- Sofern vor Beginn des Haushaltsjahres vom Parlament noch kein Haushalt verabschiedet wurde, gibt es eine sogenannte vorläufige Haushaltsführung. Dies ist vor allem nach Wahljahren der Fall, so auch im Jahr 2022.
- Rechtliche Grundlage für die vorläufige Haushaltsführung ist Art. 111 Grundgesetz (GG).
- Das BMF hat ein Rundschreiben zur vorläufigen Haushaltsführung herausgegeben, das die Vorgaben von Art. 111 GG erläutert und ergänzend ausfüllt.
- Die Ansätze und Haushaltsstrukturen des 1. Regierungsentwurfs 2022 stellen dabei die Richtwerte und Obergrenzen der vorläufigen Haushaltsführung dar. Für die meisten Verwaltungs- und Programmausgaben sind 45 Prozent der vorgesehenen Mittel unmittelbar verfügbar. Für Investitionen und Rechtsverpflichtungen gilt keine derartige Einschränkung.
- Neue Maßnahmen dürfen während der vorläufigen Haushaltsführung nicht begonnen werden, es sei denn, sie sind sachlich und zeitlich unabweisbar.
Warum „vorläufige“ Haushaltsführung?
Art. 110 Abs. 2 GG enthält das Gebot, den Bundeshaushalt vor Beginn des Haushaltsjahres durch die Legislative festzustellen. Diesen vom Parlament festgestellten Haushaltsplan vollzieht sodann die Exekutive, also die Bundesregierung. Aber insbesondere in Jahren nach einer Bundestagswahl im vorangegangenen Herbst gibt es einen solchen vom Parlament festgestellten Bundeshaushalt zu Beginn des Jahres noch nicht: Aufgrund des Grundsatzes der Diskontinuität kann ein gegebenenfalls im Sommer noch zugeleiteter Regierungsentwurf des Bundeshaushalts für das kommende Jahr vom neuen Bundestag nicht mehr beraten werden. Es muss vielmehr ein neuer Regierungsentwurf aufgestellt und eingebracht werden. Somit ist es spätestens alle vier Jahre wieder so weit: Die Haushaltsführung ist vorläufig, da sie auf vorläufigen, nicht parlamentarisch abgesicherten Haushaltsansätzen basiert, die Änderungen unterworfen sein werden. Aber auch aus anderen Gründen kann die Situation eintreten, dass zu Beginn des Haushaltsjahres kein Haushaltsplan vorliegt.
Verfahren der Haushaltsaufstellung
In einem zeitlich „normalen“ Aufstellungsprozess (z. B. ohne Verzögerung durch eine Bundestagswahl) wird nach Kabinettsbeschluss zu den sogenannten Eckwerten im März in einem mehrstufigen Verfahren bis Ende Juni/Anfang Juli eine Kabinettsentscheidung zum Haushaltsentwurf herbeigeführt. Auf dieser Basis erfolgt die Zuleitung von Haushaltsgesetz und Haushaltsplan an Bundestag und Bundesrat und damit die Einleitung der parlamentarischen Behandlung. Im grundsätzlich üblichen Gesetzgebungsprozess erfolgt die Beschlussfassung im Bundestag bis Ende November und die Verkündung bis Ende Dezember.1
Die vorangegangene Bundesregierung hatte bereits im Juni 2021 einen Entwurf des Bundeshaushalts 2022 beschlossen und dem Parlament zugeleitet (Bundestagsdrucksache 19/31500 vom 6. August 2021). Dieser Regierungsentwurf, der sogenannte 1. RegE, ist aber der Diskontinuität unterlegen, und die neue Bundesregierung muss einen neuen Regierungsentwurf aufstellen – den sogenannten 2. RegE, über den dann das neu gewählte Parlament im Rahmen seiner Budgethoheit entscheiden wird. Bis der vom Deutschen Bundestag verabschiedete Haushalt 2022 im Bundesgesetzblatt verkündet ist, arbeitet die Bundesregierung im Wesentlichen auf der grundgesetzlichen Basis von Art. 111 GG.
Diskontinuität
Das Diskontinuitätsprinzip beschreibt u. a. die sachliche Erneuerung nach Ablauf einer Legislaturperiode. Die sachliche Diskontinuität besagt, dass Gesetzesvorhaben, die innerhalb einer Legislaturperiode nicht verabschiedet worden sind, nach Ablauf dieser Periode automatisch verfallen. Sollte das Vorhaben weiterhin angestrebt werden, muss das Gesetzgebungsverfahren – angefangen bei der Gesetzesinitiative – in der folgenden Legislaturperiode neu beginnen.
Rechtliche Grundlagen
Die maßgebliche Vorschrift für die vorläufige Haushaltsführung ist der Art. 111 GG zu Ausgaben vor Etatgenehmigung. Dieser bestimmt in Abs. 1, welche Ausgaben geleistet werden dürfen, wenn bis zum Abschluss des abgelaufenen Haushaltsjahres der Haushaltsplan des neuen Haushaltsjahres nicht durch Gesetz festgestellt ist. Das sind alle Ausgaben, die nötig sind,
- um gesetzlich bestehende Einrichtungen zu erhalten und gesetzlich beschlossene Maßnahmen durchzuführen,
- um die rechtlich begründeten Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen,
- um Bauten, Beschaffungen und sonstige Leistungen fortzusetzen oder Beihilfen für diese Zwecke weiter zu gewähren, sofern durch den Haushaltsplan eines Vorjahres bereits Beträge bewilligt worden sind.
Damit ist sichergestellt, dass die Bundesregierung – gegebenenfalls auch eine geschäftsführende – ihren bestehenden Verpflichtungen nachkommen und somit ihre Aufgaben uneingeschränkt erfüllen kann. Gleichzeitig gilt, dass der neue Haushaltsgesetzgeber nicht mehr als unbedingt erforderlich präjudiziert werden darf. Dadurch wird einerseits dem Budgetrecht des Parlaments angemessen Rechnung getragen, ohne andererseits die Handlungsfähigkeit des Bundes zu sehr einzuschränken oder gar ernsthaft zu gefährden.
Der Große Senat des Bundesrechnungshofes hat in einem Beschluss vom 10. Oktober 2017 dargelegt, welche Beurteilungsmaßstäbe er bei der Prüfung von Maßnahmen im Rahmen der vorläufigen Haushaltsführung zugrunde legt. Dieser Beschluss ist auf der Internetseite des Bundesrechnungshofs verfügbar.2
Erhaltung bestehender Einrichtungen und gesetzlich beschlossene Maßnahmen
Dazu gehören z. B. laufende Ausgaben für den Verwaltungsbetrieb der Verfassungsorgane wie Bundestag und Bundesrat oder auch des Bundesrechnungshofs, aller Bundesbehörden (neben den Ministerien zählen hierzu beispielsweise der Zoll, die Bundespolizei, das Technische Hilfswerk oder auch die Bundeswehr), aber auch von institutionellen Zuwendungsempfängern (nur ein Beispiel von vielen: Forschungsgemeinschaften wie die Zentren der Helmholtz-Gemeinschaft oder der Fraunhofer-Gesellschaft). Sie alle müssen ihr Personal weiter bezahlen können, das wiederum Arbeitsmittel benötigt, um seine fortbestehenden Aufgaben erfüllen zu können. Der Gedanke eines „Government Shutdown“ wie im amerikanischen Rechtssystem ist der deutschen Finanzverfassung also fremd. Neue Einrichtungen dürfen aber während der vorläufigen Haushaltsführung nicht geschaffen oder in Betrieb genommen werden, es sei denn, die Notwendigkeit dazu wäre von überragendem Staatsinteresse.
Rechtsverpflichtungen
Vor dem 1. Januar 2022 entstandene Rechtsverpflichtungen muss die Bundesregierung erfüllen können. Die Rechtsgrundlage der Verpflichtung – also z. B. Gesetz, Vertrag, Vergleich, Verwaltungsakt o. Ä. – spielt dabei keine Rolle. Gesetzliche Rechtsverpflichtungen sind typischerweise, aber nicht nur, Leistungsansprüche wie Elterngeld oder Arbeitslosengeld II. Neue Verpflichtungen darf die Bundesregierung während der vorläufigen Haushaltsführung nur eingehen, wenn sie durch die beiden anderen Tatbestände (a) und (c) des Art. 111 Abs. 1 GG hierzu ermächtigt ist.
Fortsetzungsmaßnahmen und Bauten
Darunter versteht man solche Maßnahmen, die der frühere Haushaltsgesetzgeber bereits bewilligt hat, indem er sie in vorangegangenen Haushaltsplänen – für das Jahr 2022 also insbesondere im Haushaltsplan 2021 – veranschlagt hat. Besondere Bedeutung hat diese Regelung vor allem für Förderprogramme. Aber auch für Baumaßnahmen stellt sie sicher, dass die kontinuierliche, plan- und zeitgerechte Durchführung möglicherweise bereits weit vorangeschrittener Vorhaben nicht aus rein haushaltstechnischen Gründen gefährdet wird. Erst in der Planung befindliche Maßnahmen wiederum dürfen in der Regel in der vorläufigen Haushaltsführung nicht begonnen werden. Da dem Budgetrecht des Parlaments nicht vorgegriffen werden darf, dürfen aber andererseits auch Maßnahmen, die der frühere Haushaltsgesetzgeber zwar beschlossen hatte, nicht fortgesetzt werden, wenn das neue Parlament ausdrücklich hat erkennen lassen, dass eine bestimmte Maßnahme jetzt nicht mehr fortgeführt werden soll.
Rundschreiben des BMF zur vorläufigen Haushaltsführung
Gemäß § 5 der Bundeshaushaltsordnung (BHO) erlässt das BMF Vorschriften zur vorläufigen und endgültigen Haushaltsführung. Für die vorläufige Haushaltsführung 2022 hat der neue Bundesminister der Finanzen Christian Lindner das Rundschreiben vom 21. Dezember 2021 herausgegeben, das sich an die Obersten Bundesbehörden richtet, für die die darin enthaltenen Vorgaben verbindlich sind. Diese geben es, teilweise mit ressortspezifischen Ergänzungen, auch an ihre nachgeordneten Behörden weiter. Das Rundschreiben ist auf der Internetseite des Zentralen Finanzwesens des Bundes eingestellt.3
Im Prinzip werden darin auch schon allgemeine Vorgaben gemacht, die die spätere endgültige Haushaltsführung betreffen. Wesentlich für die Bewirtschafter der Haushaltsmittel sind aber die Ausführungen zu pauschalierten Ermächtigungen während der vorläufigen Haushaltsführung und eine Begrenzung der ohne Weiteres verfügbaren Ausgaben, welche die Betroffenen naturgemäß besonders interessiert: Berechnungsgrundlage und Obergrenze der vorläufigen Haushaltsführung sind die Ansätze und Haushaltsstrukturen des 1. RegE 2022. Soweit die dortigen Veranschlagungen keine Rechtsverpflichtungen oder Investitionen, sondern Verwaltungs- oder Programmausgaben betreffen, dürfen die jeweiligen Ansätze – im Rahmen der durch Art. 111 GG gesetzten Grenzen – ohne weitere Voraussetzungen bis zur Höhe von 45 Prozent genutzt werden. Diese Quote geht zum einen davon aus, dass die Ausgaben sich normalerweise gleichmäßig auf das Jahr verteilen – das ist aber keine notwendige Voraussetzung – und die vorläufige Haushaltsführung voraussichtlich bis Mitte des Jahres beendet sein wird. Zum anderen liegt der Gedanke zugrunde, dass im Rahmen der vorläufigen Haushaltsführung aufgrund der restriktiven Vorgaben des Art. 111 GG verschiedene Ausgaben nicht geleistet werden können. Somit bildet diese Obergrenze aus dem 1. RegE eine Berechnungsgrundlage, aber keine Ausgabenermächtigung.
Zum besseren Verständnis ein fiktives Beispiel für diese Begrenzung: Für einen bestimmten Verwendungszweck, der nicht der Fortführung der Verwaltung, der Erfüllung gesetzlicher Maßnahmen oder der Begleichung einer Rechtsverpflichtung dient, waren in einem Ausgabetitel im Haushalt 2021 100 Mio. Euro veranschlagt; im 1. RegE 2022 sind für den denselben Verwendungszweck im selben Titel 120 Mio. Euro veranschlagt. Die rechtliche Ermächtigung, für diesen Verwendungszweck in der vorläufigen Haushaltsführung überhaupt Geld ausgeben zu dürfen, ist Art. 111 Abs. 1 Buchstabe c GG; der Ansatz im 1. RegE 2022 gibt aber die Obergrenze für die Ausgaben vor und ist zugleich die Berechnungsgrundlage für die 45 Prozent (also 54 Mio. Euro). War der Verwendungszweck im Haushalt 2021 noch gar nicht vorgesehen, handelt es sich um eine neue Maßnahme, für die während der vorläufigen Haushaltsführung grundsätzlich kein Geld ausgegeben werden darf, auch wenn sie (neu) im 1. RegE 2022 bereits vorgesehen ist. Dann ist abzuwarten, ob der neue Haushaltsgesetzgeber diese Maßnahme letztendlich im Bundeshaushalt 2022 bestätigt.
Über- und außerplanmäßige Ausgaben während der vorläufigen Haushaltsführung
Während der regulären Haushaltsführung dürfen die vom Parlament bewilligten einzelnen Ansätze nur unter den Voraussetzungen des Art. 112 GG überschritten werden. Das setzt voraus, dass ein Mehrbedarf besteht (das Grundgesetz spricht hier von „Bedürfnis“), der
- nicht anderweitig aus dem Einzelplan gedeckt werden kann,
- bei der Haushaltsaufstellung nicht vorhergesehen wurde und
- sachlich sowie zeitlich unabweisbar sein muss.
Solche unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisse können auch während der vorläufigen Haushaltsführung auftreten, wobei hier der Maßstab nicht der festgestellte Bundeshaushalt sein kann, den es noch nicht gibt, sondern Art. 111 Abs. 1 GG. Das heißt: Die Bundesregierung ist auch während der vorläufigen Haushaltsführung ermächtigt, Ausgaben zu leisten, zu denen sie nicht nach Art. 111 GG ermächtigt ist, sofern diese im Sinne des Art. 112 GG zur Wahrung wesentlicher Interessen des Staatswohls sachlich und zeitlich unabweisbar sind. Während der vorläufigen Haushaltsführung ist an diese Voraussetzungen allerdings ein besonders strenger Maßstab anzulegen.
Die Entscheidung über die Bewilligung einer über- oder außerplanmäßigen Ausgabe (siehe § 37 BHO) trifft auch während der vorläufigen Haushaltsführung stets das BMF auf Antrag eines Ressorts (§ 116 Abs. 1 Satz 1 BHO). Bei Beträgen ab 5 Mio. Euro und bei bestehenden Rechtsverpflichtungen ab 50 Mio. Euro ist das Parlament (der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages) zu informieren.
Bei über- oder außerplanmäßigen Verpflichtungsermächtigungen (die erst in späteren Jahren zu Ausgaben führen; siehe § 38 BHO) liegt die Grenze bei 10 Mio. Euro. Über niedrigere Beträge wird das Parlament im Rahmen einer Gesamtmeldung aller über- und außerplanmäßigen Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen quartalsweise unterrichtet.
Eine Verpflichtungsermächtigung
ist die Ermächtigung zum Eingehen von Verpflichtungen zur Leistung von Ausgaben in künftigen Jahren.
Finanzielle Auswirkungen der vorläufigen Haushaltsführung
Aufgrund der oben dargelegten restriktiven Vorgaben des Art. 111 GG ist unterjährig (zunächst) von einem verminderten Ausgabeabfluss auszugehen – im Vergleich zu einem Mittelabfluss in einem Jahr, in dem ab Beginn ein durch Gesetz festgestellter Haushaltsplan vorliegt. Allerdings ist eine entsprechende Quantifizierung nicht möglich. Daher können aus den „üblichen“ Mittelabflüssen in Jahren mit einem Haushaltsplan keine belastbaren Rückschlüsse auf die Ausgaben während der vorläufigen Haushaltsführung gezogen werden.
Quintessenz
Die Bundesregierung ist auch während der vorläufigen Haushaltsführung – im Rahmen der zur Wahrung des Budgetrechts des Parlaments erforderlichen Grenzen – vollständig handlungsfähig.