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  • Analysen und Berichte

    Das Eu­ro­päi­sche Se­mes­ter 2023

    • Das Europäische Semester dient der Überwachung, Koordinierung und Abstimmung der Haushalts-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Jedes Jahr analysiert die Europäische Kommission u. a. im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts und des Verfahrens zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte eingehend die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Mitgliedstaaten, welche dann im Vorfeld ihrer nationalen Haushaltsverfahren Empfehlungen erhalten.
    • Im Europäischen Semester 2023 hat die Europäische Kommission auch die im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität (Recovery and Resilience Facility, RRF) erstellten nationalen Aufbau- und Resilienzpläne in ihren Analysen berücksichtigt und entsprechende länderspezifische Empfehlungen vorgeschlagen.
    • Auch in den nächsten Jahren wird die Umsetzung der RRF eine wesentliche Rolle im Europäischen Semester spielen.

    Ziel des Europäischen Semesters

    Das Europäische Semester soll die wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitische Koordinierung zusammenführen und dazu beitragen, notwendige Reformen besser umzusetzen. Es soll helfen, die Konvergenz und Stabilität in der Europäischen Union (EU) sicherzustellen, solide öffentliche Finanzen zu gewährleisten, übermäßige makroökonomische Ungleichgewichte in der EU zu verhindern und Strukturreformen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wirtschaftswachstum sowie den Übergang zur Klimaneutralität zu fördern. Regelmäßige Beobachtungen dienen dazu, wirtschaftliche, ökologische und soziale Herausforderungen für die EU und den Euroraum frühzeitig zu identifizieren und Fortschritte bei ihrer Bewältigung zu bewerten. Darauf aufbauend werden Empfehlungen ausgesprochen, die den Mitgliedstaaten helfen sollen, eine nachhaltige, wachstumsorientierte Politik umzusetzen. Temporär bietet es nun auch den Rahmen für die Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF).

    Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF)

    Das temporäre Aufbauinstrument „Next Generation EU“ (NGEU) wurde zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der COVID-19-Krise geschaffen. Größtes NGEU-Ausgabenprogramm ist die RRF mit einem Volumen von bis zu 672,5 Mrd. Euro (zu Preisen von 2018). Ziel der RRF ist es, im Zuge der Bewältigung der Pandemiefolgen den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der EU zu stärken und dabei insbesondere die Resilienz, Krisenvorsorge und Wachstumspotenziale der Mitgliedstaaten zu verbessern, den Aufbau zu unterstützen und gleichzeitig den Klimaschutz und die Digitalisierung zu fördern. Zudem sollen die Herausforderungen, die in den länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters 2019 und 2020 festgestellt wurden, angegangen werden. Um Mittel aus der RRF zu erhalten, mussten die Mitgliedstaaten nationale Aufbau- und Resilienzpläne (ARP) erstellen, in denen sie von ihnen angestrebte Reformen und Investitionen festlegen und klare Etappenziele sowie Zielwerte für deren Umsetzung bis 2026 definieren. Ein Mitgliedstaat erhält erst dann Gelder von der EU-Kommission, wenn er die vereinbarten Etappenziele und Zielwerte bei der Umsetzung der geplanten Reformen und Investitionen erreicht hat.

    Die RRF ist auch zentral für die Umsetzung des REPowerEU-Plans, mit dem die EU-Kommission auf die sozioökonomischen Schwierigkeiten und Störungen des globalen Energiemarkts infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine reagiert.

    Das Europäische Semester 2023

    Das Europäische Semester 2023 verlief weiterhin parallel zur Umsetzung der RRF. Die konsequente Umsetzung der ARP bleibt für die Verwirklichung der politischen Prioritäten im Rahmen des Europäischen Semesters unerlässlich, da mit diesen Plänen alle oder wesentliche Teile der einschlägigen länderspezifischen Empfehlungen der Jahre 2019 und 2020 angegangen werden.

    Abbildung: Integrierter Prozess – Europäisches Semester und RRF im Jahr 2023 (mehr in der Langbeschreibung) BildVergroessern
    Abbildung 1

    Das Herbstpaket

    Das sogenannte Herbstpaket der Europäischen Kommission wurde am 22. November 2022 veröffentlicht und bildet den Auftakt des Europäischen Semesters. Das Paket umfasste u. a. (1) die jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum, (2) die Bewertung der Haushaltspläne der Euro-Mitgliedstaaten für 2023, (3) den Warnmechanismus-Bericht sowie (4) den Kommissionsvorschlag für Eurozonenempfehlungen.

    In der jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum (Annual Sustainable Growth Survey, ASGS) benennt die EU-Kommission die wichtigsten finanz-, wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Herausforderungen für die EU im kommenden Jahr. Im ASGS 2023 schreibt die EU-Kommission die wirtschafts- und finanzpolitischen Zielsetzungen der Vorjahre – ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, soziale Gerechtigkeit und makroökonomische Stabilität – fort. Neue politische Herausforderungen, die sich u. a. im energiepolitischen Bereich ergeben, werden in die vier genannten Dimensionen integriert. Die RRF wird dabei mehrfach als wichtiges Instrument zur Umsetzung der Reform- und Investitionsagenda genannt. Durch die Verknüpfung der RRF mit RePowerEU trägt diese im Rahmen der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie auch zur energiepolitischen Agenda bei. Hinsichtlich der konjunkturellen Entwicklungen sollten wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen laut der EU-Kommission koordiniert und flexibel bleiben. Unter den vier Dimensionen werden weiterhin verschiedenste Prioritäten benannt, u. a. funktionierende EU-Energiemärkte, schneller Ausbau erneuerbarer Energien, Umsetzung des europäischen Green Deals, solide Lieferketten, ein reibungslos funktionierender Binnenmarkt, Investitionen in Forschung und Entwicklung und Tragfähigkeit sozialer Sicherungsnetze. Einen großflächigen fiskalischen Impuls für das Jahr 2023 hält die EU-Kommission nicht für angemessen. Am 23. März 2023 billigte der Europäische Rat die auf die vier Komponenten der wettbewerbsfähigen Nachhaltigkeit abstellenden Prioritäten des Berichts.

    Die im Oktober vorgelegten Übersichten über die Haushaltsplanungen der Euro-Mitgliedstaaten werden an den länderspezifischen Empfehlungen des Rats für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) aus dem Juli 2022 gemessen. Die Empfehlungen 2022 fielen aufgrund der Verlängerung der allgemeinen Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) für 2023 erneut stark qualitativ und nur wenig differenziert aus. Demnach sollen, unter Berücksichtigung zielgerichteter und temporärer Unterstützungsmaßnahmen, hoch verschuldete Mitgliedstaaten (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Frankreich, Belgien) im kommenden Jahr das Wachstum ihrer national finanzierten laufenden Primärausgaben unter dem Potenzialwachstum halten. Mitgliedstaaten mit niedrigem und mittlerem Schuldenstand sollen sicherstellen, dass das Wachstum der national finanzierten laufenden Primärausgaben mit einer insgesamt neutralen fiskalischen Ausrichtung im Einklang steht.

    Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP)
    ist ein regelbasierter Rahmen für die Koordinierung und Überwachung der nationalen Finanzpolitiken in der EU. Im SWP wurden die Obergrenze des gesamtstaatlichen Schuldenstands mit 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sowie ein maximales gesamtstaatliches Defizit von 3 Prozent des BIP dauerhaft festgeschrieben.

    Die allgemeine Ausweichklausel
    versetzt die Mitgliedstaaten in die Lage, im Rahmen der präventiven und korrektiven Verfahren des SWP haushaltspolitische Maßnahmen zu ergreifen, die es ermöglichen, einer Krisensituation angemessen zu begegnen. Im Zusammenhang mit der präventiven Komponente in Art. 5 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EG) 1466/97 heißt es: „[...] bei einem schweren Konjunkturabschwung im Euro-Währungsgebiet oder in der Union insgesamt kann den Mitgliedstaaten gestattet werden, vorübergehend von dem Anpassungspfad in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel [...] abzuweichen, vorausgesetzt, dies gefährdet nicht die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“. Im Hinblick auf die korrektive Komponente ist festgelegt, dass der Rat im Falle eines schweren Konjunkturabschwungs im Euro-Währungsgebiet oder in der Union insgesamt auf Empfehlung der EU-Kommission beschließen kann, einen überarbeiteten haushaltspolitischen Kurs festzulegen.

    Die EU-Kommission kommt zu dem Schluss, dass in der Gruppe der Hochschuldenländer die Haushaltsplanung in Frankreich, Griechenland und Spanien im Einklang mit den fiskalischen Empfehlungen steht, während dies für Belgien und Portugal nur teilweise gilt. Insbesondere in Belgien dürfte das Wachstum der laufenden Primärausgaben im Verhältnis zum Potenzialwachstum zu hoch ausfallen. In der Gruppe mit mittleren/niedrigeren Schuldenquoten sieht die EU-Kommission die Empfehlungen für Deutschland, Österreich, Litauen, Estland, Luxemburg, die Niederlande, die Slowakei und Slowenien nur teilweise als erfüllt an. In diesen Mitgliedstaaten würden laut Einschätzung der EU-Kommission vor allem die national finanzierten laufenden Primärausgaben unter Abzug von zielgerichteten und temporären Unterstützungsmaßnahmen zu einer zu expansiven (anstelle einer neutralen) fiskalischen Ausrichtung beitragen.

    Der Warnmechanismus-Bericht 2023 identifiziert für nunmehr 17 Mitgliedstaaten (inklusive Deutschland) potenzielle Ungleichgewichte und kündigt für diese vertiefte Analysen an, um zu beurteilen, ob sie von Ungleichgewichten betroffen sind, die politische Maßnahmen erfordern. Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, die Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und Zypern (wie im Vorjahr) sowie Estland, Litauen, Lettland, Luxemburg, die Slowakei, Tschechien und Ungarn (als neu zu überprüfende Mitgliedstaaten) sollten im Rahmen des Semesters 2023 vertieft überprüft werden. Wie in den Vorjahren befindet sich Deutschland aufgrund des Leistungsbilanzüberschusses (LBÜ), dem Immobilienpreiswachstum sowie der Staatsverschuldung unter den Mitgliedstaaten, die solch einer vertieften Überprüfung unterzogen werden. Insgesamt weist die EU-Kommission darauf hin, dass sich durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen Anfälligkeiten und Risiken im Zusammenhang mit bereits bestehenden Ungleichgewichten erhöht haben. Zudem würden neue Ungleichgewichte entstehen.

    In dem Kommissionsvorschlag für Eurozonenempfehlungen wird für das Jahr 2023 eine koordinierte Finanzpolitik zur Unterstützung der Rückkehr der Inflation zu dem mittelfristigen Ziel der Europäischen Zentralbank empfohlen: Auf breit angelegte Unterstützung der Gesamtnachfrage soll verzichtet werden, fiskalische Unterstützungsmaßnahmen sind so auszugestalten, dass Anreize zum Energiesparen erhalten bleiben sowie der Übergang zu sauberer Energie beschleunigt, die Schuldentragfähigkeit gewährleistet und das Wachstumspotenzial nachhaltig gesteigert werden. Die Eurozonenempfehlungen wurden nach der Diskussion in den Gremien und der Billigung durch den Europäischen Rat vom ECOFIN-Rat am 16. Mai 2023 angenommen.

    Vorlage der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme und der Nationalen Reformprogramme

    Bis Ende April 2023 hatten die Mitgliedstaaten des Euroraums ihre Stabilitäts-, die übrigen EU-Mitgliedstaaten ihre Konvergenzprogramme (SKP) und alle Mitgliedstaaten ihre Nationalen Reformprogramme (NRP) vorzulegen. In den SKP legen die Mitgliedstaaten ihre finanzpolitische Strategie dar, um tragfähige öffentliche Finanzen zu erreichen. In ihren NRP legen die Mitgliedstaaten u. a. ihre Maßnahmen zur Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen dar.

    Das Frühjahrspaket der Europäischen Kommission

    Am 24. Mai 2023 veröffentlichte die EU-Kommission ihr Frühjahrspaket. Es ist das Hauptelement des Europäischen Semesters, das die Entscheidungen des ECOFIN im Rahmen des SWP und der wirtschaftspolitischen Koordinierung vorbereitet. Es umfasste u. a. folgende Elemente:

    • Länderberichte für 27 Mitgliedstaaten,
    • Vorschläge für länderspezifische Empfehlungen für alle 27 Mitgliedstaaten,
    • einen Bericht nach Art. 126 (3) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV),
    • eine vertiefte Analysen im Rahmen des makroökonomischen Ungleichgewichteverfahrens für 17 Mitgliedstaaten.

    Die Länderberichte enthalten eine Momentaufnahme der bereits bestehenden und sich neu formierenden Herausforderungen, die durch die Verpflichtungen im Rahmen der nationalen ARP nicht hinreichend abgedeckt sind, sowie der Resilienz der Mitgliedstaaten bei der Bewältigung dieser Herausforderungen. Diese „Lückenanalyse“ ist insbesondere darauf ausgerichtet, die europäische Energieabhängigkeit nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Einklang mit den Prioritäten von REPowerEU zu verringern und die damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen zu bewältigen. In den Länderberichten wird zudem eine Bilanz der Umsetzung früherer länderspezifischer Empfehlungen und der Maßnahmen der nationalen ARP gezogen.

    Bei den länderspezifischen Empfehlungen handelt es sich um spezifische Leitvorgaben, wie die einzelnen Mitgliedstaaten Beschäftigung, Wachstum und Investitionen fördern können, ohne die Solidität ihrer öffentlichen Finanzen zu beeinträchtigen. Dabei bleiben die nationalen Zuständigkeiten für die Finanz-, Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik gewahrt. Die Kommissionsvorschläge für länderspezifische Empfehlungen stützten sich insbesondere auf die Länderberichte und die Darstellungen der Mitgliedstaaten in ihren NRP beziehungsweise SKP. Zudem wurde die Überwachung der RRF temporär in das Europäische Semester integriert, sodass auch die Implementierung der nationalen ARP in den Empfehlungen berücksichtigt wird. Die diesjährigen Vorschläge für länderspezifische Empfehlungen sind in vier grundlegende Bereiche unterteilt, die jedoch nicht bei allen Mitgliedstaaten gleichermaßen Anwendung finden:

    1. haushaltspolitische Empfehlungen
    2. Aufforderung zur Implementierung der ARP, inklusive angepasstem REPowerEU-Kapitel und Umsetzung der kohäsionspolitischen Programme
    3. weitere reformpolitische Empfehlungen, die nicht bereits im jeweiligen ARP abgebildet sind
    4. energiepolitische Empfehlung mit REPowerEU-Bezug

    Nach Deaktivierung der allgemeinen Ausweichklausel sind erstmalig seit 2019 für 2024 wieder quantitative fiskalische Vorgaben vorgeschlagen. Für Mitgliedstaaten, die ihre mittelfristigen Haushaltsziele noch nicht erreicht haben, ist eine Haushaltsanpassung (Verbesserung des strukturellen Saldos) von 0,5 Prozent des BIP als Richtwert vorgesehen (kalibriert nach Tragfähigkeitsanalysen).

    Die Empfehlung zur Umsetzung der ARP unterstreicht dabei die derzeit große Bedeutung der RRF innerhalb des Semesterprozesses, die von der EU-Kommission mehrfach als wichtiges Instrument zur Umsetzung von Reformen und Investitionen in den Mitgliedstaaten herausgestellt wird. Diese Empfehlungen enthalten Abstufungen entsprechend dem jeweiligen Umsetzungsstand und fordert einige Länder zur expliziten Verstärkung ihrer administrativen Kapazitäten auf.

    Bei den struktur-/reformpolitischen Empfehlungen greift die EU-Kommission als horizontales Thema insbesondere die Stärkung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten und der EU auf. Dazu werden u. a. ein besserer Zugang zu Finanzmitteln, bezahlbare Energieversorgung, Reduzierung von strategischen Abhängigkeiten, der Abbau von regulatorischen und bürokratischen Hemmnissen sowie Maßnahmen zur Adressierung des ökologischen und digitalen Wandels betont. Diese finden sich mit entsprechenden länderspezifischen Schwerpunkten in den individuellen Empfehlungen wieder.

    Der ECOFIN-Rat hat die länderspezifischen Empfehlungen nach Diskussion in den entsprechenden Gremien am 14. Juli 2023 angenommen. Die Mitgliedstaaten sind nun gefordert, die Empfehlungen umzusetzen.

    Weiterhin hat die EU-Kommission einen Bericht nach Art. 126 (3) AEUV (erster Schritt für potenzielle Defizitverfahren) für 16 Mitgliedstaaten (u. a. Deutschland) vorgelegt. Mit dem Bericht überprüft sie die Einhaltung der Obergrenze für das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit von 3 Prozent des BIP und die Einhaltung der Obergrenze der gesamtstaatlichen Schuldenquote von 60 Prozent des BIP. Verstöße gegen das Defizitkriterium auf Basis der realisierten Zahlen in 2022 und/oder Planzahlen für 2023 sieht die EU-Kommission bei 14 Mitgliedstaaten (Belgien, Tschechien, Spanien, Frankreich, Italien, Lettland, Ungarn, Malta, Polen, Bulgarien, Deutschland, Estland, Slowenien und der Slowakei). Die EU-Kommission verzichtet wegen der hohen wirtschaftlichen Unsicherheit und der damit verbundenen Probleme, glaubwürdige fiskalische Abbaupfade festzulegen, erneut auf die Eröffnung von Defizitverfahren in diesem Jahr. Sie kündigt an, im Frühjahr 2024 auf Basis der 2023er-Zahlen die Eröffnung von Defizitverfahren vorzuschlagen.

    Für die 17 Mitgliedstaaten, die im Warnmechanismus-Bericht 2023 identifiziert wurden, enthielt das Frühjahrspaket zudem vertiefte Analysen über die Existenz und Natur von makroökonomischen Ungleichgewichten. Ergeben diese, dass tatsächlich ein schädliches übermäßiges Ungleichgewicht besteht beziehungsweise unmittelbar droht, erhalten die betroffenen Mitgliedstaaten eine Empfehlung, dieser Entwicklung entgegenzuwirken.

    Als horizontalen Faktor hat die EU-Kommission die Unsicherheit angesichts der sehr hohen Inflation identifiziert. Starke Inflationsdivergenzen könnten die Wettbewerbsfähigkeit in Hochinflationsländern unterminieren. Eine Reihe von osteuropäischen Mitgliedstaaten hat die EU-Kommission erstmalig untersucht, vor allem wegen hoher Inflation. Angesichts der starken Unsicherheit über die weitere Entwicklung hat sie von einer Einstufung als Mitgliedstaat mit Ungleichgewichten abgesehen. Andererseits haben sich die mit hoher Inflation einhergehenden hohen nominalen Wachstumsraten günstig auf den Schuldenstand (öffentlich und privat) im Verhältnis zum BIP ausgewirkt.

    Die Ergebnisse dieser vertieften Überprüfungen aus dem Europäischen Semester 2022 und 2023 und die entsprechende Einstufung der Mitgliedstaaten können der folgenden Tabelle entnommen werden.

    Klassifizierung im makroökonomischen Ungleichgewichteverfahren

    Tabelle vergrößern
    Tabelle 1

    Nach der EU-Kommissionseinschätzung weist Deutschland ein makroökonomisches Ungleichgewicht auf, das sich insbesondere in einem dauerhaft hohen LBÜ aufgrund von nach wie vor gedämpften Investitionen relativ zur Ersparnisbildung äußert. Zwar sei der LBÜ im Jahr 2022 sehr deutlich gesunken, dafür seien aber vor allem die stark gestiegenen Preise für Energieimporte ursächlich. Dennoch lag der LBÜ mit 4 ½ Prozent des BIP nach Einschätzung der EU-Kommission weiterhin über dem durch die Fundamentaldaten gerechtfertigten Wert. Die EU-Kommission empfiehlt eine zeitnahe und effektiv umgesetzte öffentliche Investitionsinitiative und den Abbau von Investitionshemmnissen. Deutschland, Frankreich, Spanien und Portugal wurde von der EU-Kommission eine Rückstufung im Folgejahr in Aussicht gestellt, sofern sich ihre Ungleichgewichte weiter zurückbilden.

    Fortentwicklung und Ausblick

    In den nächsten Jahren wird für die wirtschaftspolitische Koordinierung das Zusammenspiel des Europäischen Semesters und der RRF von Bedeutung sein. Das Europäische Semester ist dabei weiterhin ein wichtiges Instrument der wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitischen Koordinierung auf europäischer Ebene, insbesondere da es neue strukturelle Hausausforderungen herausarbeitet, einen multilateralen Austausch fördert und eine analytische Grundlage bietet, um wirtschaftspolitische Prioritäten konsistent auf EU-Ebene und auch in Verbindung mit EU-Programmen zu verfolgen. Das Europäische Semester sollte daher weiterhin das zentrale Governance-Instrument der wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitischen Koordinierung auf EU-Ebene bleiben und als wirtschaftspolitischer Rahmen dienen, der auch aktuelle Herausforderungen von makroökonomischer Relevanz wie den ökologischen und digitalen Wandel mitdenken muss. Gleichzeitig sollte eine inhaltliche Überfrachtung des Semesters vermieden werden. Bezüglich der haushaltspolitischen Überwachung steht eine Rückkehr zu den normalen Verfahren an.

    Für die wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung auf EU-Ebene wird zudem die Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung (sogenannte Economic Governance Review) der EU-Kommission von Bedeutung sein.

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