Rückblick auf die Sitzung der Eurogruppe und die informellen Sitzungen der ECOFIN-Ministerinnen und -Minister am 15. und 16. September 2023 in Santiago de Compostela/Spanien
Eurogruppe
Die Eurogruppe begann am 15. September mit einem Austausch zur wirtschaftlichen Entwicklung in Europa. Die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB) präsentierten ihre jüngsten Prognosen zum Wirtschaftswachstum und der Inflation. Beide Institutionen sehen eine weiterhin gedämpfte Konjunkturdynamik. Sowohl die Europäische Kommission in ihrer Sommerprognose vom 11. September 2023 als auch die EZB in ihrer Projektion vom 14. September 2023 korrigierten ihre Wachstumsprognosen nach unten.
Die Europäische Kommission erwartet für dieses Jahr ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Euroraum von 0,8 Prozent. Die EZB prognostiziert für 2023 ein BIP-Wachstum von 0,7 Prozent. Für 2024 erwarten die Europäische Kommission und die EZB ein etwas höheres Wirtschaftswachstum in Höhe von 1,3 Prozent beziehungsweise 1,0 Prozent im Euroraum. Die Inflation wiederum sei zwar nach Einschätzung der Europäischen Kommission mittlerweile niedriger, befinde sich aber weiterhin auf einem zu hohen Niveau. Die Europäische Kommission erwartet für dieses und nächstes Jahr eine Inflationsrate von 5,6 Prozent beziehungsweise 2,9 Prozent. Die EZB prognostiziert für 2023 und 2024 wiederum eine Inflationsrate von 5,6 Prozent beziehungsweise 3,2 Prozent.
Die Europäische Kommission betonte, dass die Fiskalpolitik restriktiv bleiben solle, insbesondere in hoch verschuldeten Ländern. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) schloss sich den Analysen der Europäischen Kommission und der EZB an. Die Einschätzung der Vorsitzenden des ECON-Ausschusses im Europäischen Parlament Irene Tinagli zur aktuellen wirtschaftlichen Situation im Euroraum entsprach weitgehend den Projektionen der Europäischen Kommission und der EZB.
Bundesfinanzminister Christian Lindner machte deutlich, dass die Bekämpfung der Inflation ein zentrales Ziel sei und die Fiskalpolitik die Geldpolitik nicht konterkarieren dürfe.
Einige Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, forderten eine Stärkung der Wachstumskräfte in Europa im Rahmen einer angebotsorientierten Politik und betonten u. a., dass die bürokratischen Belastungen für die Wirtschaft gesenkt und zentrale Projekte wie die Kapitalmarktunion entschieden vorangetrieben werden müssten. In mehreren Redebeiträgen wurde das in der Vorwoche veröffentlichte gemeinsame deutsch-französische Papier zur Kapitalmarktunion als guter Impuls gewürdigt.
Die Mitgliedstaaten waren sich weitgehend darüber einig, dass die Finanzpolitik im aktuellen Umfeld umsichtig und vorsichtig agieren solle, indem sie einen restriktiven Kurs verfolge. Grundsätzlich müsse sie mit der Geldpolitik der EZB in Einklang stehen. Der Präsident der Eurogruppe Paschal Donohoe resümierte zum Ende des Austauschs, dass die Erklärung der Eurogruppe vom Juli weiterhin gerechtfertigt sei und Bestand habe.
Im Anschluss befasste sich die Eurogruppe mit der Nachbesetzung des Sitzes von Fabio Panetta im EZB-Direktorium. Die Mitgliedstaaten einigten sich auf Piero Cipollone, Vizegouverneur der italienischen Zentralbank, als geeigneten Kandidaten für das EZB-Direktorium. Über die Ernennung von Piero Cipollone als Nachfolger von Fabio Panetta wird der Europäische Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des EZB-Rats entscheiden. Ziel sei es, dass Piero Cipollone zum 1. November 2023 sein Amt als neues Direktoriumsmitglied antreten könne.
Im Nachgang zur Eurogruppe trafen sich die ECOFIN-Ministerinnen und -Minister am 15. September 2023 mit den Ministerinnen und Ministern und internationalen Finanzinstitutionen aus Lateinamerika und der Karibik. Thematische Schwerpunkte waren die Global Gateway Investment Agenda und das Global Financial Safety Net. Die nationalen Notenbankpräsidentinnen und -präsidenten nahmen ebenfalls an dem Treffen teil.
Erster Tagesordnungspunkt des Treffens war die Umsetzung der Global Gateway Investment Agenda. Die Aussprache knüpfte an das Gipfeltreffen der Europäischen Union (EU) und der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten vom Juli 2023 an. Ziel der Global-Gateway-Investitionsagenda ist die Identifikation potenzieller Investitionsprojekte, die einen positiven Beitrag zur Deckung des Infrastrukturbedarfs leisten und damit einen Mehrwert in Form von Wachstum, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt schaffen. Schwerpunkte liegen u. a. auf der Grünen Transformation, dem Digitalen Wandel und den sozialpolitischen Herausforderungen.
Die Europäische Kommission ging zu Beginn des Austauschs auf die wesentlichen Inhalte der Investitionsagenda ein. Insbesondere die Mobilisierung privaten Kapitals sei ein wichtiges Ziel, da öffentliche Gelder nicht ausreichen dürften, um bestehende Bedarfe zu decken. Die Mitgliedstaaten und die Ministerinnen und Minister aus Lateinamerika und der Karibik waren sich einig, dass man die gegenseitige Partnerschaft insbesondere in Anbetracht der gegenwärtigen Lage weiter ausbauen müsse und begrüßten die Initiative der spanischen EU-Ratspräsidentschaft.
Bundesfinanzminister Christian Lindner betonte in seinem Beitrag die hohe Bedeutung einer stärkeren Zusammenarbeit der EU mit Lateinamerika und der Karibik. Deutschland sei an über 30 Projekten von rund 130 Projekten beteiligt. Er kam dabei auch auf die besondere Rolle des freien Handels zu sprechen und regte in diesem Zusammenhang eine zügige Finalisierung des EU-Mercosur-Handelsabkommens an. Einige lateinamerikanische Staaten machten deutlich, dass die Bekämpfung des Klimawandels und der Armut Hand in Hand gehen müssten und höchste Priorität hätten. Andere Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, verwiesen darauf, dass die Mobilisierung privaten Kapitals wichtig für den Erfolg des Projekts sei.
Ferner tauschten sich die Ministerinnen und Minister zum Global Financial Safety Net aus. Einige Mitgliedstaaten und Institutionen sprachen in ihren Beiträgen die aktuell laufende Quotenreform beim Internationalen Währungsfonds (IWF) an. Die Quotenreform soll die Ressourcenausstattung des IWF sichern. Bundesfinanzminister Christian Lindner und Ministerinnen und Minister anderer Mitgliedstaaten machten deutlich, dass die Rolle des IWF gestärkt werden solle. Auch wurden im Rahmen der Aussprache eine ambitionierte Reform der multilateralen Entwicklungsbanken sowie eine Verbesserung des Umgangs mit Schulden im Rahmen einer besser funktionierenden Schuldenarchitektur angesprochen.
Informeller ECOFIN
Das informelle Treffen der ECOFIN-Ministerinnen und -Minister am 16. September 2023 begann mit einem gemeinsamen Frühstück. Zentrales Thema war dabei der Economic Governance Review. Die Aussprache machte deutlich, dass die Positionen der Mitgliedstaaten in wesentlichen Punkten, wie z. B. den numerischen Vorgaben für die Entwicklung der Ausgaben und die Rückführung der Schuldenstandsquoten, noch weit auseinanderliegen. Die spanische Ratspräsidentschaft kündigte an, in den kommenden Wochen auf eine Einigung hinarbeiten zu wollen. Ziel der Ratspräsidentschaft ist eine Einigung der Mitgliedstaaten im Oktober. Die Trilogverhandlungen sollen dann im November beginnen.
Bundesfinanzminister Christian Lindner und einige andere Mitgliedstaaten bewerteten den Zeitplan der Ratspräsidentschaft als ambitioniert und stellten klar, dass Europa verlässliche, transparente und verbindliche Fiskalregeln brauche. Von zentraler Bedeutung seien dabei vor allem konkrete numerische Vorgaben für das Ausgabenwachstum (Benchmarks) und für die Rückführung von Schuldenstandsquoten (Safeguard). Auch seien die Beibehaltung des multilateralen Charakters des Regelwerks sowie klare und verbindliche Kriterien für die Einleitung eines Defizitverfahrens wichtig. Einige Mitgliedstaaten äußerten sich in ähnlicher Weise. Andere Mitgliedstaaten zweifelten hingegen am Nutzen eines numerischen Safeguard zur Reduzierung der Schuldenstandsquote, da dieser zu überzogenen Konsolidierungsanforderungen führen würde, und kritisierten, dass der aktuelle Legislativvorschlag der Europäischen Kommission noch zu wenige Anreize für Reformen setze. Auch seien Regeln schwer zu akzeptieren, die unterm Strich das Wirtschaftswachstum schwächen würden. Bundesfinanzminister Christian Lindner hielt dem entgegen, dass Konsolidierung und Wachstum keine Gegensätze seien.
Im Anschluss an das Frühstück fand die erste gemeinsame Arbeitssitzung der Ministerinnen und Minister sowie der Zentralbankpräsidentinnen und -präsidenten statt. Thema war das Zusammenwirken der Fiskalpolitik seitens der Mitgliedstaaten und der Geldpolitik des Eurosystems. Ángel Ubide, Managing Director beim US-Finanzdienstleister Citadel LLC, und Lucrezia Reichlin vom Brüsseler Think-Tank Bruegel führten in die Thematik ein.
Ángel Ubide erklärte, dass die neuen ökonomischen und politischen Realitäten auch neue Politiken erforderlich machen würden, wie z. B. in Form einer Zielinflationsrate von nahe, aber über 2 Prozent oder der Bereitstellung öffentlicher Güter durch die EU. Lucrezia Reichlin schlussfolgerte in ihrem Vortrag, dass Geld- und Fiskalpolitik sich wechselseitig beeinflussen würden. Zudem müsse die Fiskalpolitik eine mittelfristige Schuldentragfähigkeit unter Gewährleistung ausreichender Flexibilität anstreben.
In der anschließenden Diskussion forderten die Europäische Kommission und die EZB die Mitgliedstaaten zu einer zügigen Einigung auf ein neues Rahmenwerk bei den Fiskalregeln auf. Vonseiten der Notenbanken wurde zudem klargestellt, dass die Geldpolitik einem klaren Mandat folge. Für die Fiskalpolitik müsse der Schwerpunkt hingegen in erster Linie auf Konsolidierung liegen.
Beim letzten Tagesordnungspunkt des Informellen ECOFIN beschäftigten sich die Ministerinnen und Minister mit der strategischen Autonomie, wirtschaftlichen Sicherheit und Bereitstellung öffentlicher Güter in der EU. Guntram Wolff, Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, und Federico Steinberg, Senior Analyst beim Elcano Royal Institute, führten in die Thematik ein. Dabei forderten sie als Antwort auf das neue Umfeld eine engere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, z. B. in Form
- eines europäischen Sicherheitsausschusses im Bereich Wirtschaft,
- der Bereitstellung öffentlicher Güter in den Bereichen Forschung, Technologie und Klima sowie
- sicherer Vermögenswerte.
In der Aussprache im Plenum wurden von den Mitgliedstaaten insbesondere freier Handel, Multilateralismus, Abbau von ungünstigen Abhängigkeiten insbesondere in sensiblen Bereichen und mehr Integration innerhalb der EU, z. B. durch die Kapitalmarktunion, angesprochen.