- Das BMF hat eine unabhängige Historiker-Kommission beauftragt, die Geschichte des Reichsfinanzministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus (NS) zu erforschen.
- In insgesamt sechs Teilprojekten werden Funktion und Tätigkeit des Ministeriums mit Beiträgen zur Behördengeschichte und zur Finanzpolitik, aber auch zum Mitwirken an nationalsozialistischen Verfolgungs- und Raubmaßnahmen im In- und Ausland beleuchtet.
- Die Forschungsergebnisse machen deutlich, dass das Reichsfinanzministerium und seine Angehörigen nicht fachlich neutral arbeiteten, sondern tief in das Wirken des nationalsozialistischen Unrechtsregimes verstrickt waren.
Die Idee für das Projekt
Das BMF ist seit den Anfängen der Bundesrepublik mit Fragen der Wiedergutmachung von NS-Unrecht befasst. In den Verfahren der Wiedergutmachung ging es in vielen Einzelfällen immer wieder darum, historische Vorgänge und Sachverhalte aufzuklären, um Verfolgte des NS-Regimes angemessen entschädigen zu können. Überdies ging es im Zusammenhang mit der deutschen Einheit um Fragen der Wiedergutmachung, aber auch um die Prüfung, ob vermögensrechtliche Ansprüche abzulehnen sind, weil Anspruchsteller selbst in staatliches Unrecht verstrickt waren. Aus dieser fachlichen Verantwortung besteht im BMF seit jeher eine besondere Kenntnis und Verantwortung hinsichtlich der deutschen Vergangenheit und deren Nachwirken bis in die Gegenwart.
Das Auswärtige Amt hatte im Jahr 2005 aufgrund einer in die Kritik geratenen Nachrufpraxis für ehemalige Angehörige eine Historiker-Kommission berufen, um klären zu lassen, in welchen historischen Zusammenhängen das eigene Haus steht und insbesondere, ob und in welchem Umfang sich mögliche personelle Kontinuitäten aus der NS-Zeit bis in die frühe Bundesrepublik nachzeichnen lassen. Angesichts dieses Forschungsauftrags entstand im BMF der Wunsch, die bisherige Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit auf eine systematischere und wissenschaftlich gesicherte Basis zu stellen. Es ging vor allem um die Frage, auf welche Weise und in welchem Ausmaß die Vorgängerverwaltung in die Verfolgung und Beraubung von Menschen unter der NS-Herrschaft verstrickt war. Um dies zu klären, sollte die Funktion und die Tätigkeit des Reichsfinanzministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus, also im Zeitraum von 1933 bis 1945, durch eine Historiker-Kommission untersucht werden.
Der Beginn des Projekts
Aufgabe eines Ministeriums ist es grundsätzlich, sich in seiner Zuständigkeit mit den drängenden Problemen der Gegenwart zu befassen, sie zu erkennen und nach Möglichkeit zu lösen. Die Untersuchung der eigenen Vergangenheit, insbesondere die wissenschaftliche Erforschung der Tätigkeit von Vorgängerbehörden, gehört hingegen nicht zu den üblichen Aufgaben eines Ministeriums. Für ein solches „fachfremdes“ Projekt eine überzeugende Lösung zu finden, ist daher eine besondere Herausforderung. Ausgangspunkt für die Überlegungen und Planungen zu einem derartigen Projekt war, dass die Untersuchung strengen wissenschaftlichen Anforderungen entsprechen sollte und die beauftragten Wissenschaftler nicht nur eine umfassende Unterstützung bei ihrer Forschungstätigkeit erhalten, sondern dass sie auch völlig unabhängig von Vorgaben oder Weisungen des Ministeriums arbeiten sollten.
Zur Umsetzung des Projekts sollten Historiker mit unterschiedlichen fachlichen Schwerpunkten angesprochen werden, um die Geschichte des Reichsfinanzministeriums unter möglichst vielen Aspekten beleuchten zu können. Dazu gehören Experten für Finanz- und Verwaltungsgeschichte, aber auch Experten für die Zeit des Nationalsozialismus. Mit Unterstützung und Beratung durch Ansprechpartner bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft gelang es, eine Kommission zu verpflichten, die diesen Anforderungen entspricht. Um die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Kommission von vornherein sicherzustellen, beschränkte sich die thematische Vorgabe des BMF auf die zu untersuchende Behörde und den zu untersuchenden Zeitraum – das Reichsfinanzministerium in der Zeit von 1933 bis 1945. Die konkret aufzuwerfenden Fragestellungen und die Schwerpunkte der Forschungsarbeiten sollten hingegen durch die Kommission selbst bestimmt werden.
Der Startschuss für das Projekt fiel daher im Juni 2009 mit einer wissenschaftlichen Tagung, in der die Mitglieder der Kommission gemeinsam mit anderen eingeladenen internationalen Wissenschaftlern und Experten, etwa Vertretern des Bundesarchivs, über die Themen und Fragen diskutierten, die Gegenstand des Projekts werden könnten. Unter Einbeziehung der hierbei gesammelten Erkenntnisse wurde dann von den Mitgliedern der Historiker-Kommission ein Forschungskonzept erstellt, das alle nach ihrer Einschätzung wesentlichen zu erforschenden Bereiche enthielt. Neben einer umfassenden „Behördengeschichte“ des Ministeriums wurden einzelne Politik- und Tätigkeitsbereiche als weitere Teilprojekte zur Erforschung ausgewählt. Ein wichtiger Schwerpunkt sind die Verfolgungsmaßnahmen gegen jüdische Bürger und sogenannte Feinde des Reichs, wie Sinti und Roma, Gewerkschafter aber auch verfolgte politische Gegner. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Rolle des Reichsfinanzministeriums in den ab 1939 besetzten Gebieten Europas. Schließlich sollte die Verschuldungs- und Steuerpolitik des Reichsfinanzministeriums näher untersucht werden. Das Gesamtprojekt wurde daher in sechs Teilprojekte unterteilt. Mit der Forschungsarbeit wurde jeweils ein einzelner, von der Kommission ausgewählter wissenschaftlicher Bearbeiter beauftragt, der diese im Rahmen einer Promotion beziehungsweise Habilitation leisten sollte. Die Kommission koordiniert die Arbeiten. Die einzelnen Teilprojekte werden in den kommenden Monatsberichten von den Bearbeitern vorgestellt.
Mitglieder der Historiker-Kommission
Prof. Dr. Jane Caplan, Oxford
Prof. Dr. Ulrich Herbert, Freiburg
Prof. Dr. Hans Günter Hockerts, München
Prof. Dr. Werner Plumpe, Frankfurt
Prof. Dr. Adam Tooze, Yale
Prof. Dr. Hans-Peter Ullmann, Köln (Sprecher der Kommission)
Prof. Dr. Patrick Wagner, Halle
Die Durchführung des Projekts
Derzeit liegen abgeschlossene und veröffentlichte Studien zu zwei Teilprojekten vor: Von Prof. Dr. Christiane Kuller unter dem Titel „Bürokratie und Verbrechen“ und von Dr. Jürgen Kilian unter dem Titel „Krieg auf Kosten anderer“. Weitere Teilprojekte stehen kurz vor dem Abschluss und der Publikation. Entgegen der ursprünglichen Planung musste der Projektzeitraum, der im Jahr 2009 zunächst auf drei bis vier Jahre angelegt war, deutlich erweitert werden.
Die Gründe hierfür waren vielfältig, zwei Beispiele seien exemplarisch genannt: Ob und in welchem Umfang das Reichsfinanzministerium überhaupt eine Rolle in den besetzten Gebieten gespielt hat, war zu Beginn der Projekts kaum bekannt. Es waren zunächst umfangreiche Vorstudien erforderlich, um entscheiden zu können, ob hier ein lohnendes Forschungsgebiet zu erschließen war. Dass dies der Fall ist, macht die Studie von Jürgen Kilian deutlich. Folgen wird in diesem Bereich die Studie von Ramona Bräu zum Generalgouvernement. Eine entgegengesetzte Erkenntnis erbrachte die Beschäftigung mit der Rolle des Reichsfinanzministeriums bei der Verschuldung des Deutschen Reichs. Hier wurde deutlich, dass das Ministerium nur eine untergeordnete Funktion hatte, die entgegen der ursprünglichen Vermutung eine eigene Studie nicht ergiebig erscheinen ließ.
Zeitlich aufwendiger als zunächst gedacht waren auch die Erschließung und die Sichtung der einschlägigen Quellenbestände. Für die systematische Darstellung des Reichsfinanzministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus waren nicht nur die bisherigen wissenschaftlichen Studien und Erkenntnisse auszuwerten, sondern es musste auch auf bisher unerschlossene Quellen in Deutschland, aber auch im Ausland zurückgegriffen werden. Damit war der Fortgang des Projekts auch abhängig vom Auffinden und der Zugänglichkeit dieser Quellen. Erschwerend kam hinzu, dass größere Aktenbestände des Reichsfinanzministeriums in Berlin im Zusammenhang mit Kriegsereignissen verloren gegangen sind oder vernichtet wurden, sodass immer wieder Lücken in der Überlieferung zu verzeichnen waren.
Die Bedeutung des Projekts
Bei der Veröffentlichung der letzten Teilstudien – voraussichtlich im Jahr 2019 – wird die Bundesrepublik 70 Jahre alt sein. Mancher mag daher bedauern, dass eine umfassende Darstellung des Reichsfinanzministeriums in der Zeit der Nationalsozialismus erstmalig zu diesem Zeitpunkt vorliegen wird, auch wenn zahlreiche Einzelstudien zeigen, dass die Finanzverwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus auch bisher schon durchaus Gegenstand der Forschung war.
Andererseits lässt sich positiv hervorheben, dass sich unsere Zeit dieser Aufgabe stellt. Der aktuellen Generation von Historikern kommt dabei zugute, dass sich nach 1989 neue Zugänge zu Archiven und Aktenbeständen ergeben haben, sich die Quellenlage also teilweise deutlich verbessert hat. Auch die wissenschaftliche Herangehensweise an dieses Thema entspricht den Kenntnissen und Entwicklungen unserer Zeit. Für das BMF ist es wichtig, ein Projekt zu unterstützen, das in diesem Umfang ohne die gezielte Förderung durch das Ministerium vermutlich kaum auf den Weg gebracht worden wäre. Die Hoffnung ist, dass zukünftige historische Forschung, die wieder neue Fragen aufwerfen wird, auf den hierbei gesammelten Erkenntnissen aufbauen kann.
Im Herbst 2018 werden noch nicht alle Teilprojekte veröffentlicht sein, da zum Teil noch universitäre Verfahren zu durchlaufen sind, die Forschungsergebnisse werden aber Teil einer Abschlusstagung mit internationalen Wissenschaftlern sein, die die gewonnenen Erkenntnisse auch in einen größeren Rahmen stellen wird.
Bisherige Veröffentlichungen im Rahmen des Projekts:
Christiane Kuller, Bürokratie und Verbrechen
Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland
De Gruyter Oldenbourg 2013, ISBN 978-3-486-71659-7
Jürgen Kilian, Krieg auf Kosten anderer
Das Reichsministerium der Finanzen und die wirtschaftliche Mobilisierung Europas für Hitlers Krieg
De Gruyter Oldenbourg 2017, ISBN 978-3-11-044974-7