- Die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in den EU-Mitgliedstaaten steht weiterhin vor großen, durch den demografischen Wandel bestimmten Herausforderungen. Deutschland liegt beim Anteil der altersabhängigen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) leicht unter dem EU-Durchschnitt, ist aber überproportional stark vom Anstieg der alterungsbedingten Ausgaben betroffen.
- Viele Mitgliedstaaten haben Reformen der sozialen Sicherungssysteme eingeleitet, um dem demografischen Wandel zu begegnen. Die Projektionen gehen von einer Umsetzung dieser Maßnahmen aus.
- Laut Bericht kann eine wachstumsfreundliche und zukunftsgerichtete Finanzpolitik in Kombination mit gezielten Strukturreformen die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in den EU-Mitgliedstaaten erhöhen.
Einleitung
Die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in den EU-Mitgliedstaaten steht vor großen Herausforderungen, geprägt durch den demografischen Wandel. Um geeignete generationengerechte Antworten zu entwickeln, ist eine möglichst genaue Vorstellung von den finanziellen Langfristperspektiven in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) unabdingbar.
Vor diesem Hintergrund haben die EU-Mitgliedstaaten in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission bereits frühzeitig ein Berichtssystem entwickelt, das als Frühwarnsystem zur Bewertung der fiskalischen Tragfähigkeit in den EU-Mitgliedstaaten dient. Der nunmehr vorliegende Bericht setzt diese Tradition fort. Der 2018 Ageing Report 1 stellt auf einer kohärenten methodologischen, EU-weit vergleichbaren Grundlage die Langfristrisiken quantitativ dar, die sich durch den demografischen Wandel für die sozialen Sicherungssysteme und die öffentlichen Finanzen ableiten. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer verbesserten wirtschafts- und finanzpolitischen Koordinierung und Berichterstattung in der EU.
Wesentliche Ergebnisse des 2018 Ageing Report der EU
Der Rat der Finanzminister (ECOFIN-Rat) hat den aktuellen Bericht über die Bevölkerungsalterung mit Wirtschafts- und Haushaltsprojektionen für die EU-Mitgliedstaaten (2016–2070) gebilligt. Er wurde vom Wirtschaftspolitischen Ausschuss der EU (Ageing Working Group, AWG) und den Kommissionsdienststellen (Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Kommission, GD ECFIN) auf der Grundlage gemeinsam festgelegter methodischer Vorgaben und Annahmen erstellt. Wie bereits die früheren Berichte enthält auch der „2018 Ageing Report“ Projektionen zu den altersbedingten Staatsausgaben (Renten, Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege, Bildung sowie Arbeitslosenunterstützung). Die Projektionen erfolgen unter der Annahme unveränderter Politiken und zeigen damit den sich aus heutiger Sicht abzeichnenden finanzpolitischen Handlungsbedarf gegenüber der heutigen Rechtslage aufgrund des demografischen Wandels auf. Der ermittelte Anstieg der altersabhängigen Ausgaben fließt in die mittelfristigen Haushaltsziele (Medium Term Objectives, MTO) der EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Haushaltsüberwachung ein und bildet die Basis für die Analysen der langfristigen Schuldentragfähigkeit der Mitgliedstaaten durch die Europäische Kommission.
Im Referenz-Szenario (Baseline-Szenario) wird für den gesamten Zeitraum 2016-2070 ein durchschnittliches jährliches Potenzialwachstum von 1,4 % angenommen, wobei von einem beträchtlichen Anstieg der Totalen Faktorproduktivität (TFP) und der Arbeitsproduktivität ausgegangen wird, der den Rückgang des Arbeitskräftepotenzials teilweise substituiert. Bei einem weniger optimistischen Szenario mit einem geringeren TFP-Anstieg läge die geschätzte jährliche Wachstumsrate des BIP in der EU lediglich bei 1 %. Im Baseline-Szenario würde das jährliche Potenzialwachstum in der EU insgesamt langfristig auf heutigem Niveau bleiben; allerdings sind erhebliche Unterschiede beim Wachstumspotenzial der einzelnen Mitgliedstaaten zu verzeichnen. Insbesondere der Rückgang der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter, der die Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Ausmaß trifft, wird das Wirtschaftswachstum langfristig behindern. Das gilt auch für Deutschland, für das im Baseline-Szenario für den Gesamtzeitraum 2016–2070 ein unterdurchschnittliches Wachstum des Produktionspotenzials um jährlich 1,2 %, im Risiko-Szenario lediglich um 0,8 % bis 0,9 % unterstellt wird.
Im EU-Vergleich besteht im Jahr 2016 eine relativ große Spreizung bei den altersbedingten Ausgaben, die von 15,1 % des BIP in Rumänien (RO) bis 31,0 % des BIP in Frankreich (FR) reichen (EU-Durchschnitt 2016: 25 % des BIP). Gemäß den Projektionen werden die altersbedingten öffentlichen Ausgaben insgesamt in der EU zwischen 2016 und 2070 um 1,7 Prozentpunkte des BIP steigen und im Jahr 2070 einen Anteil von 26,6 % erreichen, wobei in der Dynamik große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu sehen sind. Geht man von einem ungünstigeren makroökonomischen Szenario aus, dann würden die Ausgaben zwischen 2016 und 2070 um 2,2 Prozentpunkte steigen und 2070 im Ergebnis einen Anteil von 27,1 % des BIP erreichen.
Deutschland liegt beim Anteil der gesamten altersabhängigen Ausgaben am BIP aktuell leicht unter dem EU-Durchschnitt; dagegen wächst der Anteil der altersabhängigen Ausgaben am BIP in Deutschland von 23,5 % im Jahr 2016 um 4,2 Prozentpunkte des BIP auf 27,7 % im Jahr 2070, und damit im EU-Vergleich deutlich überdurchschnittlich. Deutschland zählt somit zur Gruppe der Länder mit einem hohen Anstieg der alterungsbedingten öffentlichen Ausgaben (u. a. auch Belgien (BE), Tschechien (CZ), Irland (IE), Luxemburg (LU), Malta (MT), Slowenien (SI) und das Vereinigte Königreich (UK)). Daneben macht der Bericht deutlich, dass der Hauptteil dieses Anstiegs der alterungsbedingten Ausgaben bereits in den kommenden zwei Dekaden stattfinden wird, wenn die Generation der „Baby-Boomer“ das Rentenalter erreicht.
Der projizierte Anstieg der (altersabhängigen) Ausgabenquote in der EU ist vor allem auf die Ausgabenentwicklung in den Bereichen Alterssicherung, Langzeitpflege und Gesundheit zurückzuführen. So zeigt der Bericht, dass die öffentlichen Rentenausgaben bei unveränderter Rechtslage im Zeitraum bis 2040 voraussichtlich um 0,8 Prozentpunkte des BIP steigen und erst anschließend bis 2070 wieder leicht unter den Ausgangswert auf 11 % des BIP fallen werden. Unter ungünstigeren demografischen und makroökonomischen Voraussetzungen erreichen die projizierten Rentenausgaben mit 11,4 % des BIP im Jahr 2070 ein deutlich höheres Niveau als im Ausgangsjahr. Auch hier sind erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu verzeichnen, je nach Altersstruktur und Tempo der Bevölkerungsalterung, den Perspektiven für das Potenzialwachstum, den spezifischen Merkmalen der nationalen Rentensysteme sowie den Fortschritten bei den Strukturreformen.
Für Deutschland erwartet der Bericht einen Anstieg der Ausgaben für die Alterssicherung von 10,1 % auf 12,5 % des BIP, das ist ein Plus von 2,4 Prozentpunkten bis zum Jahr 2070. Ohne die strukturellen Rentenreformen der vergangenen Jahre würden die Alterungskosten im Bereich Rente, aber auch die Beitragssätze zur Alterssicherung, deutlich höher ausfallen.
Die Strukturreformen in einigen Mitgliedstaaten, aber auch die günstige konjunkturelle Lage haben dazu beigetragen, dass die Dynamik der Alterungskosten gegenüber den Ergebnissen des 2015 Ageing Report etwas moderater ausfällt. Vor allem die Ausgangsniveaus der sogenannten ageing costs liegen günstiger, die Dynamik der Anstiege bleibt gleichwohl ungebrochen hoch. Hier hat sich im Vergleich zum vorangegangenen Bericht keine grundlegende Entspannung ergeben. Im Falle Deutschlands haben methodische Änderungen, die den zu erwartenden Ausgabenanstieg realistischer abbilden, den etwas günstigeren Grundtenor im Vergleich zum 2015 Ageing Report teilweise wieder kompensiert.
Bei den öffentlichen Ausgaben für Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege in der EU wird dem Referenz-Szenario zufolge ein demografiebedingter Anstieg um 2 Prozentpunkte des BIP, und zwar von 8,4 % auf 10,4 %, im Jahr 2070 erwartet. Werden zudem mögliche nicht demografisch bedingte Kostenfaktoren der Ausgaben für Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege berücksichtigt, so könnten die Aufwendungen für Gesundheit und Pflege in der Zeit von 2016 bis 2070 sogar um 4 Prozentpunkte des BIP steigen.
In Deutschland wird sich der Anteil der Ausgaben für Gesundheit am BIP demnach um 0,7 Prozentpunkte auf 8,1 % im Jahr 2070 erhöhen. Auch im Bereich der Langzeitpflege ist eine erhebliche Ausgabendynamik mit einem Anstieg um 0,6 Prozentpunkte bis zu 2,1 Prozentpunkten des BIP im Projektionszeitraum zu erwarten. Zu bedenken ist, dass diese Ausgaben aus gesamtwirtschaftlicher Sicht gleichzeitig Einkommen darstellen, die z. B. im Gesundheitsbereich anfallen.
Berücksichtigung von Schätzunsicherheiten und Risiken
Die langfristigen Projektionen sind keine Prognosen. Sie sind aufgrund der langen Zeitspanne von merklichen Schätzunsicherheiten geprägt, auch geringfügige Annahmeänderungen entfalten über die langen Zeiträume eine erhebliche Dynamik. Um den Unsicherheiten adäquat Rechnung zu tragen, enthält der Bericht Sensitivitätsanalysen zu zentralen politischen Stellgrößen. Im Bereich des Arbeitsmarkts werden beispielsweise um 2 Prozentpunkte höhere beziehungsweise niedrigere Beschäftigungsraten unterstellt sowie um 10 Prozentpunkte höhere Beschäftigungsraten von Älteren. Mit Blick auf die langfristig erwartete technologische Entwicklung wurden ein um 0,4 Prozentpunkte höheres beziehungsweise niedrigeres TFP-Wachstum sowie ein Risiko-Szenario mit einem TFP-Konvergenzwert von 0,8 % modelliert.
Vor diesem Hintergrund weist der aktuelle Ageing Report stärker als bisher auf Risiken hin, neben demografischen und gesamtwirtschaftlichen Risiken auch auf mögliche ausgabentreibende Effekte des technischen Fortschritts. Darüber hinaus zeigt er auch Folgen einer Angleichung der Lebensstandards in der EU.
So könnte sich angesichts der Personalintensität und der Ungewissheit über die Wirkung des technischen Fortschritts der Ausgabenanstieg im Gesundheitsbereich mehr als verdoppeln (auf 1,5 Prozentpunkte des BIP) und im Pflegebereich mehr als verdreifachen (auf 2,1 Prozentpunkte des BIP). Insgesamt könnte sich im Risiko-Szenario der Anstieg der alterungsbedingten Ausgaben auf bis zu 6,4 Prozentpunkte bis zum Jahr 2070 belaufen. Gleichwohl wird das Tragfähigkeitsrisiko in Deutschland von der EU-Kommission im Basis-Szenario noch nicht als hoch eingestuft. Dies ist vor allem auf die sehr günstige Ausgangslage sowie die mittelfristig noch tragbaren Ausgabenanstiege zurückzuführen.
Wirtschafts- und finanzpolitische Schlussfolgerungen
Auf Basis der Projektionen zu den Alterungskosten in der EU kann die fiskalische Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte in den EU-Mitgliedstaaten bewertet werden. Die Projektionen sind fester Bestandteil der haushaltspolitischen Überwachung der Mitgliedstaaten durch die EU-Kommission und den ECOFIN-Rat sowie der Bewertung der fiskalischen Tragfähigkeit der EU-Mitgliedstaaten durch die EU-Kommission im Rahmen des Fiscal Sustainability Report.
Anhand der Projektionsergebnisse wird deutlich, welchen Einfluss die Demografie auf die langfristigen ökonomischen Rahmenbedingungen in Deutschland und Europa haben kann. Die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur werden das Arbeitskräfte- und Produktionspotenzial langfristig dämpfen. Gleichzeitig werden sich die Effekte der Demografie auf die Alterungskosten in vielen Mitgliedstaaten, auch in Deutschland, bereits im kommenden Jahrzehnt materialisieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zusätzliche Kosten auch im Hinblick auf die zukünftige Wachstumsentwicklung einer Volkswirtschaft betrachtet werden müssen.
Viele Mitgliedstaaten – darunter auch Deutschland – haben auf diese Herausforderungen bereits mit substanziellen Reformen reagiert. Der demografiebedingte Trend kann durch die nachhaltige Ausrichtung der Renten-, Gesundheits- und Langzeitpflegesysteme im Sinne einer verbesserten Widerstandsfähigkeit abgefangen werden. Auch wenn angenommen wird, dass die Reformen greifen, könnten ergänzende finanzpolitische Maßnahmen erforderlich sein, die die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen erhöhen.
Die fiskalpolitische Ausrichtung muss daher die langen Linien bereits jetzt im Blick halten. Aus finanzpolitischer Sicht bleibt eine wachstums- und zukunftsorientierte Finanzpolitik zentral. Das Zusammenspiel von solider Haushaltspolitik und einem vorausschauenden Mitteleinsatz zur Erhöhung des Wachstumspotenzials versetzt Deutschland und die Europäische Union in die Lage, die Herausforderungen des demografischen Wandels frühzeitig anzugehen. Die langfristige fiskalische Tragfähigkeit fließt weiterhin in die Bestimmung der mittelfristigen Haushaltsziele im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts ein.
In einer übergreifenden Sicht sind laut Bericht vor allem wirtschaftspolitische Anstrengungen zur Erhöhung der Beschäftigungsquoten und der Produktivität erforderlich. Dabei ist es sicherlich zielführend, das Arbeitskräftepotenzial zielgerichtet zu nutzen. Dazu gehören vor allem Maßnahmen, die Anreize für den Verbleib im Arbeitsmarkt schaffen, ein aktives Altern begünstigen und ein frühes Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt vermeiden. Auch gilt es, die Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt weiterhin nachhaltig zu erhöhen, den Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit strukturell zu senken und die Migration qualifizierter Arbeitskräfte zu fördern. Dies betrifft auch Bereiche wie lebenslanges Lernen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die positive Nutzung der digitalen Wirtschaft. Ein derartig umfassender Ansatz erfordert sicherlich neben geeigneten staatlichen Maßnahmen auch eine Veränderung in der Denkweise aller verantwortlichen Akteure.
Vor diesem Hintergrund hat der ECOFIN-Rat am 25. Mai 2018 Schlussfolgerungen zum aktuellen Ageing Report der EU angenommen. Um auf die Herausforderung der Bevölkerungsalterung angemessen zu reagieren, wird eine wachstumsfreundliche Haushaltspolitik nach den Vorgaben des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts ebenso für erforderlich erachtet wie Strukturreformen, die das Wachstumspotenzial unterstützen und die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen verbessern. Der Rat begrüßt die jüngsten Reformen in vielen EU-Mitgliedstaaten insbesondere im Rentenbereich, die einen zu starken oder exzessiven Anstieg der Staatsausgaben bremsen werden. Der Umfang der Reformen ist gleichwohl noch nicht ausreichend, um den Anstieg der öffentlichen alterungsbedingten Ausgaben aufzuhalten.
Um für die Ergebnisse des Berichts zu sensibilisieren, beleuchtet eine Fachkonferenz2 des BMF am 22. Juni 2018 die europäische und nationale Dimension der Trends sowie Handlungsempfehlungen zur Stärkung des ökonomischen Wachstumspotenzials und der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Die Europäische Kommission wird ihrerseits den nächsten Fiscal Sustainability Report zum Jahresende 2018 veröffentlichen und dort eine aktuelle Einschätzung der fiskalischen Tragfähigkeitsrisiken in den Mitgliedstaaten vorlegen.