Das deutsche Wirtschaftswachstum schwächelt. Was sind die Hauptursachen?
Einerseits können wir angesichts der konjunkturellen Situation eine Reihe von Sonderfaktoren geltend machen. Andererseits muss man sagen, dass es bei den konjunkturellen Effekten eine typische Überlagerung durch Strukturprobleme gibt.
Zu den konjunkturellen Effekten zählt die Bauwirtschaft, die aufgrund der Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank schwächelt. Die Bauinvestitionen liegen am Boden, die Auftragseingänge sind schwach und die Stornierungen von Bauprojekten hoch. Zudem hat Deutschland einen hohen Industrieanteil und daher mit den Energiepreissteigerungen stärker zu kämpfen als andere Industrieländer. Obwohl der Rückgang der Energiepreise im vergangenen Jahr erheblich war, sind die Preise nicht wieder auf das Niveau der Zeit vor dem Krieg gegen die Ukraine zurückgegangen. Schließlich müssen die Außenwirtschaft sowie Exporte und Importe berücksichtigt werden. Deutschland ist stark internationalisiert, hat einen intensiven Außenhandel. Eine wesentliche Konjunkturlokomotive der vergangenen Jahre war China – die chinesische Wirtschaft hat sich im vergangenen Jahr jedoch schlecht entwickelt und verspricht momentan keine große Dynamik. Das trifft deutsche Exporte stark.
Was die Strukturprobleme angeht, sind diese sehr klar auf der Kostenseite der Unternehmen verortet. Das steht in Verbindung mit den konjunkturellen Schwierigkeiten – es ergibt sich sozusagen eine Verstärkung. Der Blick auf die Energiepreise zeigt eindeutig: Die Energiepreise in Deutschland sind höher als in fast allen anderen Industrieländern. Deutschland hat wegen hoher Energiekosten der Unternehmen einen Standortnachteil. Hinzu kommen hohe Arbeitskosten, obwohl die Reallöhne in den vergangenen zwei, drei Jahren gesunken sind – seit 2015 steigen die Lohnstückkosten in Deutschland. Auch die Unternehmensteuerbelastung ist hierzulande besonders hoch. Und die deutsche Wirtschaft ächzt unter den hohen Bürokratie- und Regulierungskosten. Deutschland ist wahrscheinlich eines der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit den höchsten Regulierungskosten überhaupt.
Sie lehnen die Metapher von Deutschland als „krankem Mann Europas“ ab. Warum genau?
Zum ersten Mal wurde diese Schlagzeile Ende der 1990er-Jahre veröffentlicht. Im Vergleich ist heute erstens der Arbeitsmarkt in einer deutlich besseren Verfassung sowie zweitens die Lage auf der Finanzierungsseite wesentlich günstiger – und zwar sowohl hinsichtlich der Staatsverschuldung, und damit der Situation des öffentlichen Sektors, als auch der Eigenkapitalbasis der Unternehmen, die heute eine ganz andere ist als Ende der 1990er-Jahre. Das heißt: Die deutsche Wirtschaft ist heute viel robuster.
Was im Unterschied zu damals allerdings festgestellt werden muss, ist die enorm hohe wirtschaftspolitische Unsicherheit, die in Deutschland herrscht. Diese ist wesentlich ausgeprägter als in der Welt insgesamt. „German Angst“ kennen wir schon aus früheren Jahren. Aber im internationalen Vergleich sticht das Niveau der Unsicherheit mit Blick auf die Wirtschaftspolitik in Deutschland heraus. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass viele Probleme, die in der Bundesregierung gewälzt werden, zu stark in der Öffentlichkeit diskutiert werden.
Wenn Impulse für mehr Dynamik in der deutschen Wirtschaft gesetzt werden könnten – welche Maßnahmen wären dann aus Ihrer Sicht besonders dringend und effektiv?
Oberste Priorität hat eine Entlastung der Unternehmen im Bereich der Abgaben. Meistens werden Steuern in Standortdiskussionen unterschätzt. Typischerweise haben Steuern aber eine erhebliche Auswirkung auf die Investitionstätigkeit – viel mehr, als bestimmte politische Kreise anerkennen. Die Reformen der Regierung Schröder – die Unternehmensteuerreform einerseits und die Einkommensteuerreform andererseits – waren von großer Bedeutung. Und bei einer solchen Unternehmensteuerentlastung müssen die Kapitalgesellschaften wie die Personengesellschaften im Blick behalten werden. Wenn es beispielsweise gelänge, den verbleibenden Solidaritätszuschlag für Unternehmen zu streichen, wäre ein großer Fortschritt erzielt. Zudem können niedrigere Abgaben auf Energie entlasten. Hier bieten vor allem die Netzentgelte weiteres Entlastungspotenzial.
Meine zweite Priorität ist die Senkung der Bürokratie- und Regulierungskosten. Dabei ist mir durchaus bewusst, wie schwierig dies in der Umsetzung ist. Meines Erachtens muss sich hier jedoch dringend etwas verändern. Die Bundesregierung muss den Abbau der Regulierungskosten stärker vorantreiben, als sie es bisher getan hat. Die Bürokratiekosten sind seit Antritt der Ampel-Regierung gestiegen statt gesunken. Das muss korrigiert werden. Ein wichtiger Bereich der Überregulierung ist das Umweltrecht: Hier entsteht immer, wenn Bauten damit verbunden sind, ein wesentliches Hemmnis der Investitionstätigkeit. Weitere Maßnahmen mit Blick auf die Reduzierung von Bürokratie- und Regulierungskosten sind im Bereich des Datenschutzes und bei der Arbeitsmarktregulierung notwendig.
Dritte Priorität hat die Reduktion der Arbeitskosten. Hier würde ich mir vor allem wünschen, dass der Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtert wird. Dies kann mit einer geringen Belastung der öffentlichen Finanzen einhergehen, aber den Arbeitskräftemangel merklich reduzieren. Die Umsetzung müsste sehr genau durchdacht sein. Ein Problem ist sicherlich die unzureichende Abstimmung zwischen Transferprogrammen wie Bürgergeld, Wohngeld, Kosten der Unterkunft und der Kindergrundsicherung, die nun hinzukommen soll. Es müsste eine bessere Abstimmung geben, die dafür sorgen würde, dass die Transferentzugsraten, die im unteren Einkommensbereich für die in den Arbeitsmarkt eintretenden Menschen entstehen, geringer werden.
Im Kontext einer möglichen Wirtschaftswende kommt immer wieder die Frage der Schuldenbremse auf. Welche Rolle spielt diese mit Blick auf den Aufschwung?
Nach einer schweren Krise und im Umfeld der Stagflation sorgt die Schuldenbremse bei einer allmählichen konjunkturellen Erholung dafür, dass die Staatsschuldenquote wieder reduziert werden kann. Das hat viele Vorteile. Einerseits ist dies makroökonomisch betrachtet von Vorteil, denn die Finanzpolitik muss die restriktive Geldpolitik unterstützen und zur Inflationsreduktion beitragen. Wir befinden uns ja weiterhin in einem „stagflationären“ Umfeld. Die Belastung, die mit dem Rückgang der Staatsschuldenquote entstehen könnte, ist zudem relativ schwach: Die Defizitquote reduziert sich nur allmählich, die Staatsausgaben steigen weiter an. Wenn es jetzt gelingt, zur Normalität zurückzukehren, besteht außerdem ein größerer finanzpolitischer Spielraum, falls es wieder zu schwereren Krisen kommen sollte.
Die Schuldenbremse stabilisiert andererseits die Erwartungen hinsichtlich der finanzpolitischen Solidität Deutschlands. Im Unterschied zu anderen Staaten der OECD sowie der G7 ergibt sich dadurch ein Zinsvorteil für Deutschland. Die Zinsen sind zwar gestiegen, aber Deutschland profitiert von günstigeren Refinanzierungsbedingungen als die USA, Italien und Frankreich. Relativ günstigere Refinanzierungskosten schlagen sich positiv für die deutsche Wirtschaft insgesamt nieder.
Die Einhaltung der Schuldenbremse ist auch mit Blick auf die steigenden finanziellen Bedürfnisse ein Vorteil. Deutschland läuft auf eine Phase zu, in welcher der Ausgabendruck steigt, sowohl mit Blick auf die Landesverteidigung als auch auf den demografischen Wandel. Diesen Ausgabendruck mithilfe der Schuldenbremse unter Kontrolle zu halten, ist günstig. Die Schuldenbremse führt dazu, dass genau überlegt werden muss, welche Priorisierung man vornimmt.
Die in der politischen Diskussion behaupteten Nachteile sind hingegen empirisch nicht beobachtbar. Immer wieder wird behauptet, die Schuldenbremse habe sich negativ auf die öffentlichen Investitionen und die Infrastruktur ausgewirkt. Dafür gibt es allerdings keinerlei Evidenz. Die Investitionstätigkeit von Bund und Ländern ist seit der Einführung der Schuldenbremse in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt. Die Rückgänge in der Investitionstätigkeit haben vorher stattgefunden. Ohnehin geht es bei der Investitionstätigkeit um die Gemeinden – und die sind gar nicht von der Schuldenbremse erfasst und können sich in Höhe ihrer Investitionen verschulden. Hier findet sich zuletzt ebenfalls eine Erholung der Investitionstätigkeit. Die Länder haben die Schuldenbremse zudem noch gar nicht richtig gespürt, denn sie waren bis zum Jahr 2020 von einer Übergangsregelung erfasst gewesen und seitdem wird die Ausnahmeregel angewendet.
Die einzige Auswirkung der Schuldenbremse, die wir momentan tatsächlich feststellen, besteht darin, dass der Vorstellung einer umfassenden Subventionierung der deutschen Wirtschaft für den Klimaschutz, für Resilienz und etliche industriepolitische Vorhaben ein Riegel vorgeschoben wird. Und das ist gut so!
Nehmen wir an, es gelänge eine Wirtschaftswende. Wie würde das aussehen? Welche Wirtschaftsindikatoren und konkreten Umstände, auch im Alltag der Bürgerinnen und Bürger, würden sich verändern – und wann wäre mit den ersten Effekten zu rechnen?
Wenn man in Deutschland ein wirkliches Wachstumsprogramm realisieren und die Bedingungen für die Realwirtschaft strukturell verbessern würde, würden die Einkommen der Menschen steigen. Und zwar real – denn die Geldpolitik sorgt mit relativ hohen Zinsen gleichzeitig dafür, dass die Inflationsraten weiter zurückgehen. Wir sehen zudem auf dem Arbeitsmarkt Anzeichen gewisser konjunktureller Probleme. Bisher wirkt sich die schwache Konjunktur dort zwar nur geringfügig aus. Aber man sieht schon, dass die Wiedereinstellung der freigesetzten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer länger dauert, wenn Unternehmen trotz aller Problematik des Arbeitskräfte- und Fachkräftemangels zu Entlassungen greifen. Das heißt, dass wir einen gewissen Anstieg an Langzeitarbeitslosigkeit sehen könnten und man dafür sorgen müsste, dass sich dieser Effekt nicht verfestigt. Auch dahingehend würde sich eine angebotsorientierte Politik, welche die Wirtschaft belebt und für bessere Investitionsbedingungen sorgt, günstig auswirken.
Was den Zeitrahmen angeht: Wenn es in Deutschland beispielsweise zu einer Steuerreform käme, würde sich dies unmittelbar auswirken. Die Menschen hätten durch geringere Steuern höhere Nettoeinkommen. Wenn im Energiebereich Verbesserungen erzielt werden würden, beispielsweise durch Abgabensenkungen oder durch Möglichkeiten, das Angebot zu verbessern, dann würden sich auch für die privaten Haushalte die entsprechenden Kosten reduzieren. So würde sich dies über viele Bereiche fortsetzen, sodass eine Menge Erleichterungen für die Bürgerinnen und Bürger auftreten würden.