomischen Ungleichgewichte ist. Sri Lanka ist tatsächlich eines der Länder, Christine weiß das, die 17 Mal beim IWF ein Hilfspaket beantragten. 16 Mal mussten wir beim IWF wegen einer Zahlungsbilanzkrise um ein Hilfspaket ersuchen. Dieses Mal, dem 17. Mal, wegen einer Zahlungsbilanzkrise nebst zusätzlicher Schuldenkrise. Während meiner Zeit im Exekutivdirektorium des IWF, Christine war damals geschäftsführende Direktorin, hatten wir eines der erfolgreichen Programme. Aber dann machten wir Rückschritte, zwei Schritte vor und einen zurück, auf Fortschritte folgten stets Rückschritte bei der makroökonomischen Stabilität. So weit, so gut.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen einige Abbildungen zur Schuldenkrise zeigen. Es handelt sich um eine Staatsschuldenkrise. Wie Sie sehen, waren die gesamtstaatlichen Schulden in Sri Lanka immer sehr volatil und überschritten 100 Prozent. Auch vor kurzem, im Jahr 2022, stieg allein die Verschuldung des Zentralstaats auf 113 Prozent. Schaut man auf den öffentlichen Sektor, dann erreichte die Verschuldung 138 Prozent, was die Schuldenkrise, zusammen mit der Subprime-Krise, auslöste. Ein weiterer wichtiger Auslöser war, dass es, wie Sie sich vielleicht erinnern, nach 2007/2008 ein Liquiditätsproblem in den globalen Märkten gab. Sri Lanka hatte Zugang zu den Kapitalmärkten und hier sehen Sie den Anteil der kommerziellen Verbindlichkeiten im Vergleich zu den konzessionären Verbindlichkeiten bei einem einkommensschwachen Land. Nach 2007 begann Sri Lanka, auf den Kapitalmärkten Kredite zu Marktkonditionen und sehr hohen Zinssätzen aufzunehmen. Ich mache niemandem Vorhaltungen wegen der Aufnahme von Schulden. Aber diese Mittel zur Finanzierung von Haushaltsdefiziten, zur Zahlung von Löhnen, Gehältern und Renten zu verwenden ... ab diesem Punkt war es nicht mehr tragfähig.
Herr Minister, genau das ist der Punkt, dies ist äußerst wichtig, das ist eine Lektion, die wir gelernt haben. Wie Sie sehen, stiegen die kommerziellen Verbindlichkeiten von 5 Prozent in den Jahren 2008/2009 beständig bis auf 50 Prozent zu Krisenbeginn. So entstand die Schuldenkrise. Und hinzu kam eine Zahlungsbilanzkrise. In der Vergangenheit hatte Sri Lanka Zugang zu den Kapitalmärkten und es wurde etwas geschaffen, das wir als Finanzierungsmodell bezeichneten. Es gab hohe Fehlbeträge im Staatshaushalt und da wir weiterhin Marktzugang hatten, wurden an den Märkten Schulden aufgenommen, um die Auslandsschulden zu bedienen. Aber nach der Covid-19-Pandemie wurde deutlich, Sie sehen es hier anhand der roten Balken, dass die Schuldendienstzahlungen in den nächsten 5 Jahren bei 6 Milliarden US-Dollar pro Jahr liegen würden.
Als ich im April 2022 mein Amt bei der Zentralbank antrat, beliefen sich die verwendbaren Ressourcen auf 25 Millionen US-Dollar, verglichen mit 6 Milliarden US-Dollar pro Jahr An Schuldendienstzahlungen in den nächsten vier, fünf Jahren. Daher mussten wir die Aussetzung des Schuldendiensts bekanntgeben und begannen, mit dem IWF über ein Programm zu verhandeln. Das war im April 2022. Wichtig sind die Konsequenzen für die Bevölkerung Sri Lankas, die Auswirkungen auf die Gesellschaft und wie dies eine soziale Krise auslöste. In der Abbildung links oben sehen Sie den dramatischen Abschwung der Wirtschaft, die 2022 um 8 Prozent schrumpfte. Das ist eine Folge der hohen Inflation und auch der Zahlungsbilanzkrise. Und Sie sehen auch, wie der Wechselkurs in weniger als 2 Monaten abrupt 45 Prozent nach oben geschossen ist. Auch das geschah im Zeitraum März/April. Und die Armut wuchs um 74 Prozent.
Deshalb ist die Inflation Staatsfeind Nummer 1 und trifft zudem die Schwachen besonders hart. Bei der einkommensschwachen Bevölkerung nimmt die Armut zu und die Reallöhne sinken. Dies sind die Härten, die die Krise für die Menschen in Sri Lanka bedeutete. Und natürlich muss man dies im Zusammenhang mit der politischen Situation sehen, wie die Demokratie im Zeitraum April-Juli aufgrund der Zahlungsbilanzkrise, des Devisenmangels und der langen Schlangen, die vergeblich auf Treibstoff warteten, unter Druck geriet. Schiffe ankerten vor dem Hafen und nicht einmal für eines konnte Treibstoff finanziert werden. 30 Tage kein Treibstoff für die Bevölkerung, keine Medikamente, überall lange Schlangen. Es gab daher nicht nur eine Krise, sondern es kam auch zu wirtschaftlichen und sozialen Unruhen. Von Ende März bis Juli gab es schwere Ausschreitungen. Die Menschen gingen auf die Straße und demonstrierten und die Regierung erklärte den Notstand.
Als mir dieses Amt angeboten wurde, war ich bereits bei der Zentralbank tätig. Aber dann verließ ich die Zentralbank. Ich war in Australien, als mir zum Höhepunkt der Krise das Amt erneut angeboten wurde. Als ich eintraf, war das Kabinett schon zurückgetreten. Der Premier- sowie der Finanzminister waren zurückgetreten. Es gab nur ein sehr kleines Kabinett mit einem Finanzminister. Zwischen April und Juli musste der Premierminister zurücktreten und auch drei Mal das Kabinett. Dreimal wechselte der Finanzminister in diesen drei Monaten bis Juli. Der Präsident musste aus dem Land fliehen und ein neuer Präsident wurde gemäß der Verfassung eingesetzt. Als der Präsident wegen der sozialen Unruhen fliehen musste, waren die demokratischen Institutionen ganz offensichtlich ernsthaft in Gefahr. Das war zentral in diesem Moment, in dem das Sekretariat des Präsidenten, das Haus des Präsidenten, die Residenz des Premierministers, das Privathaus des aktuellen Präsidenten und Häuser von über 80 Parlamentariern niedergebrannt oder gestürmt wurden. Das war ein riskanter Moment. Die Demonstranten hätten beinahe das Parlament gestürmt. Zu diesem Zeitpunkt, im Juli, kam der neue Präsident ins Amt, übernahm die Kontrolle und konnte die Lage beruhigen und verhindern, dass das Parlament von den Demonstranten eingenommen wird. Dies hätte die Demokratie grundlegend verändert. Es hätte das Ende der Demokratie bedeutet. Schließlich trat der Präsident zurück. Das Sekretariat des Präsidenten wurde von den Demonstranten gestürmt. Der Sitz des Premierministers wurde gestürmt. Häuser von Parlamentariern wurden niedergebrannt. Das sind die Folgen dieser Krise.
Zu dieser Zeit lag die Inflation bei fast 60 Prozent. Die Auswirkungen der Inflation waren für uns also eine sehr konkrete Erfahrung. Das war die Lage. Hier kommen nun unsere Maßnahmen bei der Zentralbank ins Spiel. Ich trat mein Amt am Morgen des 8. April an und noch am gleichen Tag wurden die Zinssätze um 700 Basispunkte erhöht, ein Zinssatzanstieg von 7 Prozent beim Leitzins, der sich sozusagen über Nacht fast verdoppelte auf 14 Prozent. Und in den nächsten Tagen konnte ich die Regierung überzeugen, die Aussetzung des Schuldendiensts zu erklären und Verhandlungen mit den Gläubigern aufzunehmen, um die Restrukturierung der Schulden zu erörtern. Und als nächstes standen die Verhandlungen über das IWF-Programm, das Hilfspaket und die Schuldenrestrukturierung an. Dies habe ich im April in die Wege geleitet. Bis Juli gab es jedoch Unruhen, Aufruhr und Instabilität aufgrund der politischen Situation. Es waren sehr schwierige Monate. Die Bevölkerung litt. Doch glücklicherweise erkannte die Bevölkerung, dass die Dinge sich in die richtige Richtung entwickelten – all die schwierigen, schmerzhaften Reformen vom 1. Juli bis heute – und die Bevölkerung trotzte der Krise und wartete geduldig ab.
Die Reformen waren hart und die Haushaltslage schwierig. Steuern mussten erhöht, Finanzpolster gestärkt, die Geldentwertung gestoppt, die Zinssätze gesenkt und die Staatsanleihen zurückgeführt werden – in drei Monaten. Die Außenfinanzierung des Staates betrug fast Null. Die Regierung musste das Haushaltsdefizit von einem Tag zum anderen finanzieren – Ein Zinssatz von 34 Prozent für 3-Monats-Anleihen als Zinsspitze, restriktive Geldpolitik, mangelnde Finanzierung und das Land lahmgelegt. Das war damals unsere Situation. Aber dies trug maßgeblich zur deutlichen Drosselung der Nachfrage und zur Senkung der Inflation von 70 Prozent im September auf 1 Prozent binnen 12 Monaten bei (Inflation im Jahresvergleich). Die IWF-Vorgaben wurden sogar übertroffen. Vorgabe war, die Inflation innerhalb von 2 Jahren abzusenken. Wir haben dieses Ziel in 12 Monaten erreicht.
Das ist das Ergebnis. Und das ist im Grunde, was wir zusammen erreicht haben – mit der Regierung, mit der Zentralbank, mit ein wenig Stabilität, mit einer stabilen Regierung. IWF Fazilität, Schuldendienst vorübergehend ausgesetzt, Restrukturierungsverhandlungen und einschneidende und schmerzhafte haushaltspolitische, steuerliche Reformmaßnahmen. Importrestriktionen mussten verhängt werden, damit Finanzmittel für essentielle Importe zur Verfügung stehen. Nicht unbedingt erforderliche Importe wurden eingeschränkt, um Diesel, Petroleum, Arzneimittel finanzieren und einführen zu können. Die staatseigenen Betriebe oder stark subventionierten Betriebe, alle zu 100 Prozent in Staatsbesitz befindlichen Strom- und Kraftstoffversorger mussten von stark gedrückten Preisen an Marktpreise, an Preise, die die Kosten widerspiegeln, angepasst werden. Ich unterstütze diese Reformen.
Kommen wir zur Reform des Energiesektors. Dies war tatsächlich sehr schwierig, aber wir konnten die Situation stabilisieren. Wir werden die Schuldenrestrukturierung in den nächsten Wochen abschließen und hoffen, die zweite Phase des Programms nächsten Monat abzuschließen. Hier sehen Sie einen Vergleich. Es sorgt für Gesprächsstoff, dass die Inflationsrate in Sri Lanka innerhalb von 12 Monaten von 69,8 Prozent, d. h. von fast 70 Prozent, auf 1,5 Prozent gesenkt wurde. Vergleichbare Länder, die einen ähnlichen Prozess durchlaufen, wie z. B. Simbabwe, Pakistan, die Türkei und Argentinien, kommen wesentlich langsamer voran. Die Nahrungsmittelinflation stieg auf 95 Prozent und es gab Spekulationen, dass sie 100 Prozent erreichen würde. Und die Furcht vor einer Hyperinflation ging um.
Eine besonders wichtige Reform, eine besonders wichtige Lektion, eine Voraussetzung für die Bewilligung des Hilfsprogramms war natürlich die Unabhängigkeit der Zentralbank. Dies möchte ich betonen, denn bereits 2017/2028 gab es im Rahmen eines früheren Programms eine Benchmark, ein neues Zentralbankgesetz zu verabschieden, das die Zentralbank unabhängiger machen und fiskalische Dominanz verhindern sollte. Dann kam Ende 2019/2020 eine neue Regierung ins Amt und hielt eine unabhängige Zentralbank für nicht erforderlich. Das Gesetz wurde nicht verabschiedet und ad acta gelegt. Und leider wurde in genau diesem Zeitraum die neue Theorie der Geldpolitik umgesetzt. Die Geldpresse lief auf Hochtouren. Deshalb war die Zustimmung für die Verabschiedung des Zentralbankgesetzes im Parlament nach der Krise so viel größer. Das Gesetz ist vor zwei Monaten verabschiedet worden. Sri Lanka hat nun eine vollständig unabhängige Zentralbank ohne ein Regime fiskalischer Dominanz. Eine fiskalische Dominanz kann nicht eintreten, denn sie würde bedeuten, dass die Zentralbank nicht unabhängig ist. Heute hat die Preisstabilität Vorrang und Finanzstabilität ist ein Nebenziel.
Früher nahm die Politik Einfluss auf die Zentralbank. Das Finanzministerium hatte von Amts wegen einen Vertreter im Vorstand der Zentralbank. Einer Regelung zufolge konnte die Zentralbank Defizite im Staatshaushalt finanzieren, sollte die Regierung die Mittel nicht am Kapitalmarkt beschaffen können. Das ist jetzt nicht mehr zulässig. Die Regierung hat sich zudem zu einem Inflationsziel verpflichtet und die Zentralbank hat das Mandat erhalten, seine Einhaltung zu überwachen. Das ist der Punkt, an dem wir heute stehen. Wir haben uns auf ein Inflationsziel festgelegt, das bei 4 Prozent bis 6 Prozent liegt, der Mittelwert von 5 Prozent dient der Steuerung. Das ist für ein Land wie Sri Lanka die richtige Höhe. Flexible Inflationssteuerung ist jetzt gesetzlich festgeschrieben, politische Einflussnahme ist nicht zulässig und Haushaltsdefizite können nicht direkt durch die Zentralbank finanziert werden. Aber wir sind als Zentralbank nicht nur unabhängig, sondern unterliegen auch einer stärkeren Rechenschaftspflicht. Für den Fall, dass wir unser Mandat nicht erfüllen, unterliegen wir der Aufsicht durch das Parlament. Somit wird die Unabhängigkeit der Zentralbank von einer wesentlich stärkeren Rechenschaftspflicht flankiert.
Soweit zur Zentralbank. Es gibt noch Vieles, worüber zu berichten wäre. Mir fehlt die Zeit, über die Haushaltskrise zu sprechen. Auch hier entwickeln sich die Dinge in die richtige Richtung. Mit der Regierung wurde eine neue Rahmenvereinbarung über das Inflationsziel unterzeichnet. Der Minister und ich selbst haben die Vereinbarung über ein Inflationsziel von 5 Prozent unterzeichnet. Und ich wage diese Prognose: Wir sind zuversichtlich, dass wir die Inflation mit dieser Rahmenvereinbarung auf dem angestrebten Niveau halten. Die Zentralbank ist zuversichtlich, dass sie dank der aktuellen Rahmenbedingungen die erforderliche Unabhängigkeit, die Instrumente und die Fähigkeit besitzt, ihr Mandat zu erfüllen.
Die letzte Abbildung zeigt den gesamtwirtschaftlichen Rahmen und die Strukturreformen im Rahmen des IWF-Programms. Wie ich bereits ausführte, ist die erste Säule auch die wichtigste. Sie umfasst die einnahmebasierte Haushaltskonsolidierung sowie Strukturreformen. Lange herrschten fiskalische Dominanz und Haushaltsungleichgewichte und haben zu unseren Problemen geführt. Wir brauchen eine langfristige Tragfähigkeit der Staatsverschuldung, das betrifft die Schuldenrestrukturierung, die Verhandlungen zur Restrukturierung unserer Auslandsschulden und inländischen Schuldendienstpflichten, um diese Schulden bedienen zu können. Die dritte Säule betrifft die Preisstabilität und den Wiederaufbau von Währungsreserven, die Anhebung unserer Reserven auf eine angemessene Höhe bei gleichzeitiger Einhaltung des Inflationsziels. Außerdem das Erreichen von Finanzstabilität.
Hierauf sollte ich auch kurz eingehen, denn die Zentralbank ist nach den Gesetzen Sri Lankas noch immer die Autorität, die für Finanzstabilität sorgen muss. Bedenken Sie, als der Wechselkurs um 50 Prozent einbrach, als die Zinsen um 34 Prozent stiegen, befand sich die Stabilität des Finanzsystems in einer äußerst schwierigen Lage. Das gilt auch für die inländische Schuldenstruktur. Aber wir konnten die Lage stabilisieren. Es gab keine einzige Pleite einer Bank. Auch nicht in diesen schwierigen Zeiten. Dennoch besteht ein gewisser Rekapitalisierungsbedarf. Die Finanzbehörden sind bestrebt, Rekapitalisierungen künftig zu unterstützen, und ihre Kenntnisse darüber zu verbessern, welche Bedürfnisse und welche Schwerpunkte die Wirtschaft Sri Lankas hat. Kenntnisse über die Anfälligkeiten der Wirtschaft für Korruption und Themen der ordnungsgemäßen Geschäftsführung sind erforderlich. Das sind einige der Probleme, die die Haushaltsungleichgewichte, fehlende Haushaltsdisziplin, fehlende haushaltspolitische Steuerung und fehlende Steuerung auf Makro Ebene verursacht haben. Der erste Meilenstein ist die Unabhängigkeit der Zentralbank, der zweite ist das neue Gesetz zur Korruptionsbekämpfung. Weitere vergleichbare Reformen sind in der Pipeline. Das ist also eine wichtige Säule. Dazu gehören wachstumsfördernde Reformen. Wachstum durch langfristige Reformen.
Ich möchte mit der letzten Abbildung enden, die in die Zukunft weist. Sie betrifft die Zentralbank und die Regierung. Wir müssen schmerzhafte und unpopuläre Maßnahme ergreifen, um die Demokratie im weiteren Verlauf zu schützen. Deshalb sind ein tragfähiges, inklusives Wachstum und eine gesunde Demokratie so wichtig. Gesamtwirtschaftliche Stabilität ist das A und O. Vielen Dank.
MELINDA CRANE: Vielen Dank Herr Gouverneur, dass Sie Ihre Einblicke und Erfahrungen aus Sri Lanka mit uns geteilt haben. Das unterstreicht die Mahnung von Herrn Minister Lindner, der sagte, dass wir bei unserer Sorge um die Herausforderungen, vor denen Europa steht, nicht die enormen Belastungen aus den Augen verlieren dürfen, denen viele Entwicklungs- und Schwellenländer ausgesetzt sind. Und Sie haben auch betont, dass unser Titel „Inflation tötet die Demokratie“ keine Übertreibung ist. Also vielen, vielen Dank dafür. Und die Präsentation mit diesen haarsträubenden Folien, die wir gerade gesehen haben, liegt ausgedruckt vor dem Saal aus, meine Damen und Herren, wenn Sie nach dem Ende der Veranstaltung ein Exemplar mitnehmen wollen.
Wir kehren nun zurück ins Deutsche und auch in die Zeit. Wie kam es zur Hyperinflation von 1923? Welche politischen und internationalen Bedingungen und Umstände haben sowohl die Krise als auch ihre Lösung beeinflusst? Das hören wir nun von Dr. Albrecht Ritschl. Er ist Professor of Economic History an der London School of Economics. Zuvor hatte er Lehrstühle an der Universität von Zürich und der Humboldt-Universität hier in Berlin inne, war Visiting Fellow in Princeton und auch an der University of Pennsylvania. Er ist Mitglied mehrerer renommierter Forschungsinstitute und veröffentlichte zahlreiche Studien zu Deutschland in der Weltwirtschaftskrise. Lieber Professor Ritschl, Sie haben das Wort!
ALBRECHT RITSCHL: Vielen Dank, sehr geehrter Herr Bundesminister, chère Madame la présidente de Bank Central European, dear Governor of the Central Bank of Sri Lanka. Ich bin gebeten worden, auf Deutsch zu sprechen, was mir etwas schwerfällt, weil ich es nur gelegentlich in einem professionellen Kontext tue. Ich will es trotzdem versuchen. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich hin und wieder ins Englische zurückfalle, auch wenn ich von meinem Manuskript abweiche.
Beginnen wir also mit meiner Erbsünde und sprechen die Situation in Sri Lanka an, denn viele der Folien, die Sie uns freundlicherweise gezeigt haben, sahen wirklich aus wie Folien über die Weimarer Republik und einige der damaligen Probleme. Ich hoffe, wir können uns nach der Veranstaltung noch ein wenig unterhalten, denn bei den Ereignissen und vielleicht auch bei einigen der Gegenmaßnahmen gibt es tatsächlich sehr viele Parallelen. Heute denken wir zurück an die Stabilisierung der deutschen Währung vor 100 Jahren, am Ende der bis dahin schlimmsten Hyperinflation der Geschichte überhaupt. Nicht nur, dass sie die Ersparnisse der breiten Bevölkerung aufgezehrt hat, denn das hatte bereits die Kriegsinflation der Jahre 1914 bis 1918 getan. Schon 1920 war das Geld nur mehr ungefähr ein Zehntel dessen wert, was man vor dem Krieg dafür noch hätte kaufen können. Aber in diesem Jahr kam die Inflation zunächst ganz zum Stillstand. Die Gefahr eines Bürgerkriegs, die wir zunächst hatten, in der revolutionären Situation ab 1918, war gebannt. Ein rechtsextremer Militärputsch war gescheitert. Ein neues Steuersystem, ein leistungsfähiges Steuersystem, war geschaffen worden. In seinen Grundzügen besteht es noch heute, und ich glaube, Herr Finanzminister, dass wir uns im Prinzip über die Stärke der Steuereinnahmen in Deutschland nicht beklagen können.
Alles sah also nach einer Stabilisierung aus. Gute Grundlagen waren geschaffen, aber die Inflation kam zurück. Sie steigerte sich immer weiter und entgleiste ab dem späten 1922, bestimmt ab 1923, zu einer rasenden, nie dagewesenen Geldentwertung. In der Druck- und Papierindustrie herrschte Vollbeschäftigung. Man fuhr mehrere Schichten. Mit dem Druck neuer Banknoten kam man nicht mehr hinterher. Überall im Bank- und Geschäftsleben wurden neue Leute eingestellt, einfach nur um das Geld zu zählen und immer noch mehr Nullen an die Zahlen in der Buchhaltung hinzuschreiben. Zuletzt hat man alte Geldscheine einfach überstempelt, aber auch das hat nichts mehr geholfen. Die Inflation brannte aus.
Nun erwarten Sie vielleicht heute, meine Damen und Herren, dass ich Ihnen erkläre, wie das mit den gängigen Theorien zur Erklärung der Inflation so ist, und ich bin wirklich in großer Versuchung, das zu tun. Ich würde Ihnen gerne vom Cagan-Modell der Hyperinflation erklären und warum das nicht funktioniert. Ich würde Ihnen gerne erklären, was die heimischen verteilungspolitischen Inflationsursachen waren, wie die Inflation wenigstens eine Zeit lang versucht, einen Erfolg dabeihatte, die revolutionären Wirren nach 1918 zu entschärfen. Hierzu ist viel gearbeitet worden vom Berliner Wirtschaftshistoriker Carl-Ludwig Holtfrerich, den ich heute hier unter uns begrüßen darf. Ich würde Ihnen gerne erzählen von der Arbeit des späteren Nobelpreisträgers Thomas Sargent, der uns erklärt hat, dass die Stabilisierung von 1924 im Wesentlichen ein Erfolg der Steuerpolitik, der Fiskalpolitik war. Und ich würde Ihnen vor allem erklären wollen von der wunderbaren Arbeit von Steven Webb am IMF, der bereits in den 1980er Jahren ganz wichtige Arbeiten vorgelegt hat zu einer fiskalischen Theorie der Hyperinflation, ihrer Überwindung, die also weit in die Zukunft der Makroökonomik vorausgewiesen hat. Ich tue das alles nicht, sondern ich werde das Privileg des Wirtschaftshistorikers nutzen und sozusagen zwei Schritte zurücktreten und die große Perspektive betrachten.
Wie konnte es dazu kommen, dass in einem doch zuvor recht straff organisierten Land – immerhin das alte Preußen und ähnliches wie Deutschland – die Steuereinnahmen nicht mehr geflossen sind? Warum notwendige Kürzungen der Staatsausgaben vermieden wurden? Herr Lindner, Sie waren damals nicht an Bord und es wurde also keine ordentliche Fiskalpolitik betrieben. Warum denn nur? Warum ist das Gebäude der Staatlichkeit, das, was der Londoner Politökonom Tim Besley so wunderbar als State Capacity beschrieben hat? Auch dieses Wort gab es früher. Joseph Schumpeter hat seinerzeit gesprochen zeitgenössisch von der Krise des Steuerstaates. Warum ist das alles passiert? Wo liegen die tiefen Gründe? Welche Lehren sind daraus gezogen worden, und welche der Konfliktfelder von damals präsentieren sich womöglich auch heute wieder?
Lassen Sie mich zunächst die Inflation in den Zusammenhang stellen, der fundamentalen Störung des europäischen Gleichgewichts durch den Ersten Weltkrieg und durch unsere Großväter. Um es ganz klar zu sagen. Dieser Krieg endete vorzeitig durch die Aufgabe einer der Spieler. Einer der Spieler hat, wie man das im Schachspiel so tut, den König flachgelegt auf die Seite. Ganz wörtlich ging der Kaiser ins Exil, Deutschland zog aus dieser sehr frühen Kapitulation ganz wesentliche Vorteile, vor allem den Rückzug Amerikas vom Spielfeld. Der militärisch sicher vor Augen liegende Erfolg der Alliierten-Kampagne gegen Deutschland war damit zunichte gemacht. Kluge Beobachter haben bereits damals vor den kommenden Verwicklungen gewarnt und haben gesagt, diesen Krieg, den ihr jetzt leichtsinnigerweise zu früh aufhört, den werdet ihr nochmal führen müssen. Hier standen sich zwei Denkrichtungen gegenüber. Und man kann im Nachhinein mit der Klugheit, die wir heutzutage, 100 Jahre später, haben, sagen, dass vielleicht beide Denkrichtungen nicht ganz recht hatten. Das eine war der politische Idealismus des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der an die Reformierbarkeit eines demokratisch reformierten und dann geläuterten Deutschlands glauben wollte. Ich will es mal so sagen. Ohne aber es machtpolitisch abzusichern. Und das andere war die pessimistische, vor allem aber nicht nur in Frankreich beheimatete Gegenposition, die gesagt hat; letztlich an Realpolitik geglaubt hat, die historische Erfahrung, das Trauma von 1871 in Erinnerung hatte.
Sie sehen der Historiker rührt an verschiedene Wunden, aber ich denke, es ist wichtig, das zu tun. Denn Wahrheit befreit. Und die auf Pfändern bestehen wollte, auf „pledges“, auf Dingen, die wirklich konkret über Versprechungen hinausgingen. Diese skeptische Position gegenüber Deutschland hat vielleicht auch, das wissen wir im Nachhinein, mehr Berechtigungen gehabt, als man sich das in der deutschen Geschichtsschreibung, später auch der 1970er, 1980er Jahre hat zugestehen wollen. Denn in Deutschland seiner Zeit war man auf den Verlust der eigenen Großmachtstellung in keiner Weise vorbereitet. Der nationalistische Instinkt war ebenso vorhanden, wie der revolutionäre und demokratische. Und vermutlich war es stärker als dieser. Eine Verständigungspolitik ohne eine klare machtpolitische Unterlage musste ein Wechsel auf die Zukunft bleiben. Und ebenso ist natürlich umgekehrt auch wieder richtig, dass eine reine realpolitische Machtpolitik ohne eine wirkliche Verständigung, ohne den Versuch einer wirklichen Verständigung die Chancen einer Verständigung verschlechtern musste.
Das bringt mich nun doch zurück zur Hyperinflation, denn wir wollen ja nicht nur über große Politik reden, aber es muss eben schon auch sein. Die junge Weimarer Republik hatte den Weg einer Erfüllungspolitik eingeschlagen. Das wird oft ins Englische schlecht übersetzt als „fulfillment policy“. No, it was an attempt at a policy of full compliance. That's what they're trying to do. Das hat ihr beißende Kritik eingetragen. Zwei ihrer Minister haben das mit dem Leben bezahlt, unter anderem Matthias Erzberger, der Finanzminister nach dem der Saal benannt ist, in dem wir uns heute versammelt haben, in einem Gebäude, zu dem man ganz, ganz viel sagen kann. Es verkörpert wie kaum eins in Berlin die Dialektik der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Das neue Steuersystem Matthias Erzbergers wurde während der Inflation nicht wirklich durchgesetzt. Zu groß war der nationalistische Widerstand gegen die Steuerzahlung zur Finanzierung von Reparationen. Madame Lagarde hat vorhin den Namen von Gerald Feldman genannt, dem ich viel verdanke. Unter anderem haben wir von ihm auch die Einsicht, dass das Nichtfunktionieren des Steuersystems, des Erzbergischen Steuersystems in der Hyperinflation, zu großen Teilen nicht nur Inflationsfolge war, sondern auch die Folge eines Steuerstreiks sowohl der Besteuerten als auch der Besteuerer, die sich geweigert haben, die Vorschriften umzusetzen. Statt Reparationen aus Überschüssen im Außenhandel oder aber aus Überschüssen der Steuereinnahmen über die Staatsausgaben finanzierte das Reich die Reparation zunächst aus der Substanz, aus Ablieferung, und später aus Krediten im Ausland. Und als diese Kredite nicht mehr hereinkamen finanzierte man sie durch Verkäufe von Papiermark, also von deutscher Währung, auf internationalen Märkten. Die Reichsbank – man mag das also kaum glauben – hat gegen die eigene Währung interveniert. Das ist das, worauf das im Grunde genommen hinausläuft. Astronomische Ziffern waren gefordert worden zu den Reparationen. Das waren natürlich politische Zahlen, das wissen Sie alles besser als ich, wie sowas funktioniert.
Von deutscher Seite machte man ziemlich lächerlich niedrige Gegenangebote. Auch das waren politische Zahlen, und den Beteiligten war das natürlich bewusst. Wir wissen, dass die Vorstellungen beider Seiten in diesem Konflikt in Wirklichkeit recht nahe beieinander gelegen sind. Viel näher als irgendeine der beiden Seiten das in der Öffentlichkeit zugeben wollte. Bereits 1922 war aber klar, dass auch diese revidierten Ziffern, über die man sich nicht direkt einig war, aber man war in einem Korridor; dass auch diese Ziffern nicht erfüllt werden könnten. Und jetzt muss ich eine lange Vorlesung nicht halten, warum das so gewesen ist. Sie hat im Wesentlichen zu tun mit der unvollständigen Erholung von dem Ersten Weltkrieg in den ersten Nachkriegsjahren, mit einer schweren internationalen Nachkriegsrezession, die das Volumen des Außenhandels international stark hat einschrumpfen lassen. Deutschland hätte eine sehr aggressive Exportkampagne betreiben müssen in einem schwer geschädigten, rezessiven internationalen Markt. Das waren keine guten Bedingungen. Das war klar, dass das nicht gemacht werden konnte, jedenfalls kurzfristig nicht, ohne dass die Reichsbank durch immer weitere Devisenankäufe die Inflation weiter und weiter beschleunigt. An eine innere Währungsstabilisierung war aber auch nicht zu denken durch nämlich wirksame Eintreibung von Steuern ohne ein Moratorium bei den Reparationen.
Der Mord erst an Erzberger und dann Außenminister Rathenau hatte gezeigt, wie viel für die Berliner Regierung auf dem Spiel stand. Für eine Stabilisierung der Währung ohne ein Zugeständnis der Westmächte fühlte man sich zu schwach. Streitpunkt insbesondere zwischen Frankreich und Großbritannien im Jahr 1922 war die Frage, ob es nach einem Moratorium für Reparationen, das man bereits im 1922 als völlig unausweichlich ansah; ob es danach eine automatische Rückkehr zu Reparationen geben sollte oder nicht. In diesem System, in diesem Moment scheinen bereits die Konturen des späteren Dawes-Plans und der späteren Verständigung von 1924 bis 1929 auf, aber auch des Young-Plans, der dann eine Verschärfung der Zahlungsbedingungen erneut in die Sache hineinbrachte. Die Positionen verhärteten sich, und anstelle eines Kompromisses trat das Aussetzen von Sachlieferungen durch Deutschland und im Gegensatz die französisch-belgische Ruhrbesetzung. Die technischen Details dieser rasenden Hyperinflation von 1923: ungeheuer interessant. Das würde aber viel zu weit führen, das hier durchzudeklinieren.
Nur so viel sei gesagt: die Goldreserve der Reichsbank wurde eingesetzt, um die politischen Folgen des Ruhr-Konflikts ein wenig abzumildern. Damit waren sie aber für eine Stabilisierung nicht mehr vorhanden. Also griff man zu einem Hilfsmittel, nämlich einer Währung, die gesichert war durch eine Zwangshypothek auf den Grundbesitz von Landwirtschaft und Gewerbe. Also eine provisorische Unterlage „Mortgage-backed securities“. Das hört sich heutzutage wieder ganz modern an und hat tatsächlich interessanterweise funktioniert. Diese Parallelwährung hat ihre Wirkung erfüllt darin, dass sie für einen Moment Glaubwürdigkeit geschaffen hat, dass man stabilisiert durch Fixierung des Wechselkurses und dann durch scharfe, scharfe Kreditrestriktionen in der Hoffnung, dass die kredithungrige Wirtschaft ihre heimlich gehorteten Gold- und Devisenbestände der Reichsbank andienen würde und auf die Weise Gold in die Bank zurückfließt. Es hat geholfen, dass die Bank von England der Reichsbank Unterstützung gewährt hatte. Es gibt Unterlagen in den Archiven für eine Art Beherrschungsvertrag, den die Reichsbank mit der Bank von England abschloss, bei der im Wesentlichen drinstand: Die Reichsbank unterwirft sich in allen wesentlichen Entscheidungen dem Kommando der Bank von England.
Solche Dinge hat es gegeben. Es hat für die Stabilisierung kurzfristig auch geholfen, dass Großbritannien kurzfristig in einer starken Position gegenüber Frankreich war. Dazu komme ich aber noch gleich. Die Reichsbank selbst wurde recht bald in eine Art internationale Organisation verwandelt, in deren Generalratssitzung, das war so eine Art Aufsichtsrat, sich die internationalen Währungssachverständigen regelmäßig trafen und unauffällig miteinander austauschten, ohne dass große Protokolle geführt wurden, und offenbar sind diese Treffen recht harmonisch verlaufen. Vor allem aber wurde 1923 die Fiskalpolitik saniert in einem Programm, das man nur als brutal bezeichnen kann. Etwa ein Drittel aller Reichsbediensteten wurde entlassen. Stellen Sie sich ein Sanierungsprogramm in Deutschland vor, in dem ein Drittel der Beschäftigten des Bundes auf die Straße gesetzt werden, dann haben Sie aber Feuer unterm Dach. Als Geschenk des Dawes-Plans wurden die Reparationszahlungen erst einmal sistiert und dann langsam wieder angefahren. Letztlich aber waren diese technischen Details der Abwicklung – so interessant sie für den Ökonomen in mir sind, ich habe natürlich immer zwei Hüte auf – letztlich war das nur ein Problem zweiter Ordnung, das Problem erster Ordnung, um das es eigentlich geht, war das Einlenken sowohl der deutschen als auch der französischen Seite, eine Frage der großen Politik.
Wir feiern das heute mit Recht, nicht zuletzt wegen der bleibenden Leistung Gustav Stresemanns und Aristide Briands, die einer neuen Politik der Verständigung Raum geben wollten und damit einen Impuls gegeben haben, der tatsächlich bis heute nachwirkt, nachdem er eine Zeit lang in der gewalttätigsten, nur möglichen Weise unterdrückt worden ist. Allerdings hat die Stabilisierung der deutschen Währung, die wir heute feiern, eine Kehrseite gehabt, und auch das muss ehrlich gesagt werden, nämlich das war die zeitweise Destabilisierung der französischen Währung: die Destabilisierung des Francs unter dem Cartel des Gauches von 1924 bis 1926 durchlief Frankreich eine Periode rascher Inflation mit dem drohenden Zusammenbruch des öffentlichen Kredits und politischer Instabilität. So gerne wir also die Errungenschaften der Verständigung zwischen Stresemann und Briand feiern, die zuletzt im Locarno-Vertrag und dem deutschen Beitritt zum Völkerbund gemündet haben, müssen wir eben auch sehen und dürfen nicht übersehen, dass Frankreich durch eine Schwächeperiode gegangen ist, und das hat selbst zu einer Rückwirkung geführt: Frankreich befreite sich aus diesem Dilemma durch einen überraschenden Schachzug und das war ein Kredit, der eingefädelt wurde durch den schwedischen Zündholzkönig, „The Match King“, Ivar Kreuger im Jahr 1927. Niemand auf den internationalen Kreditmärkten hatte mit diesem Coup gerechnet und auf einmal hatte Frankreich einen fiskalischen und monetären Handlungsspielraum, der vorher nicht da gewesen war. Und durch eine sehr geschickte Politik, Steueramnestie und dergleichen war Frankreich in der Lage, Fluchtkapital aus London, aus Berlin und auch aus New York wieder an sich zu ziehen, und auf einmal wendete sich das Blatt. Poincaré war wieder an der Macht und Poincaré tat einen folgenreichen Schritt. Und das war die Rückkehr der Reparationen auf das politische Programm.
Hier sollte ich dazu sagen, ich spreche jetzt Englisch, es muss daher nicht gedolmetscht werden. Ein Grund, warum die Poincaré-Regierung wieder Reparationen ins Spiel gebracht hat, war Druck seitens der USA. Die USA wollten ihre eigenen Kredite zurück und sie hatten nicht ganz verstanden, dass dies sehr drastische makroökonomische Folgen haben könnte. Auch hier zeigt sich also, dass die französische Position, die von der deutschen Geschichtsschreibung oft nicht direkt verurteilt, jedoch als wirklich seltsam angesehen wurde, genau wie die Austeritätspolitik und all das, dass diese französische Position eigentlich sehr viel Sinn ergibt, wenn man bereit ist, sich in Frankreichs Lage zu versetzen. Dieser Schritt Poincarès; auf diesen Schritt war das internationale Finanzsystem nicht vorbereitet. Und er hatte schwere Folgen. Denn wir haben eine merkwürdige Eigenheit der Stabilisierung von 1924 noch nicht besprochen.
Mit der Reparationsschuld war Deutschland nach allen überkommenen Regeln im Ausland weit überschuldet. Je nachdem, was wir als Reparationen ansehen, wird die Auslandsverschuldung Deutschlands 1924 etwa 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen haben. Die Reparationsschulden nach dem Dawes-Plan beliefen sich 1924 auf etwa 70 Prozent des deutschen BIP. Das liegt nahe an der von Reinhart und Rogoff identifizierten Gefahrenzone. Und sie sind aus einem Grund nicht viel kleiner geworden. Eigentlich war Deutschland nicht kreditwürdig unter dieser Situation; einem so stark überschuldeten Land wird niemand Kredit geben. Trotzdem sind ab 1924 große Kreditmassen in das Land geströmt. Für kurze Zeit wurde Deutschland zum weltgrößten Kapitalimporteur. Die Quelle dieser Kapitalimporte nach Deutschland war letztlich die USA. Einem amerikanischen Kapitalexport stand deutscher Kapitalimport gegenüber, und die Größenverhältnisse waren ungefähr 1 zu 1. Ein amerikanischer Historiker hat dieses sehr seltsame Phänomen treffend als amerikanische Reparationen an Deutschland bezeichnet. Sie hören die bittere Ironie. Deutschland hat seine Reparationen im Dawes-Plan völlig reibungslos bezahlt. Das wurde allerdings finanziert durch diese internationalen Kredite. Wie konnten die zustande kommen? Wie konnten die zustande gekommen?
Sie waren geschützt durch die Transferschutzklausel des Dawes-Plans. Die hat den kommerziellen Investoren beim Zugang zu Devisen am Devisenschalter der Reichsbank Vorrang gegeben vor den Reparationen. Wenn Sie also ein New Yorker Bänker waren, der in den 20er-Jahren Kredite nach Berlin gegeben hat, dann wussten Sie, wenn es Schwierigkeiten gibt bei der Reichsbank und die nicht mehr so richtig zahlen können, dann muss der Reparationsagent, den es damals gab, hinten sich wieder anstellen, und Sie kriegen zuerst als kommerzieller Gläubiger ihr Geld. Unter diesen Bedingungen leiht man gern. Allerdings bedeutete das auch, dass dieses hoffnungslos überschuldete Schuldnerland Zugang zu „fresh money“, zu neuem Kredit hatte, und den hat es sehr ausgiebig in Anspruch genommen. Auf die Weise war Deutschland am Ende der 1920er-Jahre in einem Double-Remis von Reparationen und Krediten. Um Ihnen ungefähr eine Vorstellung zu geben, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise 1928/29 – es hatte einiges Wirtschaftswachstum gegeben, einiges an sogenannten Goldenen Zwanzigern, wie wir das in Deutschland bezeichnen. Aber die Kombination von Reparationen und frisch aufgenommenen kommerziellen Auslandsschulden wird vor der Weltwirtschaftskrise etwa 70 bis 80 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung in Anspruch genommen haben bei negativer Handelsbilanz. Das hat später zu einer Schuldenkrise von lateinamerikanischer Dimension geführt und die Finanzkrise von 1931 ganz wesentlich verschärft, wenn nicht überhaupt verursacht.
Treten wir aber wiederum ein Stück zurück, weg von den technischen Details und schauen uns die Gesamtperspektive an. Geldpolitik allein konnte die Konflikte der europäischen Machtpolitik nicht lösen. Die Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg blieb trotz Stresemann und Briand unvollständig. Das wesentliche Problem war der Abzug der Amerikaner gewesen, ohne dass die Machtrivalitäten in Europa wirklich gelöst waren. Im Locarno-Vertrag waren die Revisionsforderungen Deutschlands an der Westgrenze beerdigt worden, aber nicht die Revisionsforderungen an der Ostgrenze, das dürfen wir nicht ganz vergessen. Auf die Weise sind Stresemann und Briand letztlich an Machtpolitik und machtpolitischen Realitäten gescheitert, die sie nicht wirklich beseitigen konnten. Um das zu tun, hätte vermutlich nur ein von Amerika militärisch durchgesetztes System der kollektiven Sicherheit vor Deutschland und auch für Deutschland helfen können. Nicht umsonst weisen diese Perspektiven in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Amerikanische Hegemonie hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Kooperation in der Geldpolitik ermöglicht, aber auch ein Stück weit erzwungen und hat vor allem die Trennung der Geldpolitik von dem toxischen Problem alter Kredite und der Reparationen ermöglicht. Nicht umsonst sind die Währungen des Bretton-Woods-Systems der Nachkriegszeit ganz dicht umzäunt gewesen von Kapitalverkehrskontrollen. Anders als damals, anders als in der Zeit zwischen den Kriegen, hat man auch darauf geachtet, die Altschulden zu regeln und weitgehend abzuwerten, das ist das Londoner Schuldenabkommen von 1953, damit sie den Aufbau eines neuen Währungssystems nicht wieder gefährdeten.
Die Marshall-Planer und die Leute, die die Finanzarchitektur der europäischen Zahlungsunion und des Bretton-Woods-Systems entworfen haben, haben sich sehr, sehr genau angeschaut, was mit der Dollardiplomatie der Zwischenkriegszeit schiefgegangen war. 100 Jahre nach dem Ende der deutschen Hyperinflation, 70 Jahre nach dem Auslauf des Marshallplans, haben wir in Europa eine ganz denkwürdige Form der Integration verwirklicht. Es ist nicht die politische Union, von der wir in den 50er-Jahren viel lesen, von der unsere Väter als junge Leute oder Eltern als junge Leute geträumt haben. Es ist auch nicht die Verteidigungsunion, aber es ist die Währungsunion. Sie hat zumal, das ist kein Geheimnis, in Deutschland ihre Kritiker gehabt. Dabei hat sie sich in mehreren Krisen eigentlich als die einzige europäische Institution erwiesen, die zu sofortigem Handeln imstande und entschlossen war. „Whatever it takes“ war nur möglich, weil die europäische Geldpolitik gegenüber den Mitgliedsstaaten Souveränität genießt und weil sie im Ausnahmezustand die Herrin der Lage ist, sozusagen der Souverän über den Ausnahmezustand. Hätte es nach 1918 oder 1924 eine ähnlich konstruierte Europäische Zentralbank gegeben, wäre der Welt vermutlich die Finanzkrise von 1931 in großen Teilen erspart geblieben, wenn nicht überhaupt die Weltwirtschaftskrise, zumindest in ihrem europäischen Teil.
Diese Rückprojektion, sozusagen ein Lernen aus der Gegenwart für die Geschichte, hat aber noch eine warnende Lektion für uns parat. Das Zusammenwachsen der europäischen Geldpolitik hat seinen Anfang mit der Europäischen Zahlungsunion von 1950 genommen. Es war ein direktes Kind des Marshallplans. Ohne die Hegemonie der Amerikaner wäre dieser Weg, ehrlich gesagt, nur schwer vorstellbar gewesen. Ich will die Verdienste das Schuman-Plans in keiner Weise verringern, aber es ist natürlich einfach zu kooperieren, wenn man weiß, dass die Sicherheitsfragen einigermaßen geklärt sind. Der Einfluss Amerikas in Europa wird heutzutage schwächer. Starke Kräfte in den USA propagieren den Rückweg in den Isolationismus Woodrow Wilsons ohne den Idealismus. Ökonomen haben eine große Literatur angelegt zu der Frage, ob europäische Geldpolitik möglich sei ohne eine europäische Fiskalpolitik. Bei aller Kritik im Detail, hat die Europäische Zentralbank den Beweis hierzu wirklich angetreten. Niemand, aber er hat bislang hinreichend darüber nachgedacht, – es gibt Ansätze, aber das ist noch nicht völlig durchdacht –, wie europäische Geldpolitik möglich sein wird, wenn wir nicht eine neue europäische Sicherheitsarchitektur haben, die zur Not auch ohne den amerikanischen Schutzschirm auskommen kann. Das Fehlen einer solchen Architektur hat seinerzeit die Verständigung zwischen Stresemann und Briand ins Leere laufen lassen und damit zuletzt die Währungsstabilisierung vereitelt, die mit ihr einherging.
Wir sollten gewarnt sein und unsere Energie darauf richten, dass dieser Fehler unter ganz anderen Voraussetzungen, in anderen Konfigurationen nicht ein zweites Mal begangen wird. Bisher hat die europäische Geldpolitik über alle Erwartungen gut funktioniert, ohne dass wir uns zu viele Gedanken über ihre geostrategische Einbettung machen mussten. Vielleicht ist es an der Zeit, das jetzt nachzuholen. Unser Gedenken an Stresemann und Briand heute Abend ist womöglich ein guter Anfang. Herzlichen Dank.
MELINDA CRANE: Herzlichen Dank an Sie. Gerne hier diesen Platz einnehmen. Und darf ich Herrn Paqué bitte auch auf die Bühne bitten. Und ich weiß, dass Sie, lieber Herr Minister, uns verlassen müssen. Wir sind tatsächlich ein bisschen spät in der Zeit und bestimmt, Frau Lagarde auch fürchte ich, aber wer bleiben möchte, wir wollen unbedingt einige dieser sehr, sehr interessanten Erkenntnisse aufgreifen in einem kurzen Dialog, und deswege bitte ich alle, die daran Interesse haben, hier bei uns zu bleiben. Und ja, Sie bleiben auch gerne, Herr Minister, solange Sie können, aber wir werden dann natürlich verstehen, wenn Sie gehen müssen.
Also wenn ich das alles so höre, lieber Herr Dr. Paqué, dann können wir natürlich Lehren für jetzt aus der Vergangenheit ziehen. Aber es gibt ein paar Lehren hier aus der Gegenwart, die man auch interessanterweise zurückprojizieren kann.
KARL-HEINZ PAQUÉ: Ja, ganz eindeutig, also der beeindruckende Vortrag von Albert Ritschl hat das ja gezeigt. Es läuft ja im Kern darauf hinaus, dass wir heute eine Finanzarchitektur mit der Europäischen Zentralbank, die oft genug kritisiert wird, durchaus auch zurecht wegen des Mangels an fiskalpolitischer Koordinierung, sich in fundamentaler Weise bewährt. Und man kann das Gedankenspiel, es ist natürlich nicht mehr als ein Gedankenspiel, machen, Albert Ritschl hat das getan: Was wäre gewesen, es hätte eine solche Situation in den 1920er-Jahren gegeben? Und er erinnerte ja mit „Whatever it takes“ an das kritische Jahr 2011, als es vorübergehend so aussah, als würde die europäische Währungsunion zerbrechen, und in dem Augenblick war die Macht- und Monopolposition der Europäischen Zentralbank von absolut entscheidender Bedeutung, um die schwierige Situation zu stabilisieren.
Wir nehmen das heute viel zu selbstverständlich hin. Überhaupt die ganze Bilanz der Weltfinanzkrise 2009, 2010, 2011, wenn man die Schuldenkrise in Europa mit dazunimmt, dass wir bei allen Schwierigkeiten en Detail, diese Krise überwinden konnten, ohne einen politischen Zusammenbruch, wie wir ihn in der Weimarer Republik erlebten. Und in der Weimarer Republik ist die Tragik der Situation, dass die glanzvolle Leistung von Stresemann und Briand auch mit Blick auf die Fähigkeiten von amerikanischem Kapital, Europa zu stabilisieren – Stresemann war einer der wenigen, der das früh erkannte – dass das wirklich dann Ende der 1920er Jahre in einer Katastrophe endete.
MELINDA CRANE: Und darauf möchte ich gerne gleich zurückkommen. Es gibt tatsächlich zwei Dimensionen, die mich besonders interessieren, und zwar das eine ist das Thema Leadership, was wir auch vom Bundesminister Lindner hörten, in seinen Schilderungen von der Leistung von Gustav Stresemann. Aber das Interessante an dieser Leadership von Stresemann ist, dass er die Krise schließlich nicht alleine gemeistert hat, sondern sie nutzte, um sein Kabinett umzubilden und einen Finanzminister ins Boot zu holen, den er offenbar eine sehr harte Haushaltskonsolidierung zutraute. Was sind da die wichtigsten Lehren aus ihrer Sicht, Professor Dr. Ritschl?
ALBRECHT RITSCHL: Wir sind im Moment in einer Situation, in der man sieht, wie unter völlig anderen Voraussetzungen es relativ schnell zu Notsituationen kommen kann, die ganz unkonventionelles Handeln erfordern. Die Weimarer Republik hatte eine Reserveverfassung, über die sehr viel gestritten worden ist. Das war das Notverordnungsrecht des Artikel 48 der Weimarer Verfassung. Dieses Notverordnungsrecht ist genutzt worden. Es wurde auch im Jahr 1923, erschrecken Sie nicht, ein Ermächtigungsgesetz verabschiedet, das der Regierung und ihren Beauftragten für eine begrenzte Zeit weitreichende Vollmachten gab, die normalerweise dem Parlament vorbehalten sind. Ich möchte ausdrücklich das nicht zur Nachahmung empfehlen.
Das bedeutet also, dass zur Stabilisierung der Situation am Ende 1923 der normale Entscheidungsfindungsmechanismus für eine Zeit außer Kraft gesetzt wurde. Das war, wie gesagt, in der Verfassung schon so vorgesehen, was höchst problematisch ist, und es wurde als notwendig erachtet. Immerhin denken wir daran, dass das Jahr 1923 von gewaltigen politischen Unruhen begleitet gewesen ist. Es gab Tausende Tote auf den Straßen. Es gab Interventionen der Armee. Es gab Schlachten zwischen Rechts- und Linksextremen. Und es gab den berüchtigten Beer-Hall-Putsch vom 9. November 1923. Es war eine Extremsituation. Insofern möchte man das nicht zur Nachahmung empfehlen, hat allerdings möglicherweise damit zu tun, dass es tatsächlich Notlagen gibt, in denen die normalen Verfassungsvorschriften nicht besonders gut funktionieren. Wir Ökonomen kennen das alle sehr gut aus der Theorie unvollständiger Verträge.
Man kann nicht sämtliche denkbaren Lebenslagen voraussehen und in eine Verfassung hineinschreiben. In einem positiven Sinn gewendet, sieht man das am Verhalten der Europäischen Zentralbank während der Eurokrise. Wo wir in einer Situation waren, die nicht vorhergesehen war, an die man so nicht gedacht hatte. Ich kenne ein bisschen die Literatur über die EZB aus den frühen 2000ern. Da war von vielen Dingen die Rede, aber nicht von einer Schuldenkrise dieses Ausmaßes. Und die EZB hat sich in einen rechtsfreien Raum hineinbegeben und hat dort entschlossen gehandelt. Dafür ist sie furchtbar verprügelt worden. Aber ich möchte alle Kritiker zur Frage, zur Beantwortung der Frage aufrufen, was denn sonst passiert wäre. Und da wären wir von einer Finanzkrise 1931 nicht weit entfernt gewesen.
MELINDA CRANE: Also ein Lob der Flexibilität, wenn ich Sie richtig verstehe. Der Finanzminister, der dann eben ins Boot geholt wurde, Dr. Paqué, das war der Hans Luther, er wurde auch erwähnt. Sie haben von ihm gesagt, er sei „the right man in the right time in the right place“. Ganz kurz: Aber warum?
KARL-HEINZ PAQUÉ: Ja, man muss die damalige Situation sich vor Augen führen. In dem Kabinett Stresemann 1, gab es den Finanzminister Hilferding, und er erwies sich, und das sagten sogar seine Parteifreunde von der SPD, als ein guter Theoretiker, aber jemand, dem völlig die Härte und Entschlusskraft fehlte, in der herrschenden Situation die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Und da war Hans Luther, ein parteiloser, man würde vielleicht sagen Technokrat, genau der Richtige, um mit einem klaren Konzept – er hat ja das Konzept von Helfferich, einer Roggenmark, dann entsprechend umgestaltet in eine durch landwirtschaftliche und industrielle aktive abgesicherte Mark – und das hat er entwickelt, und das hat er dann auch konsequent umgesetzt. Man darf aber nie vergessen, natürlich mit dem vollen politischen Backing von Stresemann. Stresemann als Kanzler war voll in der Verantwortung in diesem kleinen Fenster, das durch das Ermächtigungsgesetz eröffnet wurde. Für die große Koalition wurde das alles buchstäblich in wenigen Tagen nach Ende des Ruhr-Kampfs am 26. September 1923 erledigt. Eine glanzvolle politische Leistung.
Anschließend verschwand die große Koalition. Reichspräsident Ebert sagte noch zu seinen Sozialdemokraten, der Grund, weshalb er diese große Koalition scheitern lässt, der wird in wenigen Tagen vergessen sein. Aber wir werden die Folgen noch in zehn Jahren erleben. Und wir wissen alle nun, was 1933, zehn Jahre später passierte.
MELINDA CRANE: Kommen wir ganz kurz zum Thema Kapitalmärkte. Ich fand es besonders bemerkenswert, hoffentlich nicht nur, weil ich Amerikanerin bin, dass Stresemann die Beständigkeit des amerikanischen Interesses an Deutschland als Wirtschaftsstandort selbst in der Krise nicht nur erkannte, sondern auch förderte, und auch interessanterweise nach seiner späteren Ernennung zum Außenminister hat er das getan. Von Ihnen beiden bitte in einem Satz, „main lesson learned“ Dr. Ritschl?
ALBRECHT RITSCHL: So kann es gehen. Es war ein zweischneidiges Schwert: Amerika hat viel Geld verloren mit diesem Engagement. Das passiert, entschuldigt, es ist jetzt mehr als ein Satz. Ich will unsere Simultanübersetz er nicht zur Verzweiflung treiben. Das passiert, wenn man Dollardiplomatie betreibt, ohne die notwendige Außenpolitik. Die Hoffnung war, mit Dollars das zu tun, was Amerika damals machtpolitisch und strategisch noch nicht tun wollte. Die große „lesson learned“ war Amerikas Engagement in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Das hat ganz direkt miteinander zu tun.
MELINDA CRANE: Wir nannten es „Scheckbuchdiplomatie“.
KARL-HEINZ PAQUÉ: Ja, lieber Albrecht Ritschl, an der Stelle glaube ich, dass man natürlich ein bisschen vorsichtig sein muss, „with a benefit of hint side“, im Nachhinein zu sagen, diese Art von Politik war, wenn man so will, zum Scheitern verurteilt, weil eben keine Sicherheitsarchitektur da war, die das überwölbte. Ich glaube, es gehört zu den großen Leistungen von Gustav Stresemann, dass er frühzeitig erkannte, schon mit seiner Reise 1912 nach Amerika, welche ungeheure Bedeutung dieses wachstumskräftige, dynamische Land haben würde. Und ihm war vom ersten Augenblick an klar, er war Geschäftsführer, gut bezahlter Geschäftsführer, übrigens der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsvereinigung, die Albert Ballin mit ihm gewissermaßen aus der Taufe gehoben hatte. Den Job hat er erst aufgegeben, als er Kanzler wurde. Und deswegen hat er von vornherein klar gesehen, dass nur mit amerikanischem Kapital die Situation zu retten war.
Er ist in die Geschichte eingegangen als der große Versöhner von Frankreich und Deutschland, aber die Bedeutung der USA spielte da schon eine gewaltige Rolle. Dass der Dawes-Plan dann, wie Albrecht Ritschl wunderbar in einer inzwischen fast klassischen Publikation nachgewiesen hat, durch die Transferschutzklausel ein Element der Instabilität hatte, was dazu führte, dass deutsche Kommunen sich total überschuldeten: Berlin, Köln, Magdeburg, wo ich lange gelebt habe, da wurden Messegelände gegründet, Grüngürtel und so weiter und so weiter. Es wurde richtig investiert, und es wurde im Nachhinein zu viel investiert, und um resilient zu sein, falls einmal das Kreditgebäude ins Wanken geraten sollte. Das wissen wir im Nachhinein, wie das tragisch geendet ist. Aber mir fällt es schwer, es Gustav Stresemann anzukreiden, dass er das im Vorhinein nicht gewusst hat.
Allerletzter Punkt in diesem Zusammenhang. Er hat auch gewarnt zusammen mit Parker Gilbert oder die Abwicklung des Dawes-Plans in Deutschland begleitet. Sie haben sich mehrmals geäußert in den 1920er-Jahren, er hat gesagt: „Haltet Maß“, um in Ludwig Erhards Sprache zu bleiben. Aber die berühmten Oberbürgermeister Deutschlands, darunter übrigens auch Konrad Adenauer, haben sich nicht drangehalten.
MELINDA CRANE: Aber „Haltet Maß“ ist ein sehr schönes Schlusswort für unsere Veranstaltung heute. Ich möchte Ihnen beiden sehr danken für diesen sehr interessanten Austausch zum Thema „lessons learned“. Und auch einen herzlichen Dank an alle Rednerinnen dieses Abends. Auch an die Organisatorinnen, dass Sie uns ermöglicht haben, diesen Rückblick und die Lehren aus der Geschichte zu erörtern, war sehr, sehr faszinierend. Und vor allem herzlichen Dank an Sie, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit. Im Namen des Gastgebers darf ich nun einladen zu einem Empfang direkt draußen im Foyer. Da können wir die Gespräche informell weiterführen. Herzlichen Dank, ich wünsche Ihnen einen guten Abend!