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  • Analysen und Berichte

    Her­aus­for­de­run­gen und Chan­cen im Br­e­xit-Pro­zess

    • Das Vereinigte Königreich verlässt die Europäische Union. Dies bedeutet einen Rückschritt in den gemeinsamen Beziehungen zu den übrigen Mitgliedstaaten.
    • Innerhalb der zweijährigen Verhandlungsfrist werden die verbliebenen Mitgliedstaaten mit dem Vereinigten Königreich zunächst über ein Austrittsabkommen verhandeln. Zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb dieser zwei Jahre werden auch die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen beginnen.
    • Der Brexit stellt die verbliebenen Mitgliedstaaten vor die Herausforderungen, die Einheit der Europäischen Union und die Kohärenz des Binnenmarktkonzepts in dem Verhandlungsprozess zu wahren und den Schaden für Bürger und Unternehmen zu begrenzen.

    Einleitung

    Die Briten haben sich für den Brexit entschieden – sie werden die Europäische Union (EU) verlassen. Die britische Premierministerin Theresa May hat dies auf der Grundlage von Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union dem Europäischen Rat am 29. März 2017 offiziell mitgeteilt und damit eine zweijährige Frist für die Austrittsverhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland und den anderen 27 Mitgliedstaaten (EU-27) gestartet. Die Austrittsverhandlungen haben am 19. Juni 2017 offiziell begonnen. Der Kreis der EU-Mitgliedstaaten wird dadurch erstmals kleiner; eines der bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Länder Europas hat sich gegen das Projekt EU entschieden. Allerdings bleiben die Briten unsere europäischen Nachbarn. Oder, wie Theresa May es richtig gesagt hat: „Wir verlassen die EU, aber nicht Europa.“

    Die Gründe, die dazu geführt haben, dass sich eine knappe Mehrheit für den Brexit ausgesprochen hat, sind vielschichtig. Als ein Faktor wird die Zuwanderung gesehen, die im Vereinigten Königreich in den vergangenen Jahren insbesondere aus Osteuropa stark zugenommen und die in manchen Teilen der Bevölkerung zu Ängsten geführt hat. Dazu beigetragen hat aber vor allem auch das besondere britische Souveränitätsverständnis, das in der Unterordnung unter supranationale Organisationen und deren Entscheidungen immer schon einen Verlust an Volkssouveränität und Unabhängigkeit gesehen hat. Darüber hinaus ist das Brexit-Votum auch eine Entscheidung gegen die Solidargemeinschaft, die die EU beispielsweise in finanzieller Hinsicht darstellt und die zuletzt in der Euro- und in der Flüchtlingskrise gefordert war.

    Allerdings haben auch 48 % der Wähler gegen den Austritt gestimmt. Vor diesem Hintergrund ist die Aufgabe der britischen Regierung keine leichte, das Brexit-Votum umzusetzen, ohne die Gesellschaft dabei weiter zu spalten. Theresa May hatte sich vor den britischen Unterhauswahlen vom 8. Juni 2017 dazu entschlossen, das Land hinter einer Strategie zu vereinen, die die Stärke der britischen Nation als internationale Handelsmacht herausstellt. Sie hat die Vision eines „Global Britain“ entworfen, das unabhängig und abseits von den vermeintlichen Zwängen supranationaler Institutionen als „fully-independent, sovereign country“ in Handelsbeziehungen mit der ganzen Welt prosperieren wird. Ihre Strategie ist dabei konsequent an den Hauptzielen der Brexit-Kampagne ausgerichtet:

    • Einschränkung der Zuwanderung, d. h. Abschaffung der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
    • Keine Bindung an EU-Recht und vor allem nicht an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
    • Kein Beitrag mehr zum EU-Haushalt.

    Um sich von all diesen Verpflichtungen zu befreien, die mit der EU-Mitgliedschaft verbunden sind, beabsichtigt die britische Regierung, aus der EU auszutreten und damit auch den Binnenmarkt zu verlassen. Dies erscheint grundsätzlich konsequent. Inwieweit sich das Wahlergebnis der vorgezogenen Neuwahlen auf diese Strategie auswirkt, ist derzeit noch nicht konkret absehbar. Sicher ist, dass die britische Regierung ein großes Interesse hat, einen möglichst weitgehenden Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten. Denn schließlich ist die EU der mit Abstand größte Handelspartner. Ohne die Erfüllung der mit dem Binnenmarkt einhergehenden Verpflichtungen wird der Zugang dazu aber nicht ohne Weiteres möglich sein. Vielmehr ist klar, dass es mit dem Ausstieg aus dem Binnenmarkt einen Rückschritt in den gemeinsamen Handelsbeziehungen geben wird. Denn ein Land außerhalb der EU kann nicht besser gestellt werden als ein Mitgliedstaat, der neben den Vorzügen der EU auch sämtliche damit einhergehenden Pflichten zu erfüllen hat. Ein Rückschritt in den Handelsbeziehungen widerspricht aber grundsätzlich der Vision eines auf den freien Welthandel ausgerichteten Global Britain.

    Die Infografik veranschaulicht den Handel des Vereinigten Königreichs mit der EU. Das Handelsvolumen 2015 ist in Milliarden Euro angegeben. BildVergroessern

    Diese widerstreitenden Interessen und Widersprüche bilden den Hintergrund, vor dem die anstehenden Verhandlungen stattfinden. Neben den sich daraus ergebenden Herausforderungen liegen in diesem Prozess aber auch Chancen – sowohl für die EU als auch für Deutschland.

    Herausforderungen

    Der Brexit-Prozess stellt die EU-27 vor die schwierige Aufgabe, einerseits die über Jahrzehnte gewachsenen Verflechtungen mit dem Vereinigten Königreich wieder zu lösen und andererseits eine enge Partnerschaft aufrechtzuerhalten und auf ein neues Fundament zu stellen. In den anstehenden Verhandlungen stellen sich für die EU-27 dabei insbesondere die folgenden Herausforderungen.

    Wahrung der Einheit der EU-27

    Eine der bedeutsamsten Herausforderungen für die EU-27 wird die Aufrechterhaltung der Einigkeit sein. Hiervon wird der Erfolg der Verhandlungen für die EU-27 abhängen. Um einen einheitlichen Verhandlungsansatz zu gewährleisten, haben die EU-27 die Europäische Kommission beauftragt, die Austrittsverhandlungen für sie zu führen. Die EU-Kommission verfügt über die größte Expertise in allen vergemeinschafteten Bereichen. Der erfahrene französische Europapolitiker und ehemalige Binnenmarkt-Kommissar Michel Barnier wird die Verhandlungen leiten. Die EU-Kommission wird die Verhandlungen nach den Vorgaben der EU-27 führen. Am 29. April 2017 haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU-27 auf einem Sondergipfel auf Leitlinien geeinigt, die den allgemeinen Rahmen für die Austrittsverhandlungen vorgeben. In diesen Leitlinien bekennen sich die EU-27 ausdrücklich zu einem einheitlichen Verhandlungsansatz, der Einzelverhandlungen und -vereinbarungen zur Berücksichtigung von Partikularinteressen ausschließt.

    In der ersten Phase der Verhandlungen wird es allein um die Bedingungen des Austritts gehen. Erst wenn deutlich wird, unter welchen Bedingungen die Trennung erfolgt, kann in einer zweiten Phase darüber gesprochen werden, auf welche Grundlage die zukünftigen Beziehungen zu stellen sind. Auch auf dieses sogenannte Sequencing der Verhandlungen haben sich die EU-27 in den Leitlinien geeinigt.

    Dementsprechend haben die EU-27 der EU-Kommission zunächst ein beschränktes Mandat für die wichtigsten Fragen des Austrittsabkommens erteilt. Dies sind zum einen die Rechte der betroffenen Bürger auf beiden Seiten, die eine klare Priorität zu Beginn der Verhandlungen bilden, und zum anderen die Erfüllung der finanziellen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs. Die Leitlinien und das Mandat der EU-Kommission werden regelmäßig an den Verhandlungsstand angepasst und erweitert werden. Die EU-27 werden den Prozess eng begleiten, sich untereinander abstimmen und der EU-Kommission einvernehmlich Vorgaben machen. Die rasche Einigung auf die Leitlinien und das Verhandlungsmandat haben die Einigkeit der EU-27 bereits erfolgreich unter Beweis gestellt.

    Die Bundesregierung ist auf die Verhandlungen gut vorbereitet. Im Bundeskabinett befasst sich ein besonderer Kabinettsausschuss regelmäßig mit den wesentlichen Fragen des Brexits. Innerhalb der Bundesregierung sind alle Ressorts über den dafür eingerichteten „Arbeitsstab Großbritannien“ unter Federführung des Auswärtigen Amts an dem Brexit-Prozess beteiligt. Das BMF ist insbesondere für die Frage der finanziellen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs gegenüber der EU und für die Bereiche Finanzdienstleistungen, Zoll und Steuern zuständig.

    Wahrung der Integrität der EU und des Binnenmarktkonzepts

    Die Wahrung der Integrität und Kohärenz der EU und des Binnenmarktkonzepts sind weitere Herausforderungen, die in dem Brexit-Prozess besonders wichtig sind. Die zukünftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich müssen eine ausgewogene Balance zwischen Rechten und Pflichten darstellen. Dabei muss gelten, dass ein Staat nach seinem Ausscheiden aus der EU nicht besser dastehen darf als ein Mitgliedstaat.

    Einerseits besteht ein gegenseitiges Interesse an weiterhin guten Handelsbeziehungen, andererseits darf es keine „EU à la carte“ geben, in der man sich für wirtschaftliche Vorteile entscheiden und etwaige Nachteile abwählen kann. Es muss einen Unterschied machen, nicht mehr Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Die EU ist mehr als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft. Die Idee der EU liegt in der Schaffung eines Europa, in dem die Bürger frei leben, studieren, arbeiten, reisen und zu Wohlstand gelangen können. Gerade die Arbeitnehmerfreizügigkeit erlaubt es den Bürgern, das Potenzial des gemeinsamen Wirtschaftsraums persönlich zu nutzen. Die EU basiert deswegen auf einem Binnenmarktkonzept, das untrennbar alle vier Grundfreiheiten einschließlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit umfasst. Jeder, der vollen Zugang zu diesem Binnenmarkt in Anspruch nehmen will, muss die hieran geknüpften Bedingungen akzeptieren. In diesem Punkt werden sich die EU-27 nicht auseinanderdividieren lassen.

    Die vier Grundfreiheiten

    bilden die Grundlage des europäischen Binnenmarkts. Ihre rechtliche Grundlage findet sich im Vertrag über die Arbeitsweise der EU. Es handelt sich um:

    • die Warenverkehrsfreiheit
    • die Personenfreizügigkeit (Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit)
    • die Dienstleistungsfreiheit
    • die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit

    Dieses – alle vier Grundfreiheiten umfassende – Binnenmarktkonzept bestimmt daher auch die Beziehungen der EU zu Drittstaaten. Diese Beziehungen sind an dem Binnenmarktkonzept ausgerichtet. So besteht beispielsweise eine sehr enge Beziehung zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Für das Recht eines weitgehenden Marktzugangs verpflichten sich die EWR-Staaten im Gegenzug zur Anerkennung europäischer Regelungen und der Gewährung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Am anderen Ende des Spektrums der Drittstaatenbeziehungen der EU befinden sich auf Freihandelsabkommen basierende Beziehungen, wie z. B. das Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) mit Kanada. Das CETA-Abkommen wird nach seinem Inkrafttreten keine Personenfreizügigkeit gewähren und es enthält deswegen auch nur in ausgewählten, einzeln ausgehandelten Bereichen Marktzugangserleichterungen, die in keiner Weise mit den Rechten im Binnenmarkt zu vergleichen sind. Das gilt insbesondere für den Finanzdienstleistungsbereich.

    Unabhängig davon, wie offen der Marktzugang ausgestaltet sein wird, wird eine wichtige Frage dabei sein, wer im Streitfall über die Einhaltung der Regeln im Binnenmarkt entscheidet. Für die EU-27 kann dies nur der Europäische Gerichtshof sein. Jedenfalls müssen die Regeln, die im Binnenmarkt gelten, einheitlich in der Auslegung des EuGH angewandt werden. Das Vereinigte Königreich lehnt eine Bindung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dagegen ab. Die Frage des Streitschlichtungsmechanismus wird daher besonders kontrovers sein.

    Neben Fragen des reinen Marktzugangs kommen im Finanzmarktbereich noch Aspekte der Finanzmarktstabilität und des Regulierungsniveaus hinzu. Sobald das Vereinigte Königreich die EU verlässt, hat es grundsätzlich die Möglichkeit, Regulierungsstandards für Finanzdienstleistungen, auf die man sich gerade nach der Finanzkrise in der EU geeinigt hatte, einseitig zu ändern und gegebenenfalls – zu Lasten der Finanzstabilität und des Anlegerschutzes – abzusenken. In der Folge könnten Finanzmarktrisiken und –krisen, die in London entstehen, auf die EU durchschlagen. Dies gilt es durch sinnvolle Lösungen zu verhindern. Es ist daher notwendig, dass die EU-27 mit dem Vereinigten Königreich eine Regelung finden, die die Finanzmarktstabilität klar im Blick hat und ein solches „Regulierungsdumping“ vermeidet.

    Das Vereinigte Königreich hat bereits angekündigt, dass es bisherige Modelle mit Drittstaaten nicht als Vorbild nehmen wird und einen eigenen Deal verhandeln möchte. Dies ist angesichts der besonderen Situation und der engen Verwobenheit des Vereinigten Königreichs mit der EU aus britischer Sicht nachvollziehbar. Die Erwartung, dass damit eine Vorzugsbehandlung verbunden sein könnte, wäre allerdings verfehlt. Hier gilt es, wie bei anderen Modellen mit Drittstaaten auch, die richtige Balance zwischen Rechten und Pflichten zu finden und die widerstreitenden Interessen auszubalancieren.

    Reibungsloser Übergang

    Eine weitere Herausforderung in diesem Austrittsprozess ist es schließlich, einen ungeregelten Zustand nach Ablauf der zweijährigen Verhandlungsfrist für das Austrittsabkommen zu vermeiden. Ein solcher Zustand würde Friktionen und Risiken für Bürger und Unternehmen bedeuten. Man spricht hier von sogenannten Cliff-edge-Risiken. Klares Ziel der EU-27 ist daher eine Einigung mit dem Vereinigten Königreich. Auch die britische Regierung hat in ihrer Austrittserklärung konstruktive Verhandlungen mit dem Ziel einer Einigung in Aussicht gestellt. Eine Einigung liegt im beiderseitigen Interesse.

    Kritisch könnte aber insbesondere die kurze Verhandlungsfrist von zwei Jahren für das Austrittsabkommen sein. Die Erfahrung zeigt, dass die Verhandlung eines umfassenden Freihandelsabkommens mehrere Jahre dauern kann. Darüber hinaus muss ein solches Freihandelsabkommen – anders als das Austrittsabkommen – voraussichtlich in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden.

    Es gilt somit, einen möglichen Übergang nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs bis zum Wirksamwerden des zukünftigen Rahmens so zu regeln, dass er für Bürger und Unternehmen planbar ist und zu möglichst geringen Reibungsverlusten führt. Die britische Regierung plant zu diesem Zweck, zunächst den gesamten europäischen Gesetzesbestand, wie er am Tag des Austritts gilt, in nationales Recht zu überführen. Dies soll einen regulatorischen Bruch mit der EU soweit wie möglich vermeiden und gerade auch für die Wirtschaft eine gewisse Planungssicherheit schaffen.

    Ausreichend ist dies aber nicht. Dies gilt gerade für den Finanzdienstleistungsbereich, in dem grenzüberschreitende Dienstleistungen von Finanzdienstleistungsunternehmen im Binnenmarkt vielfach nur durch einen europäischen Pass möglich sind. Mit Hilfe des sogenannten Passportings wird die in einem Mitgliedstaat erteilte Erlaubnis für Dienstleistungen oder den Vertrieb von Finanzprodukten auch in den anderen Mitgliedstaaten der EU anerkannt. Selbst bei Aufrechterhaltung der regulatorischen Standards der EU im Vereinigten Königreich werden dort zugelassene Banken ihren europäischen Pass und damit den Zugang zu den Finanzmärkten in der EU verlieren.

    Es ist zum jetzigen Zeitpunkt noch zu früh, über etwaige Übergangsregelungen zu spekulieren. Entsprechende Fragen und Herausforderungen werden sich aber stellen, sobald deutlicher wird, wie die zukünftigen Beziehungen zum Vereinigten Königreich ausgestaltet werden. Dabei ist klar: Es ist zunächst und vorrangig die Aufgabe eines jeden Marktteilnehmers, zu analysieren, inwieweit er durch den Brexit betroffen ist, und rechtzeitig die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Es wäre fahrlässig, dies in Erwartung umfangreicher Übergangsbestimungen zurückzustellen.

    Chancen

    Der Brexit bleibt ein Rückschritt und eine „lose-lose“-Situation. Theresa May hat gleichwohl bei ihrem Amtsantritt verkündet, sie werde aus dem Brexit einen Erfolg für das Vereinigte Königreich machen. Im Gegenzug kann der Brexit auch Anlass bieten, die EU und den Wirtschafts- und Finanzstandort Deutschland zu stärken.

    Stärkung der EU

    Die Entscheidung für den Brexit war ein Weckruf und hat in weiten Teilen zu einem Umdenken in der Bevölkerung und Politik Europas geführt. Dieser Effekt des Brexit in den EU-27 muss aktiv genutzt werden, um die EU zu stärken.

    Die EU steht von vielen Seiten in der Kritik. Populistische Parteien haben sich diese vielfältige Kritik an der EU europaweit zu Nutze gemacht und sie für ihre Zwecke missbraucht. Wie die jüngsten Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich gezeigt haben, ist dennoch keine europaweite Austrittsstimmung zu erkennen. Es gab keinen Domino-Effekt. Die Europäer sehen die Lösung ihrer Probleme nicht außerhalb der EU, sondern besinnen sich zunehmend wieder auf die europäischen Werte und Errungenschaften.

    Diese Stimmung und dieses Momentum dürfen nicht ungenutzt bleiben. Die Regierungen der EU-27 haben im September 2016 mit der Bratislava-Agenda schnelle und greifbare Ergebnisse in den Bereichen „Migration und Außengrenzen“, „Innere und äußere Sicherheit“ und „Wirtschaftliche und soziale Entwicklung und junge Menschen“ in Aussicht gestellt. Erfolge wurden in diesem Kontext bereits durch einen verbesserten Grenzschutz erzielt. Eine engere Zusammenarbeit und ein verbesserter Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsdiensten der Mitgliedstaaten tragen zur Verhinderung unkontrollierter Migrationsströme bei. Auch die gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ist ein Bereich, in dem die EU eine engere Zusammenarbeit anstrebt. Die Pläne für einen Europäischen Verteidigungsfonds, mit dem die militärische Beschaffung verbessert werden soll, sind hier nur eines von vielen aktuellen Beispielen.

    Bratislava-Agenda

    Als Reaktion auf das Brexit-Votum kamen die Staats- und die Regierungschefs der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten der EU am 16. September 2016 zu einem Gipfel in Bratislava zusammen. Mit der „Erklärung von Bratislava“ legten sie ein Bekenntnis zur EU ab und beschlossen mit dem „Bratislava-Fahrplan“ ein Arbeitsprogramm für die folgenden Monate, mit dem der Wert der EU für die Menschen in Europa mit konkreten Initiativen in aktuellen Politikfeldern deutlich gemacht werden soll.

    Für die wirtschaftliche Entwicklung hat die EU durch eine europäische Investitionsoffensive, den sogenannten Juncker-Plan, bereits Investitionen in Höhe von rund 185 Mrd. € angestoßen. Die Bundesregierung unterstützt daher auch die von der EU-Kommission vorgeschlagene Verlängerung und Erhöhung des Europäischen Fonds für Strategische Investitionen (EFSI), um bis Ende 2020 ein Investitionsvolumen von insgesamt 500 Mrd. € zu erreichen. Bei der Umsetzung des Bratislava-Fahrplans wurde also bereits viel erreicht.

    Die EU-27 haben neben konkreten Initiativen für die EU aber auch die Zukunft der EU insgesamt im Blick. In ihrer gemeinsamen Erklärung vom 25. März 2017 zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge haben sie sich mit der Rom-Agenda Ziele für die nächsten zehn Jahre gegeben: ein sicheres Europa, ein Europa mit nachhaltigem Wachstum, ein soziales Europa und ein Europa, das seinen Platz in der Welt einnimmt. Um bei diesen Zielen Fortschritte zu erreichen, sind die EU-27 auch bereit – dort, wo noch nicht alle Mitgliedstaaten zu mehr Zusammenarbeit bereit sind –, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten voranzugehen. Die Gemeinschaft befindet sich also in einer Phase, in der sich die EU-27 intensiv Gedanken über ihre Zukunft machen. Auch die EU-Kommission beteiligt sich an diesem Prozess. Sie hat am 1. März 2017 ein Weißbuch zur Zukunft Europas veröffentlicht. Darin werden verschiedene Szenarien dargestellt, um ganz grundsätzlich zu überlegen, in welche Richtung wir die EU weiterentwickeln wollen. Es wird derzeit in vielfältiger Hinsicht daran gearbeitet, die EU unmittelbar heute und auch in Zukunft besser zu machen. Wenn die EU-27 gemeinsam in dieser Arbeit nicht nachlassen, kann auf den Rückschritt des Brexit ein Fortschritt für die EU folgen.

    Stärkung des Finanz- und Bildungsstandorts Deutschland

    Der Brexit bietet außerdem eine Chance, um den Standort Deutschland und insbesondere den Finanzstandort Rhein-Main zu stärken. Da die zukünftigen Beziehungen zum Vereinigten Königreich noch unklar sind und dadurch der Marktzugang Londons nicht gesichert ist, stellt sich die Standortfrage für viele Finanzdienstleistungsunternehmen bereits jetzt. Ähnliches gilt für britische Universitäten, die darüber nachdenken, Dependancen in den anderen Mitgliedstaaten zu eröffnen, um weiterhin von EU-Forschungsprogrammen profitieren zu können und für europäische Studenten attraktiv zu bleiben.

    Deutschland bietet sich hier als stabiler und attraktiver Standort an. Frankfurt am Main ist einer der führenden Finanzplätze Europas und ein höchst attraktiver Standort für Finanzunternehmen und Aufsichtsbehörden. Für Frankfurt spricht zum einen die Nähe zur Europäischen Zentralbank, zu deren Bankenaufsicht und zum Europäischen Systemrisikorat sowie zur Europäischen Aufsichtsbehörde für die betriebliche Altersversorgung. Die Rolle Frankfurts als Zentrum der Bankenaufsicht in Europa könnte durch eine Verlagerung der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde, die derzeit noch ihren Sitz in London hat, weiter gestärkt und vervollständigt werden. Es ist somit selbstverständlich, dass sich das Bundesland Hessen und die Bundesregierung für die Verlegung der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde nach Frankfurt einsetzen.

    Fazit

    Die Entscheidung der Briten für den Brexit ist für keinen überzeugten Europäer ein Anlass zur Freude. Der Brexit erlegt den EU-27 die Pflicht auf, die aufgezeigten Herausforderungen zu meistern und die kommenden Jahre erfolgreich zu nutzen, um einerseits die Union zu stärken und andererseits die Beziehungen zum Vereinigten Königreich dauerhaft auf eine faire Grundlage zu stellen, die widerspiegelt, dass es zwar nicht mehr Teil der EU ist, aber immer noch Teil Europas.

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