- Die Bundesregierung legt alle zwei Jahre einen Bericht über die Wirkung der kalten Progression im Verlauf des Einkommensteuertarifs vor. Entscheidungen über Änderungen im Tarifverlauf obliegen dem Deutschen Bundestag.
- Der Dritte Steuerprogressionsbericht für die Jahre 2018/2019 rechnet mit einem Effekt der kalten Progression im Umfang von rund 3,3 Mrd. € im Jahr 2018 und 3,8 Mrd. € im Jahr 2019. Ein vollständiger Ausgleich des Effekts der kalten Progression auf tariflicher Ebene kann nur durch eine Verschiebung der Eckwerte des Einkommensteuertarifs im Umfang der Inflationsrate erreicht werden.
- Im Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Entlastung von Familien sowie zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen (Familienentlastungsgesetz, Bundestagsdrucksache 19/4723) hat die Bundesregierung entsprechende Regelungen vorgeschlagen, die inzwischen vom Bundestag und Bundesrat beschlossen worden sind. Diese beruhten allerdings noch auf den etwas höheren Vorgaben der Frühjahrsprojektion der Bundesregierung.
- Dadurch fällt die Verschiebung der Eckwerte des Tarifs etwas stärker aus, als zum vollständigen Ausgleich der kalten Progression auf tariflicher Ebene notwendig wäre. Die Bürger werden so zusätzlich um rund 105 Mio. € im Jahr 2019 und 15 Mio. € im Jahr 2020 entlastet.
Anlass des Berichts
Der Deutsche Bundestag hat in seiner 172. Sitzung am 29. März 2012 zu dem von ihm verabschiedeten Gesetz zum Abbau der kalten Progression (Bundestagsdrucksachen 17/8683, 17/9201) die folgende Entschließung angenommen:
„Die Bundesregierung wird beauftragt, beginnend mit der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, alle zwei Jahre jeweils zusammen mit dem Existenzminimumbericht einen Bericht über die Wirkung der kalten Progression im Verlauf des Einkommensteuertarifs (Steuerprogressionsbericht) vorzulegen. Die Entscheidung über Änderungen im Tarifverlauf obliegt dem Deutschen Bundestag.“
Als kalte Progression wird der Anstieg des durchschnittlichen Steuersatzes der Einkommensteuer bezeichnet, der auf Lohn- und Gehaltserhöhungen zurückzuführen ist, die lediglich den Preisanstieg (Inflation) ausgleichen.
Der Erste Steuerprogressionsbericht über die Wirkung der kalten Progression für die Jahre 2013 bis 2016 wurde im Januar 2015 vorgelegt (vergleiche Erster Steuerprogressionsbericht, Bundestagsdrucksache 18/3894). Zum Ausgleich der kalten Progression der Jahre 2014/2015 wurden daraufhin die Tarifeckwerte des Einkommensteuertarifs 2016 zusätzlich zum entsprechend den Ergebnissen des Existenzminimumberichts angehobenen Grundfreibetrag um die kumulierte Inflationsrate nach rechts verschoben (vergleiche Gesetz zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergelds und des Kinderzuschlags vom 16. Juli 2015, BGBl. I S. 1202). Im Ergebnis wirken die tariflich vorgegebenen Grenzsteuersätze jeweils erst bei entsprechend höheren zu versteuernden Einkommen.
Der Zweite Steuerprogressionsbericht über die Wirkung der kalten Progression für die Jahre 2016/2017 wurde im November 2016 vorgelegt (vergleiche Zweiter Steuerprogressionsbericht, Bundestagsdrucksache 18/10221). Zum Ausgleich der kalten Progression der Jahre 2016/2017 wurden die Tarifeckwerte der Einkommensteuertarife 2017/2018 zusätzlich zu den entsprechend den Ergebnissen des Existenzminimumberichts angehobenen Grundfreibeträgen jeweils um die Inflationsrate des Vorjahres nach rechts verschoben (Vergleiche Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen vom 20. Dezember 2016, BGBl. I S. 3000).
Entsprechend dem Bundestagsbeschluss hat die Bundesregierung inzwischen den Dritten Bericht zur Schätzung der kalten Progression bei der Einkommensteuer in den Jahren 2018/2019 vorgelegt (Bundestagsdrucksache 19/5450).
Methodisches Vorgehen bei der Ermittlung der kalten Progression
Verwendung eines Mikrosimulationsmodells der Einkommensbesteuerung
Das Gesamtvolumen der kalten Progression hängt maßgeblich davon ab, wie sich die Steuerpflichtigen mit ihrem zu versteuernden Einkommen auf die einzelnen Abschnitte des Einkommensteuertarifs verteilen, da der Umfang der kalten Progression im Einzelfall von der Höhe des zu versteuernden Einkommens und dem damit verbundenen tariflichen Einkommensteuersatz bestimmt wird. Die Berechnungen müssen daher auf der Ebene individueller Steuerpflichtiger ausgeführt werden. Für Berechnungen dieser Art haben sich sogenannte Mikrosimulationsmodelle der Einkommensbesteuerung bewährt.
Das zur Quantifizierung der kalten Progression verwendete Einkommensteuer-Mikrosimulationsmodell wurde durch das Fraunhofer-Institut für angewandte Informationstechnik (FIT) im Rahmen einer Forschungskooperation mit dem BMF entwickelt und wird seit vielen Jahren für die Quantifizierung der fiskalischen Auswirkungen von Steuerrechtsänderungen im Bereich der Einkommensteuer verwendet.
Grundlage des Modells ist aktuell eine Unterstichprobe der anonymisierten 10-Prozent-Stichprobe der Lohn- und Einkommensteuerstatistik des Jahres 2013. Sie umfasst zurzeit mehr als 940.000 Einzelfälle. Damit ist die Stichprobe repräsentativ für die Gesamtheit der Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen.
Der originäre Datensatz besteht aus etwa 1.000 Merkmalen und wird für eine adäquate programmtechnische Umsetzung in einem komplexen Aufbereitungsprogramm auf rund 245 Merkmale reduziert.
Aufgrund der zeitlichen Verzögerung im Rahmen des Veranlagungsverfahrens und der aufwändigen Aufbereitung der Einzeldaten durch das Statistische Bundesamt hat die dem Modell zugrunde liegende Datenbasis in der Regel ein Alter von fünf bis sechs Jahren. Dies macht eine Anpassung an die seitherige wirtschaftliche und demografische Entwicklung notwendig. FIT überarbeitet laufend die verwendete Datenbasis und ihre Fortschreibung auf spätere Jahre.
Neben der jeweils aktuellen verfügbaren Einkommensteuerstichprobe dienen dazu insbesondere die Ergebnisse der Steuerschätzungen im Mai und im November sowie eine von FIT durchgeführte Vorausschätzung der Kindergeldkinder. Für die strukturelle Bevölkerungsentwicklung wird auf die jeweils aktuelle Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts zurückgegriffen. Darüber hinaus finden weitere Datenquellen bei der Aktualisierung und Fortschreibung der Datenbasis Berücksichtigung, etwa die Entwicklung der Zahl der Riester-Verträge oder die Rentenstatistik.
Das bestehende Einkommensteuergesetz wird in einem Programmcode abgebildet. Unterschiedliche historische Stände des jeweils geltenden Rechts und der zu evaluierenden Gesetzesänderungen werden insbesondere durch unterschiedliche Parameter wiedergegeben. Derzeit sind auf diese Weise über 140 Merkmale des Steuerrechts parametrisiert. Gesetzesänderungen im Einkommensteuerbereich werden in die Berechnungsalgorithmen eingearbeitet.
Auf Grundlage der Datenbasis und des abgebildeten Rechtsstands kann im Modell die Einkommensteuerschuld jedes einzelnen Steuerpflichtigen berechnet und die aggregierte Gesamtwirkung möglicher Reformszenarien simuliert werden.
Aktuell besteht die Möglichkeit, Simulationsrechnungen für die Jahre von 2013 bis 2024 vorzunehmen.
Quantifizierung der Auswirkungen der kalten Progression
Ausgangspunkt für die Quantifizierung der Auswirkung der kalten Progression ist die Gesamtheit der Steuerpflichtigen eines bestimmten Jahres (t). Für die Modellrechnung wird angenommen, dass alle Steuerpflichtigen im Folgejahr (t + 1) eine Einkommenssteigerung in Höhe der Inflationsrate erhalten. Das in den Jahren t und t + 1 zugrunde gelegte Steuerrecht entspricht dem geltenden Steuerrecht des jeweiligen Jahres. Simuliert wird somit die Steuerbelastung der Steuerpflichtigen des Jahres t im Jahre t + 1.
Sofern allerdings zum Ausgleich der kalten Progression des Vorjahres im Jahr t + 1 steuerliche Maßnahmen vorgenommen wurden, bleiben diese unberücksichtigt. Anderenfalls würde der progressionsausgleichende Effekt dieser Maßnahmen doppelt Berücksichtigung finden.
In der Realität werden die Steuerpflichtigen des Jahres t nicht mit denjenigen des Jahres t + 1 identisch sein. Einige Steuerpflichtige werden ausscheiden (z. B. durch Arbeitslosigkeit, Ruhestand, Tod), andere werden hinzukommen (z. B. Berufsanfänger). Diesem Sachverhalt können die Modellsimulationen nicht Rechnung tragen.
Um zu verhindern, dass diese Abweichungen bei Berechnungen über mehrere Jahre kumulieren, wird die kalte Progression nicht im Vergleich zu einem festen Basisjahr, sondern von Jahr zu Jahr quantifiziert. Das bedeutet: Die kalte Progression des Jahres t + 1 wird für die Steuerpflichtigen des Jahres t ermittelt, diejenige des Jahres t + 2 für die Steuerpflichtigen des Jahres t + 1 usw.
Auf diese Weise wird auch berücksichtigt, dass das Einkommen tatsächlich häufig nicht nur um die Inflationsrate steigt, sondern stärker. Indem für jedes Berechnungsjahr die tatsächlichen Einkommen der jeweiligen Steuerpflichtigen als Ausgangsbasis genommen werden, wird einer Unterschätzung der Auswirkungen der kalten Progression vorgebeugt. Reale Einkommenszuwächse führen zwar definitionsgemäß nicht zu kalter Progression, sie haben aber im Zeitablauf Auswirkungen auf die Höhe der in den einzelnen Jahren errechneten kalten Progression.
Konkret erfolgt die Berechnung der kalten Progression im Mikrosimulationsmodell wie folgt:
Im ersten Schritt werden für jeden Steuerpflichtigen sämtliche Einkünfte (Einnahmen abzüglich Betriebsausgaben beziehungsweise Werbungskosten) entsprechend der Preisentwicklung der Konsumausgaben der privaten Haushalte erhöht. Eine Besonderheit bildet die Einkunftsart „nichtselbständige Arbeit“, bei der nicht die Einkünfte, sondern die Einnahmen fortgeschrieben werden. Dadurch wird der Tatsache Rechnung getragen, dass bei Arbeitnehmern die Frage im Vordergrund steht, in welchem Umfang kalte Progression bei einer Erhöhung der Bruttolöhne beziehungsweise -gehälter in Höhe der Inflationsrate entsteht.
Für die übrigen Einkunftsarten liegen in der amtlichen Einkommensteuerstatistik, die die Datenbasis des Mikrosimulationsmodells bildet, grundsätzlich keine Angaben zu den Einnahmen vor. Implizit muss daher für alle anderen Einkunftsarten die Annahme getroffen werden, dass sich Einnahmen und Betriebsausgaben beziehungsweise Werbungskosten mit gleicher Rate verändern.
Die Preisentwicklung wird hier mit dem Index der Konsumausgaben der privaten Haushalte aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gemessen, weil dieser Index jeweils die geänderten Verbrauchsgewohnheiten automatisch berücksichtigt.
Die Preisentwicklung der Konsumausgaben der privaten Haushalte weist nach der aktuellen Herbstprojektion der Bundesregierung für das Jahr 2018 eine Steigerung von 1,74 % aus. Für das Jahr 2019 wird von einem Zuwachs von 1,94 % ausgegangen.
Für die dementsprechend inflationierten Einkünfte beziehungsweise Einnahmen wird die sich ergebende Steuerlast ermittelt. Dabei wird das geltende Recht des Folgejahres – mit Ausnahme der zum Ausgleich der kalten Progression der Vorjahre vorgenommenen steuerlichen Maßnahmen – zugrunde gelegt. Dies hat zur Folge, dass die Einflüsse auf die kalte Progression, die sonstige bereits beschlossene Rechtsänderungen mit sich bringen, Berücksichtigung finden.
In einem zweiten Schritt wird die Steuer ermittelt, die bei einer Fortschreibung der Einkünfte beziehungsweise Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit mit dem verwendeten Preisindex zu einer konstanten Durchschnittssteuerbelastung führt. Hierzu ist die Steuer im Ausgangsjahr ebenfalls um diese Inflationsrate anzuheben.
In einem dritten Schritt wird die Differenz zwischen den beiden ermittelten Steuerbeträgen und somit der Effekt der kalten Progression errechnet.
Ergebnisse der Simulationsrechnungen zur Höhe der kalten Progression
Das auf die oben beschriebene Art und Weise ermittelte Volumen der kalten Progression in den Jahren 2018/2019 ist der nachstehenden Übersicht zu entnehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die dargestellte Berechnungsmethodik jeweils den Effekt der kalten Progression ausweist, der aufgrund der Inflation eines Jahres neu entsteht.
Maßnahmen zum Ausgleich der kalten Progression
Im Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Entlastung der Familien sowie zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen (Familienentlastungsgesetz, Bundestagsdrucksache 19/4723) sind Maßnahmen zur Anhebung des Grundfreibetrags zum 1. Januar 2019 um 168 € und zum 1. Januar 2020 um weitere 240 € vorgesehen. Dadurch werden die Steuerpflichtigen zum 1. Januar 2019 insgesamt um rund 1,4 Mrd. € und zum 1. Januar 2020 um weitere 2,0 Mrd. € entlastet und der Effekt der kalten Progression der Jahre 2018 und 2019 bereits deutlich gemildert.
Allerdings wäre auch bei einem vollständigen globalen Ausgleich des Effekts der kalten Progression, z. B. durch eine weitergehende Anhebung des Grundfreibetrags, nicht sichergestellt, dass die individuelle tarifliche Mehrbelastung in jedem Einzelfall tatsächlich ausgeglichen wird. Dies kann nur durch eine Rechtsverschiebung der Tarifeckwerte zumindest im Umfang der maßgeblichen Inflationsraten erreicht werden.
Tarifeckwerte
sind die Punkte im Tarifverlauf, an denen die einzelnen Tarifzonen des Einkommensteuertarifs (Grundfreibetrag; erste Progressionszone; zweite Progressionszone; erste obere Proportionalzone; zweite oberer Proportionalzone) aneinander anschließen. Der Tarifverlauf der Einkommensteuer wird über diese Tarifeckwerte bestimmt.
Die Bundesregierung hatte deshalb im obengenannten Gesetzentwurf eines Familienentlastungsgesetzes bereits entsprechende Regelungen vorgeschlagen. Diese beruhten allerdings noch auf den Vorgaben der Frühjahrsprojektion, die die Preisentwicklung der Konsumausgaben der privaten Haushalte für das Jahr 2018 mit 1,84 % (statt jetzt 1,74 %) und für 2019 mit 1,95 % (statt jetzt 1,94 %) auswies.
Das Gesetz ist inzwischen von Bundestag und Bundesrat ohne Änderungen beim Ausgleich der kalten Progression beschlossen worden. Im Ergebnis fällt die Verschiebung der Tarifeckwerte somit etwas stärker aus, als es für den Ausgleich der kalten Progression notwendig wäre. Die Bürger werden dadurch zusätzlich im Jahr 2019 um 105 Mio. € und im Jahr 2020 um 15 Mio. € entlastet.