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    Der Auf­bau der eu­ro­päi­schen Ka­pi­tal­mark­tu­ni­on

    • Die Kapitalmarktunion ist ein wichtiges Querschnittsthema der Finanzmarktpolitik der Europäischen Union (EU), das vor allem darauf abzielt, die europäische Wirtschaft zu stärken und Kapitalmarkt-Finanzierungen in Ergänzung zur bankbasierten Kreditfinanzierung zu fördern. Sie soll den freien Kapitalverkehr, eine der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts, vertiefen und erweitern.
    • Der 2015 von der EU-Kommission vorgelegte Aktionsplan sieht dazu eine Vielzahl von Maßnahmen vor, die u. a. dazu beitragen sollen, regulatorische und bürokratische Hürden innerhalb der EU zu überwinden, Informationsasymmetrien zwischen Investoren und Unternehmen zu verringern und das Angebot an grenzüberschreitenden Finanzdienstleistungsprodukten auszuweiten.
    • Auch wenn bereits große Fortschritte beim Aufbau der Kapitalmarktunion erzielt wurden, bleibt noch mehr zu tun, um die Integration der überwiegend national ausgerichteten Kapitalmärkte innerhalb der EU voranzutreiben und international wettbewerbsfähig zu machen.

    Herausforderungen für die europäischen Kapitalmärkte

    Der Aufbau der Kapitalmarktunion ist zentral für die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Finanzplatzes und der Realwirtschaft in Europa. Denn Investitionen und Finanzierungen sind in Europa stark vom Bankensektor abhängig – die Folgen der Finanzkrise haben gezeigt, wie wichtig hier alternative marktbasierte Finanzierungsquellen für die Wirtschaft und die Stabilität des Systems sind.

    Der Zugang zu Finanzmitteln ist insbesondere für zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in Europa besonders schwierig. Gute Ideen und Köpfe brauchen in der Start- und Wachstumsphase ein breites Angebot an günstigen und flexiblen Finanzierungsquellen, um sich am Markt zu etablieren und international wettbewerbsfähig werden zu können.

    Darüber hinaus sind die Kapitalmärkte in Europa stark fragmentiert. Es existieren zwischen den einzelnen EU-Ländern erhebliche Unterschiede bei den Finanzierungsbedingungen. So bestehen z. B. für Finanzprodukte wie Verbriefungen oder private Anlagen unterschiedliche Bestimmungen und Marktpraktiken. Daher überschreiten Aktionäre und Käufer von Unternehmensschuldverschreibungen bei ihren Investitionen nur selten Landesgrenzen. Diese Umstände verteuern die Finanzierungen, schränken die Anlagemöglichkeiten von Investoren und Anlegern ein und belasten die Wettbewerbsfähigkeit und Wachstumschancen der europäischen Finanzdienstleistungsindustrie. Grenzüberschreitend tätige Finanzdienstleistungsunternehmen und die Diversifikation von Assets im Euroraum wären zudem auch wichtig für eine geringere Kapitalflucht und eine schwächere Abhängigkeit zwischen Banken und Staaten.

    Eine besondere Herausforderung ist in diesem Zusammenhang der Brexit, der zu einer Reorganisation des europäischen Finanzmarkts führt. Es besteht die Gefahr einer weiteren Fragmentierung der europäischen Kapitalmärkte durch einen Regulierungswettbewerb zwischen den EU-27 auf dem Kontinent. Die Schaffung einer Kapitalmarktunion ist daher wichtiger denn je.

    Ein europäisches Projekt

    Vor dem Hintergrund der skizzierten Herausforderungen war eines der Kernanliegen des im November 2014 angekündigten Investitionsplans von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Schaffung eines echten Kapitalbinnenmarkts für alle 28 EU-Mitgliedstaaten bis 2019. Oberstes Ziel der EU-Kommission und des Rates der Europäischen Union (Rat) war es dabei, zur Schaffung von Arbeitsplätzen die EU-Wirtschaft zu stärken und Investitionen anzuregen. Dabei sollten mehr Investitionen für Unternehmen und Infrastrukturprojekte freigesetzt werden, mehr Investitionen vom Rest der Welt in die EU fließen, das Finanzsystem durch ein breiteres Angebot alternativer Finanzierungsquellen gestärkt und die finanzielle Integration durch eine verstärkte grenzüberschreitende private Risikoteilung vertieft werden. Dazu braucht es einen starken, einheitlichen europäischen Kapitalmarkt, der eine breitere Palette an Finanzierungs- und Anlagemöglichkeiten bietet. Der Aufbau der Kapitalmarktunion war daher zusammen mit der Bankenunion eines der wesentlichen Querschnittsthemen der EU-Finanzmarktpolitik in den vergangenen Jahren.

    Mit der europäischen Bankenunion

    wird ein System für die Beaufsichtigung und Abwicklung von Banken auf EU-Ebene geschaffen, das auf der Grundlage unionsweiter Vorschriften funktioniert. Ihr Ziel ist es, sicherzustellen, dass der Bankensektor im Euroraum und in der EU insgesamt sicher und zuverlässig ist und dass die Abwicklung insolvenzgefährdeter Banken nicht zulasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geht und möglichst geringe Auswirkungen auf die Realwirtschaft hat.

    Die Agenda zum Aufbau der Kapitalmarktunion wurde Ende 2015 aufgesetzt und umfasst einen Aktionsplan, der bis 2019 die Kernelemente einer Kapitalmarktunion in Kraft setzen soll. Er beinhaltet eine Vielzahl legislativer und nicht-legislativer Maßnahmen und gliedert sich in folgende sechs Bereiche:

    1. Marktbasierte Wachstumsfinanzierung für Start-ups und KMU,
    2. Vereinfachung des Kapitalmarktzugangs für KMU,
    3. Förderung von Langfrist-, Infrastruktur- und nachhaltigen Investitionen,
    4. Stärkung von Privatanlegern und institutionellen Investoren,
    5. Unterstützung der Banken bei ihrer Finanzierungsaufgabe sowie
    6. Vereinfachung von grenzüberschreitenden Investitionen.

    Bis 2017 konnten 20 Maßnahmen abgeschlossen werden, die insbesondere Kapazitäten in den Bankbilanzen für zusätzliche Finanzierungsmittel freimachen und Investitionen in innovative KMU erleichtern (z. B. durch eine Wiederbelebung des Verbriefungsmarkts, durch Erleichterungen im Prospektrecht beziehungsweise für Wagniskapitalfinanzierungen und für Infrastrukturinvestitionen im Versicherungsrecht). Ergänzend legte die EU-Kommission weitere neun Maßnahmen vor. Diese dienen vorrangig der Stärkung und Förderung einer wirksamen und kohärenten Aufsicht in der EU, der Nutzung des Potenzials von FinTechs zur Erweiterung der Kapitalmärkte, der Entwicklung lokaler Kapitalmärkte und der Ausrichtung der Kapitalströme auf nachhaltigere Investitionen.

    Zwischen Anfang 2018 und Mitte 2019 konnten große Fortschritte beim Aufbau der Kapitalmarktunion und auch bei der Stärkung der Bankenunion erreicht und bei 13 Gesetzgebungsverfahren auf europäischer Ebene eine politische Einigung erzielt werden. So ist es gelungen, zu fast allen seit 2015 vorgeschlagenen Maßnahmen eine Einigung zwischen Rat und Europäischem Parlament zu erreichen.

    Chancen für Wirtschaft, Investoren und Umwelt

    Die verabschiedeten Maßnahmen sind bedeutende Erfolge für Europa, denn sie stärken u. a. die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, verbessern das Anlageuniversum der Investoren und unterstützen die Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit.

    So wird durch Erleichterungen für den grenzüberschreitenden Vertrieb von Investmentfonds die Asset-Management-Industrie gestärkt und eine Integration dieser national ausgerichteten Märkte beschleunigt. Über eine neue Richtlinie wurde ein EU-einheitlicher präventiver Restrukturierungsrahmen geschaffen, der es Unternehmensschuldnern und Gläubigern ermöglicht, im Rahmen von außergerichtlichen Verhandlungen eine Sanierungslösung zu vereinbaren. Damit können die Kosten von Restrukturierungsprozessen gesenkt werden, wodurch insbesondere Investitionen in KMU günstiger und attraktiver werden. Die Finanzierung für KMU wurde darüber hinaus u. a. über vereinfachte Prospektregeln und erleichterte Zugänge zu europäischen Risikokapitalfonds und KMU-Wachstumsmärkten (Börsensegment) gestärkt. Durch die Regelungen zur Beaufsichtigung zentraler Clearingstellen aus Drittstaaten und von großen Wertpapierfirmen sowie die punktuelle Erweiterung der Befugnisse der europäischen Aufsichtsbehörden wird die Vorbereitung der EU-27 auf einen Brexit verbessert.

    Mit dem Paneuropäischen Privaten Pensionsprodukt, dem Pan-European Personal Pension Product (PEPP), und dem EU-weit einheitlichen European Covered Bond werden neue Finanzierungsinstrumente geschaffen, die dem EU-Kapitalmarkt zusätzliche Mittel zuführen und Skaleneffekte durch einen europaweiten Vertrieb ermöglichen sollen. Ersteres soll darüber hinaus den Europäerinnen und Europäern einen vereinfachten Zugang zu standardisierten kostenbegrenzten privaten Altersvorsorgeprodukten in allen Mitgliedstaaten bieten.

    Durch die Umsetzung des ambitionierten Aktionsplans zu Sustainable Finance können sich Deutschland und Europa eine Vorreiterrolle in diesem wichtigen Zukunftsmarkt erarbeiten. Die Vorgaben zu Transparenz über Nachhaltigkeitsaspekte und die Diskussionen zu Benchmarks für klimafreundliche Investments leisten international Pionierarbeit und setzen Standards.

    Grenzüberschreitender Vertrieb von Investmentfonds

    Mit dem Maßnahmenpaket wird der Regelungsrahmen für Investmentfonds verbessert. So werden beispielsweise die Kundendienstpflichten für Vermögensverwalter in deren Aufnahmestaat klarer festgelegt, die Vertriebsregeln für Verwalter kollektiver Vermögensanlagen vereinheitlicht und über ein Online-Portal Transparenz über nationale Bestimmungen in Bezug auf Vertriebsanforderungen und Gebühren geschaffen.

    Paneuropäisches Privates Pensionsprodukt (PEPP)

    Mit der PEPP-Verordnung wird der Rahmen für ein europaweites freiwilliges privates Altersvorsorgeprodukt geschaffen, das die gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge ergänzen soll. Es hat europaweit einheitliche Produkteigenschaften, unterliegt zusätzlichen Verbraucherschutzbestimmungen, kann von unterschiedlichen Anbietern über den EU-Produktpass vertrieben werden und ist bei Umzug in einen anderen Mitgliedstaat übertragbar.

    Sustainable Finance

    Mit dem Aktionsplan sollen Kapitalströme in nachhaltige Anlagen gelenkt, Risiken besser gemanagt und ein Langfristdenken gestärkt werden. Dazu dienen u. a. Vorgaben an Finanzmarktteilnehmer, ihren Umgang mit Nachhaltigkeitsaspekten gegenüber ihrer Kundschaft darzustellen (Transparenz), die Einführung von Anforderungen an Indexanbieter, die Vergleichsindizes für klimafreundliche Investments anbieten wollen (Benchmarks), und die aktuell verhandelte Einführung eines Klassifizierungssystems zur Identifizierung von nachhaltigen wirtschaftlichen Tätigkeiten (Taxonomie).

    Ausblick

    Die Bewertungen über die Reichweite und die Auswirkungen der Initiativen auf einen tieferen und stärker integrierten europäischen Kapitalmarkt gehen auseinander. So bieten die verabschiedeten Maßnahmen zur Schaffung der Kapitalmarktunion das Potenzial, neue Finanzierungsquellen zu erschließen. Die Auswirkung wird je nach Ausgangslage und finanzieller Kultur in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich sein. Ein Anstieg kapitalmarktbasierter Finanzierung wird erst mit sukzessiver Umsetzung der Maßnahmen in nationales Recht und Implementierung durch die Marktteilnehmer messbar werden.

    Während hier Fortschritte zur Vertiefung einzelner europäischer Kapitalmärkte erreicht werden konnten, was die Ausgewogenheit und Kohärenz zwischen den nationalen Finanzplätzen fördert, bleiben die Initiativen zur Integration hin zu einem einheitlichen europäischen Kapitalmarkt hinter den Erwartungen zurück. So stellen die steuerliche Fragmentierung in Europa oder teilweise ineffiziente Insolvenzverfahren in einzelnen Mitgliedstaaten weiterhin wesentliche Barrieren für grenzüberschreitende Investitionen dar. Zudem braucht es eine breitere Vertrauensbasis bei den Anlegerinnen und Anlegern und eine stärkere Kapitalmarktkultur in Europa über diversifizierte und kundenorientierte Produkte, die Vermeidung von Fehlanreizen in der Governance, finanzielle Bildung und Transparenz.

    Darüber hinaus sind neue Herausforderungen für den europäischen Finanzsektor verstärkt in den Fokus gerückt. So muss der Kapitalmarkt im Zuge der sich beschleunigenden Digitalisierung Teil eines vernetzten digitalen europäischen Ökosystems werden – denn digitale Finanztechnologien können ein wesentlicher Treiber kapitalmarktbasierter Finanzierung und Schlüssel zu finanzieller Integration und Inklusion der Menschen in Europa sein. Darüber hinaus muss die zunehmende Dringlichkeit zur Dekarbonisierung der Wirtschaft kapitalmarktseitig effektiver und effizienter unterstützt werden. Der Brexit verlangt zusätzliche Antworten zur Stärkung der Kohäsion des europäischen Kapitalmarkts, zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit Europas und zur weiteren Stärkung des Finanzstandorts Deutschland.

    Letztlich ist noch viel zu tun, um einen eigenständigen, attraktiven, dynamischen und zukunftsorientierten europäischen Kapitalmarkt zu verwirklichen und um eine neue Aktien- und Finanzkultur über die Grenzen hinweg zu schaffen. Wesentliche Fortschritte dürften dabei nur zu erreichen sein, wenn sich die Mitgliedstaaten für die schwierigen Themen öffnen, die traditionell als nationale Angelegenheit angesehen werden.

    Vor diesem Hintergrund haben die Finanzminister der Niederlande, Frankreichs und Deutschlands in einem gemeinsamen Brief zur Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion und zur Einsetzung einer hochrangigen Arbeitsgruppe von Fachleuten aufgerufen, die hierzu Vorschläge vorlegen soll.1 Eine vollendete Kapitalmarktunion bietet die Chance, über die grenzüberschreitende Schaffung von Anlage- und Finanzierungsmöglichkeiten, die höhere Resilienz gegenüber Krisen und über die Förderung der wirtschaftlichen Konvergenz der Regionen ein für die Menschen in Europa greifbares und verbindendes Element zu werden und damit den Zusammenhalt in der Union insgesamt zu stärken.

    Fußnoten

    1
    Gemeinsame Initiative von Deutschland, den Niederlanden und Frankreich zur Kapitalmarktunion

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