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  • Analysen und Berichte

    De­mo­gra­fi­sche Rah­men­be­din­gun­gen für die lang­fris­ti­ge Ent­wick­lung der Al­te­rungs­kos­ten in den Mit­glied­staa­ten der Eu­ro­päi­schen Uni­on

    • Deutlich veränderte demografische Rahmenbedingungen bestimmen die neuen langfristigen Budgetprojektionen in Europa.
    • Eurostat, die europäische Statistikbehörde, gibt die Bevölkerungsprojektionen für die einzelnen Mitgliedstaaten vor, die sich gegenüber dem vorherigen Bericht für viele Mitgliedstaaten deutlich verändert haben.
    • Die Ageing Working Group des Wirtschaftspolitischen Ausschusses der EU verständigt sich mit der Europäischen Kommission auf die makroökonomischen Annahmen für die Langfristprojektionen.
    • Anders als im Tragfähigkeitsbericht des BMF, der auf die nationale Entwicklung abstellt, sind die Annahmen des Ageing Report von einer Konvergenz unter den Mitgliedstaaten geprägt.
    • Szenarien verdeutlichen Risiken im gesamtwirtschaftlichen Umfeld.

    Einleitung

    Die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) steht vor enormen Herausforderungen, maßgeblich geprägt durch den demografischen Wandel. Geeignete strategische Antworten auf diese Herausforderungen müssen der Verantwortung für die Generationen gerecht werden. Voraussetzung ist, eine klare Vorstellung von den ökonomischen und fiskalischen Langfristperspektiven der Mitgliedstaaten zu entwickeln.

    Vor diesem Hintergrund veröffentlicht der Wirtschaftspolitische Ausschuss der EU (WPA) in enger Zusammenarbeit mit der EU-Kommission im Dreijahresrhythmus den Alterungsbericht der EU, den sogenannten Ageing Report 1. Die darin präsentierten Projektionen legen die von den demografischen Trends ausgelösten aktuellen und zukünftigen Politikherausforderungen offen. Der Bericht stellt darüber hinaus ein wichtiges Analyseinstrument der relativen Lage der Mitgliedstaaten dar, indem ein reichhaltiges Set an vergleichbaren Informationen über einen sehr langen Zeithorizont für die EU-Mitgliedstaaten aufbereitet wird. Die Projektionen fließen in eine Reihe von Politikprozessen auf europäischer Ebene ein. Insbesondere werden sie im Rahmen des Europäischen Semesters genutzt, um die finanzpolitischen Herausforderungen zur Sicherstellung nachhaltiger Staatsfinanzen zu identifizieren sowie im Rahmen des Stabilitätsund Wachstumspakts die finanzpolitischen Mittelfristziele (medium term objective, MTO) abzuleiten. Höhere alterungsbedingte Kosten führen dabei zu anspruchsvolleren Defizitvorgaben.

    In der Ageing Working Group (AWG) des Ausschusses werden zwischen den dort vertretenen Länderexperten und der EU-Kommission wesentliche Annahmen wie etwa Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung abgestimmt, die den demografischen und makroökonomischen Rahmen für die Projektion der Alterungskosten und damit für die Bewertung der fiskalischen Tragfähigkeit in den Mitgliedstaaten darstellen. Der Projektionszeitraum erstreckt sich im laufenden Berichtszyklus von 2016 bis 2070, er wurde damit gegenüber früheren Berichten um eine Dekade ausgeweitet, um die langfristigen demografischen Effekte fortschreiben zu können. Das vom WPA indossierte und von der EU-Kommission veröffentlichte Annahmengerüst weist deutliche Veränderungen gegenüber den bisherigen Rahmendaten und Annahmen auf, was erhebliche Auswirkungen auf die Langfristprojektionen hat2.

    Methodischer Hintergrund

    Ausgangspunkt für die Langfristprojektionen sind die Bevölkerungsprojektionen von Eurostat für den Zeitraum 2016 bis 2070. Die Arbeitsgruppe verständigt sich zudem auf zentrale Annahmen und methodische Ansätze, die zur Bestimmung der Langfristtrends zentraler makroökonomischer Variablen von Bedeutung sind. Hierzu zählen Annahmen zum Arbeitsmarkt, konkret zur NAWRU, den Partizipationsraten im Rahmen eines Kohorten-Simulationsmodells der EU-Kommission beziehungsweise entsprechenden Beschäftigungsraten (für Altersjahrgänge getrennt) mit Konvergenzannahmen zum jeweiligen Langfristtrend. Schließlich sind Annahmen zur Arbeits- beziehungsweise zur totalen Faktorproduktivität (TFP) erforderlich sowie eine Hypothese zur Entwicklung des Kapitalstocks. Als exogene Größe geht ebenfalls der Realzins ein. Über eine Schätzung der Produktionsfunktion lässt sich aus diesen Größen das Potenzialwachstum ableiten. Zu den zentralen Annahmen werden ausgehend vom Baseline-Szenario weitere Sensitivitäts- und Risikoszenarien entwickelt, die die Unsicherheiten der Projektionen über den sehr langen Zeithorizont erfassen sollen. Das betrifft insbesondere optimistischere oder pessimistischere Annahmen zu Migration und Fertilität, aber auch zum TFP-Wachstum, zur NAWRU oder zum Zinssatz.

    NAWRU

    ist die Abkürzung für das Konzept der "Non-Accelerating Wage Rate of Unemployment". Es beschreibt das Niveau der Arbeitslosenquote, bei welcher kein Inflationsschub durch Lohnerhöhungen ausgelöst wird.

    Erst wenn die demografischen und gesamtwirtschaftlichen Grundlagen feststehen, können für die zentralen demografiesensitiven Ausgabenkategorien (d. h. insbesondere Rente, aber auch Pflege oder Gesundheit) auf dieser Basis Fortschreibungen für die lange Frist vorgenommen werden, wiederum auf Basis von Modellen der EU-Kommission beziehungsweise auf Basis nationaler Modelle, die jeweils bestimmten, in der AWG abgestimmten Standards genügen müssen. Auf Grundlage der aggregierten Projektionen lassen sich sogenannte Tragfähigkeitslücken ermitteln, die quantifizieren, in welchem Umfang zukünftig aufgrund des demografischen Wandels und der im Endeffekt damit verbundenen Veränderungen auf der Einnahmen- und Ausgabenseite finanzpolitische Anpassungsmaßnahmen erforderlich sind.

    Demografische Projektionen

    Die budgetären Langfristanalysen der EU basieren auf den Bevölkerungsprojektionen von Eurostat für den Zeitraum von 2016 bis 2070. Die Vorausberechnungen wurden von der europäischen Statistikbehörde unabhängig erarbeitet, nationale Statistikämter waren im Rahmen von Facharbeitsgruppen eingebunden, gleichwohl sind die von Eurostat verantworteten demografischen Projektionen nicht mit den Statistikämtern oder den Vertretern der zuständigen EU-Arbeitsgruppe abgestimmt.

    Die Infografik veranschautlicht demografische und gesamtwirtschaftliche Projektionen in Europa. BildVergroessern
    Abbildung 1

    Die Projektionen bilden das Zusammenspiel von Geburtenraten, Lebenserwartung und Migration ab, für die sehr langfristig eine Tendenz zur Konvergenz unter den Mitgliedstaaten angenommen wird. Während für Europa insgesamt die Bevölkerungszahl im Projektionszeitraum (bis zum Jahr 2060 beziehungsweise 2070) geringfügig ansteigt, liefern die aktuellen Bevölkerungs-Zeitreihen für die einzelnen Mitgliedstaaten heterogene Bilder.

    So wird für die EU insgesamt ein durchaus beachtlicher Anstieg der Fertilitätsrate von 1,58 im Jahr 2016 auf 1,81 im Jahr 2070 unterstellt. Gleichwohl ist dieser Anstieg noch nicht ausreichend, um für Europa langfristig die Reproduktionsschwelle von 2,1 Geburten pro Familie zu erreichen. Das gilt verstärkt für Länder mit traditionell niedrigen Geburtenraten wie etwa Deutschland, für das langfristig immerhin ebenfalls ein deutlicher Anstieg der Fertilitätsrate von rund 1,5 auf 1,68 angenommen wird.

    Auch die Lebenserwartung soll in Europa über den Projektionszeitraum weiterhin deutlich ansteigen, und zwar um 7,8 Jahre bei den Männern sowie um 6,6 Jahre bei den Frauen, wobei ein besonders akzentuierter Anstieg in Ländern mit einer aktuell relativ geringen Lebenserwartung gesehen werden kann. Für Deutschland wird sogar mit einem Anstieg der Lebenserwartung um 8,1 Jahre bei den Männern (von 78 Jahre auf 86,1 Jahre) und 7,1 Jahre bei den Frauen (von 83 Jahre auf 90,1 Jahre) gerechnet.

    Die größte Unsicherheit besteht bei der Projektion der Migrationsdynamik. Diese ist geprägt vom aktuell sehr hohen Zuzug von Migranten in einigen EU-Mitgliedstaaten, wobei für die EU insgesamt über den gesamten Projektionszeitraum ein Rückgang der Nettozuwanderung von derzeit 1,5 Millionen Personen auf jährlich 800.000 Personen erwartet wird. Die aktuell hohe Nettozuwanderung nimmt demnach allerdings nur langsam ab. Für Deutschland bedeutet dies, Eurostat zufolge, dass die Nettozuwanderung von einem sehr hohen Ausgangsniveau von 1,14 Millionen Personen im Jahr 2015 über 238.000 Personen im Jahr 2030 auf 175.000 Personen im Jahr 2060 beziehungsweise knapp 144.000 Personen im Jahr 2070 konvergiert. Ähnlich starke Anpassungsprozesse gibt es laut Eurostat in Österreich, Schweden, Belgien oder auch Italien, wobei in einigen Ländern vor allem gegenüber den Projektionen aus dem Jahr 2014, eine extreme, nur schwer erklärbare Veränderung in den Annahmen zu verzeichnen ist.

    Insbesondere die Altersstruktur der Bevölkerung wird sich deutlich verändern. Den Projektionen zufolge soll der Altersquotient – also das Verhältnis von Personen über 65 Jahren zur Altersgruppe der 15- bis 64-Jährigen – in Deutschland erheblich ansteigen, von 32,2 % im Jahr 2016 auf 55,9 % im Jahr 2070, wobei der Großteil dieses Anstiegs bereits in den ersten Jahrzehnten des Projektionszeitraums erfolgt (Babyboomer-Effekt). In der EU steigt dieser Alterskoeffizient von 29,6 % im Jahr 2016 auf 51,2 % im Jahr 2070. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die makroökonomische Entwicklung und die langfristige Entwicklung einzelner öffentlicher Ausgabenkategorien. Das bedeutet insbesondere, dass bei ansonsten konstanten Rahmenbedingungen ein geringeres Erwerbspersonenpotenzial auch ein geringeres Wachstumspotenzial mit sich bringt, während der Ausgabendruck etwa bei Rente und Pflege deutlich ansteigt. Nur einzelne EU-Mitgliedstaaten, darunter vor allem die skandinavischen Länder und Frankreich, sind von diesem Alterungsprozess der Bevölkerung weniger tangiert.

    Der Altenquotient in ausgewählten EU-Staaten 2016 bis 2070 (Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen im Verhältnis zu den 15- bis 64-Jährigen)

    in %

    Das Liniendiagramm zeigt denAltenquotient in ausgewählten EU-Staaten 2016 bis 2070 (Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen im Verhältnis zu den 15- bis 64-Jährigen)
    Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Daten des Wirtschaftspolitischen Ausschusses/Europäische Kommission (2017), The 2018 Ageing Report: Underlying Assumptions and Projections Methodologies
    nullDeutschlandFrankreichItalienPolenSchwedenEU 27
    201632,13034,223,131,529,3
    201732,330,734,724,231,729,9
    201832,731,535,125,43230,5
    202033,732,936,127,832,531,7
    202537,236,239,233,733,535,1
    203042,939,744,33734,639,1
    203548,142,650,93936,143,2
    204049,445,157,342,236,946,4
    204549,845,261,447,537,248,7
    205051,245,162,554,637,950,3
    20605543,461,264,842,651,6
    207055,944,660,262,443,151,2
    Abbildung 2

    Den Bevölkerungsprojektionen zufolge verzeichnen Länder wie Deutschland, Italien, Griechenland oder Polen Bevölkerungsrückgänge, die für einzelne Länder massiv sind, während für Mitgliedstaaten wie Frankreich, Österreich oder Spanien teilweise deutliche Bevölkerungszuwächse erwartet werden.

    Makroökonomische Annahmen

    Die demografischen Größen fließen ein in die von der EU-Kommission in Abstimmung mit der AWG geschätzte strukturelle Produktionsfunktion. Wesentliche Bestimmungselemente sind die Entwicklung der Partizipationsraten (also der Anteil der Erwerbstätigen am Erwerbspersonenpotenzial) sowie der strukturellen Arbeitslosigkeit, die Fortschreibung des Kapitalstocks sowie die Dynamik der TFP. Dabei sind die strukturellen Trends dieser zentralen Inputgrößen von kurz- und mittelfristigen Schätzungen im Rahmen anderer Arbeitsgruppen des WPA sowie durch die EU-Kommission vorgeprägt.

    Der Trend des Potenzialwachstums liegt für Deutschland zwischen 1,0 % und 1,2 %; das ist eine leichte Verbesserung gegenüber der Projektionsrunde 2015. Er liegt jedoch deutlich unterhalb des EU-Trends von 1,4 %, obwohl Deutschland mit einem überdurchschnittlich hohen Potenzialwachstum von 1,6 % startet (EU insgesamt +1,45 %).

    Für Deutschland gilt, dass die Beschäftigungsraten (also der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung) heute höher sind als noch vor einigen Jahren erwartet. Perspektivisch wird sich die Anzahl der Erwerbstätigen aufgrund der langfristig niedrigen Geburtenraten sowie eines geringeren Migrationspotenzials von Erwerbspersonen aus dem EU-Ausland vermindern. Gleichzeitig wird angenommen, dass die Partizipationsraten auf dem erreichten hohen Niveau weiter ansteigen, insbesondere durch die weiter steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmern. Im Zusammenspiel mit den Strukturbedingungen auf den Märkten führt die Bevölkerungsdynamik zu einem langfristigen Anstieg der Partizipationsraten um 0,6 Prozentpunkte (zum Vergleich: EU mit einem Anstieg um 3,2 Prozentpunkte).

    Für die Bestimmung der NAWRU in der langen Frist wird angenommen, dass Länder mit aktuell niedrigen Arbeitslosenquoten auf einem „niedrigen“ Niveau bleiben, das lediglich durch die Demografie beeinflusst wird. Länder mit hohen Arbeitslosenraten passen sich sehr langfristig an diesen Wert an. So wird für die NAWRU in Deutschland ein Gleichgewichtswert von 4,8 % unterstellt, der bereits in naher Zukunft im Jahr 2026 erreicht wird, während sich für die EU insgesamt für lange Zeit noch eine deutlich höhere Arbeitslosenrate mit einem Konvergenzwert ab 2050 von 6,5 % einstellt.

    Die strukturell gute Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt übersetzt sich in entsprechenden Partizipations- und Beschäftigungsraten, und zwar für alle Alterskohorten.3 Im Ergebnis führt gleichwohl der demografische Effekt für den Arbeitsmarkt zu einem negativen Wachstumsbeitrag des Faktors Arbeit für das Wachstumspotenzial (-0,3 Prozentpunkte). Dagegen gleichen sich in der EU insgesamt demografische Effekte und die strukturellen Bedingungen auf den Arbeitsmärkten weitgehend aus (-0,1 Prozentpunkte).

    Der Wachstumstrend des technischen Fortschritts, die TFP, ist schwer zu bestimmen. Als Residualgröße der Produktionsfunktion entspinnt sich an der TFP die Frage, in welche Richtung sich die technologische Entwicklung in Europa bewegt. Ausgehend von hohen Wachstumsraten des technischen Fortschritts in den 1960er und 70er Jahren hat sich die Dynamik spätestens im Kontext der Finanzkrise 2008 stark abgeflacht. Unklar ist, ob es perspektivisch zu einem Rebound der technologischen Entwicklung kommt und welche Rolle der Digitalisierung für die Evolution des technischen Fortschritts in den kommenden Jahrzehnten zukommen wird. Dabei spielt auch die Alterung der Gesellschaft eine Rolle, die Auswirkungen auf das Innovationspotenzial der Gesellschaft haben kann und in Deutschland auch bereits hat, was etwa die Untersuchungen der Kreditanstalt für Wiederaufbau zum Einfluss der Alterung der Erwerbstätigen auf die Innovationskraft deutscher mittelständischer Unternehmen belegt.

    Die relative Entwicklung des technischen Fortschritts im Verhältnis zu anderen Ländern hat wesentlichen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften. Für die EU wird angenommen, dass das Wachstum der TFP auf ein Niveau von 1,0 hin konvergiert. Deutschland bewegt sich aktuell etwa auf diesem Niveau. Gleichzeitig wurden Risikoszenarien einbezogen, in denen ein deutlich geringeres TFP-Wachstum unterstellt ist.

    Die Tabelle 1 schlüsselt die jeweilige Stärke der Beiträge zum Potenzialwachstum auf, wobei der Beitrag zum Faktor Arbeit tiefer untergliedert wird. Deutlich wird, dass in Deutschland (wie in der Mehrzahl der Länder der EU und insbesondere auch in Polen) der demografische Effekt negativ auf das BIP-Wachstum wirkt, während in einigen Ländern der EU hiervon ein klar positiver Beitrag ausgeht (etwa Schweden oder Frankreich).

    Aufteilung der Wachstumsbeiträge in ausgewählten EU-Mitgliedstaaten

    Tabelle vergrößern
    Tabelle 1

    Berücksichtigung von Schätzunsicherheiten

    Die langfristigen Projektionen sind von erheblichen Schätzunsicherheiten geprägt. Da sehr lange Zeiträume abgebildet werden, entfalten auch geringfügige Annahmeänderungen eine erhebliche Dynamik.

    Illustrativ ist ein Vergleich mit der Bevölkerungsprojektion, die dem Ageing Report 2015 zugrunde liegt. Einzelne Länder haben demnach im Vergleich zur Projektion von vor drei Jahren mit einem deutlich geringeren Bevölkerungsrückgang zu rechnen, darunter auch Deutschland. Während die europäische Statistikbehörde für den Ageing Report 2015 noch von einem langfristigen Rückgang der Bevölkerung in Deutschland um 10½ Millionen Personen ausging, erwartet Eurostat im Vergleichszeitraum nunmehr nahezu eine Konstanz der Bevölkerungszahl. Erst im Jahrzehnt 2060 bis 2070 würde es demnach zu einem prononcierteren Rückgang um gut 1½ Millionen Personen kommen. Auch bei anderen Mitgliedstaaten hat sich die Bevölkerungsdynamik gedreht: Italien verzeichnet nach den neuesten Eurostat-Projektionen einen erheblichen Bevölkerungsrückgang von knapp 4 Millionen Personen bis 2060 beziehungsweise knapp 6 Millionen Personen bis 2070, während im Ageing Report 2015 für Italien noch von einem Bevölkerungsanstieg um gut 6 Millionen Personen ausgegangen wurde. Eine ähnlich gelagerte – wenngleich weniger ausgeprägte – Änderung zeigt sich für Länder wie Belgien, Tschechien oder die Niederlande.

    Der Vergleich der demografischen Annahmen zeigt, wie stark ein demografischer Trend auf Änderungen am aktuellen Rand (z. B. Flüchtlingsmigration) oder methodische Änderungen (etwa zur Fertilitätsentwicklung) reagiert und wie abhängig die Langfristprojektionen von getroffenen Annahmen sind. Gegenüber den Bevölkerungsprojektionen des Statistischen Bundesamts (Destatis), auf die sich das BMF bei seinem Tragfähigkeitsbericht stützt, sind die Projektionen von Eurostat zudem deutlich volatiler. Nichtsdestotrotz ändert für Deutschland die aktuell günstigere Entwicklung der absoluten Bevölkerungszahlen kaum etwas am fundamentalen Trend einer alternden Gesellschaft, der die Handlungsspielräume der öffentlichen Haushalte und der sozialen Sicherungssysteme prägt und beschränkt.

    Um die Unsicherheiten der Projektion der zukünftigen demografischen und makroökonomischen Bedingungen abzubilden, enthält der Bericht Sensitivitätsanalysen zu zentralen Stellgrößen. So werden im Bereich Bevölkerung Szenarien unterstellt, die von einer höheren Lebenserwartung – und damit tendenziell höheren Alterungskosten – ausgehen. Für die Migration wird über den Projektionszeitraum ein um 33 % höheres beziehungsweise niedrigeres Migrationsniveau unterstellt. Schließlich wird eine um 20 % niedrigere Fertilität angenommen.

    Im Bereich des Arbeitsmarkts werden um 2 Prozentpunkte höhere beziehungsweise niedrigere Beschäftigungsraten unterstellt sowie um 10 Prozentpunkte höhere Beschäftigungsraten von Älteren (Altersgruppe der 55- bis 74-Jährigen). Um die Unsicherheit im Hinblick auf die langfristige technologische Entwicklung abzubilden, wurde ein um 0,4 Prozentpunkte höheres beziehungsweise niedrigeres TFP-Wachstum sowie ein Risikoszenario mit einem TFP-Konvergenzwert von 0,8 % modelliert. Hinsichtlich der Bewertung von Politikansätzen wird als Politikvariable eine Kopplung des gesetzlichen Renteneintrittsalters an die Änderung der Lebenserwartung unterstellt.

    Die zugrunde gelegten alternativen Annahmen sollen den Rahmen abstecken, der für zentrale budgetrelevante Makrogrößen erwartet werden kann. In der deutschen Tragfähigkeitsberichterstattung gibt es demgegenüber jeweils ein optimistisches und ein pessimistisches Szenario, um den Einfluss unterschiedlicher Annahmen auf die Ergebnisse abzubilden.

    Schlussfolgerungen

    Auf Basis der auf europäischer Ebene abgestimmten Rahmendaten können die Alterungskosten in der EU projiziert und von dort aus die fiskalische Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte in den EU-Mitgliedstaaten bewertet werden. Die Projektionen sind ein fester Bestandteil der haushaltspolitischen Überwachung der Mitgliedstaaten durch die EU-Kommission und den Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN).

    Der im November 2017 veröffentlichte erste Teil des Ageing Report 2018 beinhaltet einen systematischen und EU-weit vergleichbaren Katalog an ökonomischen Makrogrößen in ihrer strukturellen Fortschreibung bis zum Jahr 2070 (etwa zur Schätzung des Produktionspotenzials); er stellt damit einen konsistenten, zwischen den Mitgliedstaaten vergleichbaren Rahmen zur Bewertung langfristiger Tragfähigkeitsrisiken dar. Notwendigerweise werden nationale Spezifika weniger klar in der Modellstruktur sichtbar, zumal sehr langfristig eine Konvergenz der Entwicklungen in den Mitgliedstaaten angenommen wird, gleichwohl erscheinen die makroökonomischen Eckdaten als schlüssig. Auf dieser Grundlage wird der ECOFIN-Rat voraussichtlich im Mai dieses Jahres den Ageing Report 2018: Economic and Budgetary Projections for the EU Member States 2016-2070 veröffentlichen, der die alterungsbedingten fiskalischen Belastungen für die kommenden Jahrzehnte quantifiziert und so eingeht in die Bewertung der fiskalischen Tragfähigkeit der EU-Mitgliedstaaten durch die EU-Kommission im Rahmen ihres Fiscal Sustainability Report.

    Auf Basis der zentralen Variablen wird deutlich, welchen Einfluss Demografie auf die langfristigen ökonomischen Rahmenbedingungen in Deutschland und Europa hat. Schon jetzt ist erkennbar, dass die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur die Beschäftigung und damit das Arbeitskräfte- und Produktionspotenzial langfristig erheblich dämpfen werden. Dieser Trend kann nur durch große wirtschaftspolitische Anstrengungen durch Produktivitätsgewinne teilweise kompensiert werden. In den kommenden Dekaden können sich zusätzliche Risiken für die Tragfähigkeit materialisieren. Auch diese sind durch geeignete wirtschaftspolitische Strukturreformen zu adressieren.

    Vor diesem Hintergrund bleibt eine wachstums- und zukunftsorientierte Konsolidierungspolitik zentral: Denn nur der Zusammenklang von solider Haushaltspolitik, einem effizienten und vorausschauenden Mitteleinsatz und flankierenden strukturellen Reformen versetzt Deutschland und Europa in die Lage, die Herausforderungen des demografischen Wandels frühzeitig anzugehen und die Wachstumskräfte weiter zu stärken.

    Fußnoten

    1
    Ageing Report 2018
    2
    Siehe www.tragfaehigkeit.de
    3
    Im Einzelnen siehe Ageing Report 2018: Underlying Assumptions and Projections Methodologies, Part I, Abschnitt 3.

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