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  • Blick von außen – Der ökonomische Gastbeitrag

    Ver­mö­gen für al­le

    Porträtfoto von Prof. Jörg Rocholl

    Prof. Jörg Rocholl, PhDPhilosophiae Doctor, ist Präsident der internationalen Wirtschaftshochschule ESMT Berlin und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen.

    Seit dem Jahr 2007 lehrt und forscht er an der ESMT, deren Präsident er seit dem Jahr 2011 ist. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Corporate Finance, Corporate Governance, Financial Intermediation, Zentralbanken und Finanzregulierung.

    Der Gastbeitrag von Prof. Jörg Rocholl für diesen BMF-Monatsbericht ist als Blick von außen und als Beitrag zum allgemeinen Diskurs zu verstehen; er gibt nicht notwendigerweise die Meinung des BMF wieder.

    Einleitung

    Wie kann der langfristige Vermögensaufbau in Deutschland für breite Bevölkerungsschichten systematisch und nachhaltig vorangebracht werden? Diese Frage stellt sich in Deutschland mit hoher Dringlichkeit, da die Sparquote sich in der europäischen Spitzengruppe befindet – das Finanzvermögen pro Kopf aber nur im europäischen Mittelfeld liegt. Beim Eigentum von Wohnungen und Häusern rangiert Deutschland sogar im Tabellenkeller. Offenbar übersetzt sich eine hohe Sparleistung in Deutschland nicht in einen entsprechenden Aufbau von Eigentum und Vermögen. Hinzu kommt, dass der demografische Wandel den Druck auf die gesetzliche Rentenversicherung als besonders wichtiges Element der Altersvorsorge weiter steigen lässt. Schon jetzt beträgt der Bundeszuschuss an die Rentenversicherung mehr als 100 Mrd. Euro pro Jahr. Ohne Reformen wird sich dieser Zuschuss in den kommenden Jahren weiter deutlich erhöhen.

    Daher stehen Reformen in allen Säulen der Altersvorsorge auf der Agenda: in der ersten Säule der gesetzlichen Rentenversicherung, in der zweiten Säule der betrieblichen Altersvorsorge und in der dritten Säule der privaten Altersvorsorge. Die Reformen sollten aber darüber hinausgehen und grundlegende Fragen wie die Finanzbildung der Bevölkerung und Anlagemöglichkeiten für andere Gruppen wie institutionelle Investorinnen und Investoren sowie Stiftungen einbeziehen. Sie haben damit Relevanz für die Angebotsseite, also die Frage, wie Menschen ihr Kapital am besten anlegen können. Sie sind nicht weniger wichtig für die Nachfrageseite, also die Frage, wie gerade junge und wachstumsstarke Unternehmen in Deutschland an Kapital gelangen. Denn diese Unternehmen müssen ab bestimmten Finanzierungsgrößen überwiegend nach Kapital aus dem Ausland suchen und häufig genug ihre wirtschaftlichen Aktivitäten dorthin verlagern.

    Die Bedeutung der Kapitalmärkte beim Vermögensaufbau

    Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat im vergangenen Jahr in einer Stellungnahme mit dem Titel „Kapitalgedeckte Rente: Ein neuer Anlauf?“ die Möglichkeiten beschrieben, die eine langfristig orientierte und breit diversifizierte Anlage in die Kapitalmärkte bei der Alterssicherung bietet. Der Beirat hat dabei den Grundsatz betont, dass private Haushalte auch ohne den Eingriff des Staats Eigentum und Vermögen bilden sollten – staatliche Interventionen also in jedem einzelnen Fall gut begründet und je nach Art des zu behebenden Markt- und Politikfehlers unterschiedlich ausgeprägt sein müssen. Eine staatliche Intervention könnte dennoch aus drei Gründen geboten sein. Erstens fehlen Teilen der Bevölkerung Kenntnisse über Finanzmärkte und Anlagemöglichkeiten, sodass der Staat Informationen zur Verfügung stellen könnte, um dieses Defizit zu beheben. Die Schaffung einer nationalen Finanzbildungsstrategie ist hier als besonders passgenaue Maßnahme zu beschreiben. Zweitens könnten Menschen selbst bei ausreichendem Wissen über Finanzmärkte von diesen ausgeschlossen sein, wenn sie durch Liquiditätsbeschränkungen nicht in diese investieren können. Der Staat könnte in diesem Fall an deren Stelle treten und die Investitionen anstelle dieser Teile der Bevölkerung tätigen. Das derzeit vom BMF initiierte „Generationenkapital“ wäre damit eine Maßnahme in diese Richtung. Ein dritter Grund für eine Intervention des Staats, gerade bei der Einführung einer verpflichtenden Teilnahme an einem kapitalgedeckten Element der Rentenversicherung, kann in der Überwindung des Samariter-Dilemmas liegen. Damit sollen die schwachen Anreize zur eigenverantwortlichen Altersvorsorge gerade für diejenigen Menschen adressiert werden, die die höchste Notwendigkeit zur Vorsorge haben, diese aber in Erwartung späteren sozialpolitischer Unterstützung des Staats nicht angehen.

    Der Beirat hat sich in seiner Stellungnahme für eine deutliche Reform der Riester-Rente ausgesprochen. Denn die Renditen für die Berechtigten fallen trotz einer jährlichen staatlichen Förderung in Milliardenhöhe niedrig aus. Im Verbund mit einer enormen Komplexität sind die ursprünglichen Erwartungen zur Anzahl der abgeschlossenen Verträge daher deutlich unterschritten worden. Der Beirat unterbreitet eine Reihe von Vorschlägen, wie eine zukünftige Ausgestaltung zu höheren Renditen und damit deutlich höherer Akzeptanz führen kann. Insbesondere schlägt der Beirat eine Abschaffung der Beitragsgarantie vor, die zwar die eingezahlten Beiträge schützt, dafür aber die langfristigen Renditechancen an Kapitalmärkten reduziert. Gerade beim Sparen für das Rentenalter stehen Investitionshorizonte von mehreren Jahrzehnten zur Verfügung, über die bei allen gegebenen Schwankungen in einzelnen Jahren empirisch fast durchgehend höhere Renditen bei Aktien als bei anderen Anlageklassen wie Staats- oder Unternehmensanleihen erzielt werden können. Der Ansatz ohne Beitragsgarantie oder die Abschaffung einer solchen Garantie sollte daher sowohl bei der Gestaltung des Generationenkapitals als auch bei der Weiterentwicklung der Säule der privaten Altersvorsorge in der gegenwärtig tagenden Fokusgruppe das tragende Element sein.

    Der Beirat hat sich in seiner Stellungnahme mit dem schwedischen Modell auseinandergesetzt, in dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer neben einem Beitrag zu einer umlagefinanzierten Rentenversicherung verpflichtend in einen breit diversifizierten Kapitalmarktfonds investieren. Eine verpflichtende Teilnahme der arbeitenden Bevölkerung an einem ähnlichen Fonds in Deutschland wäre eine folgerichtige Weiterentwicklung des Generationenkapitals. Dieser würde sein Kapital damit nicht nur durch staatliche Zuwendungen aufbauen, sondern auch durch individuelle Beiträge. Diese Weiterentwicklung setzt allerdings wesentliche Schritte voraus. Erstens müssten individuelle Konten für die Beitragszahlenden errichtet werden. Zweitens müsste im Sinne der Akzeptanz der verpflichtenden Teilnahme besonders darauf geachtet werden, dass die Kapitalanlage nach besten Risiko-Renditen-Gesichtspunkten und damit unabhängig von anderen politischen Zielen erfolgt. Drittens müsste geklärt werden, wie neben einem staatlichen Standardprodukt wie in Schweden private Angebote mit einer ähnlich kostengünstigen und transparenten Anlagepolitik ermöglicht werden.

    Die Notwendigkeit für weitere politische Reformen

    Alle beschriebenen Möglichkeiten entfalten eine umso größere Wirkung, je breiter das Finanzwissen in der Bevölkerung verankert ist. Deutschland verfügt bisher als eines der wenigen Länder in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und als Ausnahme unter den G20-Staaten über keine nationale Finanzbildungsstrategie. Das bisherige Fehlen dieser Finanzbildungsstrategie hat konkrete negative Auswirkungen. So zeigen Studien, dass ein viel zu großer Teil der Bevölkerung in Deutschland das wichtige Prinzip des Zinseszinses nicht versteht. Dieses Prinzip zeigt seine Kraft vor allem bei der langfristigen Anlage von Kapital und sollte zur Allgemeinbildung gehören, um langfristigen Vermögensaufbau zu ermöglichen und zu unterstützen. Genauso könnte eine gezielte Finanzbildungsstrategie zu einer Verringerung der privaten Überschuldung in Deutschland beitragen und damit sowohl eine verbesserte wirtschaftliche als auch gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Der am 23. März 2023 durch BMF und Bundesministerium für Bildung und Forschung erfolgte Startschuss zur Entwicklung einer solchen Strategie ist daher ausdrücklich zu begrüßen. Wichtig ist dabei aber nicht nur deren Entwicklung, sondern vor allem ihre Umsetzung und die Messung der Wirksamkeit der beschlossenen Maßnahmen.

    Das Sparverhalten in Deutschland ist nach wie vor geprägt von einem hohen Grad an Risikoaversion und damit von einem Auslassen von Renditechancen. Der größte Anteil des Ersparten befindet sich in Spar- und Sichteinlagen bei Kreditinstituten. Eine Kombination der oben beschriebenen Maßnahmen aus Finanzbildung und Elementen des schwedischen Modells könnte große Änderungen bewirken. Gerade die Schaffung individueller Anlagekonten wäre ein wichtiger Schritt. Denn er würde es Anlegerinnen und Anlegern ermöglichen, die Entwicklung ihrer Anlagen unmittelbar zu verfolgen und damit weitere Vertrautheit mit Kapitalmärkten aufzubauen, also „learning by doing“ im besten Sinne.

    Die Reformen sollten aber hier nicht stoppen. Denn ein ebenfalls signifikanter Anteil des Ersparten wandert in Deutschland zu institutionellen Investorinnen und Investoren wie Lebensversicherungen und Pensionsfonds. Diese sind wiederum durch die gegenwärtige Regulierung daran gehindert, deutlich mehr in renditeträchtigere Anlageklassen zu investieren. Auch die regulatorischen Anforderungen an Lebensversicherungen und Pensionsfonds gehören daher auf den Prüfstand. Denn eine Anpassung dieser Anforderungen könnte dazu beitragen, dass die genannten Institutionen einen größeren Anteil ihres Kapitalstocks in Aktien oder sogar Venture Capital investieren. Damit ergäben sich Renditechancen auf der Anlageseite ebenso wie wertvolles Kapital zur Schaffung von Wachstum gerade bei jungen Unternehmen auf der Nachfrageseite. Ähnliche Überlegungen gelten für Stiftungen, die aufgrund ihres langfristigen Investitionshorizonts dazu prädestiniert wären, eine deutlich höhere Gewichtung ihrer Portfolio-Allokation in renditeträchtigere Anlageklassen zu ermöglichen.

    Die Politik in Deutschland steht vor wichtigen Weichenstellungen zum langfristigen Vermögensaufbau der Bürgerinnen und Bürger. Die notwendigen Reformen sind umfassend und werden ihre Wirkung häufig erst mittel- und langfristig entfalten. Umso wichtiger ist es, jetzt kraftvoll und umfassend mit diesen Reformen zu beginnen.

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