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BMF-Monatsbericht Juni 2024

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Im Interview: Dr. Nicolaus Heinen, Leiter der finanzpolitischen und volkswirtschaftlichen Grundsatzabteilung des BMF

20.06.2024
Porträtfoto von Dr. Nicolaus Heinen BildVergroessern
Quelle:  Bundesministerium der Finanzen/photothek

Sie sind seit April neuer Leiter der finanzpolitischen und volkswirtschaftlichen Grundsatzabteilung des BMF – stellen Sie sich kurz vor?
Ich komme aus der Praxis und bringe rund 15 Jahre Erfahrung in Research-, Leitungs- und Strategiefunktionen in Finanzwirtschaft und Industrie mit. Wie das oft der Fall ist, haben mich die ersten Jahre meines Berufslebens sehr geprägt: Ich hatte das große Glück, als Analyst für eine große deutsche Bank die Eurozone zu beobachten. Damals stand mit der Bankenkrise und anschließend der Staatsschuldenkrise wirklich sehr viel auf dem Spiel. Für mich war damals die Erkenntnis zentral, wie wichtig es ist, dass Wirtschaftspolitik nicht nur wissenschaftlich gut durchdacht sein sollte, sondern stets auch den Realitätstest bestehen muss. Konkret bedeutet das: Privathaushalte und Unternehmen müssen sie verstehen und ihr vertrauen – nur dann investieren sie, nur dann finden Wachstum und Fortschritt statt. Diese Erdung ist für mich erfolgskritisch.

Am 7. Juni 2024 fand im BMF die Konferenz „25 Jahre Euro“ statt. Was ist Ihr Fazit?
Die ersten 25 Jahre des Euroraums sind insgesamt gelungen. Allen Unkenrufen zum Trotz ist sie nicht auseinandergebrochen – auch wenn es zeitweise knapp war und nicht alle immer an den Zusammenhalt geglaubt haben. Die gemeinsame Währung hat viel Gutes bewirkt, beispielsweise niedrigere Transaktionskosten durch höhere Planungssicherheit für die Unternehmen, die sich zugleich auch mehr Absatzchancen erschließen konnten. Das heißt aber nicht, dass die Eurozone nicht auch vor größeren Herausforderungen steht. Beispielsweise sind die Kapitalmärkte noch nicht wirklich integriert. Auch wenn die gemeinsame Banken- und Finanzaufsicht mittlerweile eingerichtet wurde, ist sie noch ausbaufähig. Nicht zuletzt haben die niedrigen Zinsen der vergangenen Jahre viele Länder bequem gemacht – in globalen Ranglisten zur Wettbewerbsfähigkeit sind sie zuletzt zurückgefallen. Das gilt auch für Deutschland.

Nach mehreren Jahren erhöhter Preisanstiege sinkt die Inflation nun wieder. Worauf ist der Rückgang Ihrer Meinung nach zurückzuführen – und was muss getan werden, damit es bei diesem Niveau bleibt?
Die Richtung stimmt – und dafür gibt es viele gute Gründe. Zum einen haben die niedrigeren Energiepreise in Deutschland eine gewisse Entlastung bewirkt. Zum anderen hat die Europäische Zentralbank (EZB) mit den höheren Zinsen einen wichtigen Beitrag geleistet. Die Finanzpolitik ist gut beraten, diesen Kurs der EZB zu unterstützen. Konkret bedeutet das: Sie sollte in diesen Zeiten nicht expansiv sein. Im Gegenteil: Der Staat, der sich nach der akuten Phase der Corona-Pandemie finanziell richtigerweise wieder aus dem Privatsektor zurückgezogen hat, sollte diesen Kurs beibehalten und eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik gestalten – auch dies dürfte den Preisdruck einhegen.

Der Euroraum hat nun 25 Jahre gemeistert. Was wünschen Sie ihm für die kommenden Jahre?
Resilienz. Die strukturellen Probleme der vergangenen 25 Jahre waren zwar anspruchsvoll, aber vergleichsweise einfach zu lösen – vor allem, weil sie hausgemacht waren. Die Herausforderungen der nächsten 25 Jahre aber werden sich vor allem aus Entwicklungen ableiten, auf welche die Regierungen der Eurozonenländer keinen großen Einfluss haben – sei es nun der zunehmende Trend zum Protektionismus einiger globaler Player, geopolitische Spannungen, der Klimawandel oder die Frage der Finanzstabilität in alternden Volkswirtschaften weltweit. Daneben muss Europa sich auf Disruption durch Künstliche Intelligenz (KI) einstellen, die alle Prozesse der Wertschöpfung fundamental verändern wird. Ob wir es wollen oder nicht: Bei all diesen Entwicklungen können die Regierungen der Eurozonenländer selbst wenig aktiv steuern – und sie erst recht nicht verhindern. Sie können aber die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Volkswirtschaften so verändern, dass diese sich bestmöglich an die globalen Veränderungen anpassen und sich so immer wieder neu erfinden können.

Wo sehen Sie die größten Baustellen?
Wer sich neu erfinden will, muss investieren. Das gilt für Staaten, aber vielmehr für Unternehmen. In Deutschland stemmen sie mit 90 Prozent den Löwenanteil aller Investitionen. Ein Blick auf das aktuelle Umfeld zeigt, dass viele Unternehmen nach wie vor hohe Erweiterungsinvestitionen tätigen. Die Investitionen fließen aber vor allem in Standorte außerhalb Europas – dort erwarten sie langfristig höhere Renditen. Investiert wird immer nur dann, wenn Investitionen sich auszahlen.

Die gute Nachricht ist, dass wir das ändern können. Aus europäischer Perspektive ist die Verfügbarkeit von Kapital entscheidend. In Europa sind die Kapitalmärkte noch immer stark fragmentiert. Kleinere Unternehmen des Mittelstands können zwar in Deutschland auf ein funktionierendes Finanzsystem und in der Regel auf ihre Hausbank bauen. Doch an der Grenze macht das Kapital oft halt – etwa, weil das Insolvenzrecht noch nicht vereinheitlicht ist oder für Verbriefungen unterschiedliche Regelungen gelten. Für kleinere Länder ist das ein noch größeres Problem. Daher brauchen wir eine stärkere Finanzintegration – wie sie im Projekt der europäischen Kapitalmarktunion angegangen wird.

Dann eine weitere Baustelle, die in den vergangenen Jahren aus der Mode gekommen zu sein scheint, aber nicht minder wichtig ist: Freihandelsabkommen. Die europäische Wirtschaft muss über bessere internationale Wirtschafts- und Handelsbeziehungen noch stärker am Wachstum ferner Märkte teilhaben können – der Binnenmarkt ist nicht genug. Mit größeren Absatzmärkten machen sich auch Maßnahmen für mehr Wettbewerbsfähigkeit schneller bezahlt.

Und schließlich müssen Investoren sich auf die solide Finanzpolitik eines Standorts verlassen können. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie sorgsam Unternehmen ihre langfristigen Investitionsvorhaben prüfen. Nur, wenn sie sich sicher sein können, dass ihre Gewinne in der Zukunft nicht durch Steuererhöhungen aufgefressen werden, geben sie ihre Zurückhaltung bei der Schaffung neuer Stellen oder bei Investitionen auf.

Stichwort Kapital: Weltweit werden Billionenbeträge in neue Technologien investiert. Wo stehen Deutschland und Europa?
In der Tat: Gerade in Deutschland und Europa haben wir viel zu wenig Wagniskapital. Amerika ist da klar im Vorteil: In den USA legen vor allem große Pensionsfonds das Kapital mehrerer Generationen an und können entsprechend flexibel in Technologie-Start-ups und Forschungsprojekte investieren. Im weltweiten Wettrennen um die Innovationsführerschaft in KI oder Hochleistungsrechnern ist das natürlich ein großer Standortvorteil – und gerade hier geht es um die Wurst: Gerade digitale Infrastrukturen tendieren aufgrund ihrer Kostenstrukturen zu natürlichen Monopolstrukturen. Innovationsführer können Märkte entwickeln, erobern und halten. Wer da nicht von Anfang an mit am Start ist, hat später das Nachsehen.

Natürlich können wir unseren Rückstand nicht über Nacht aufholen. Wir werden nur mithalten können, wenn wir den Zugang zu Wagniskapital deutlich verbessern und beispielsweise die Mittel der Altersvorsorge viel stärker privat investieren.

Ein Blick ins Inland: Was sind aus Ihrer Sicht die Prioritäten, um die deutsche Wirtschaft resilienter zu machen?
Planungssicherheit und Entlastungen. Unser Land befindet sich in einer der wirtschaftlich herausforderndsten Phasen seiner jüngeren Geschichte. Oberste Priorität muss es sein, den Privathaushalten und Unternehmen wieder größere Planungssicherheit zu geben, gerade vor dem Hintergrund eines global hoch unsicheren Umfelds.

Wir schaffen das vor allem dann, wenn wir das Arbeitsangebot erhöhen – da helfen schon einfache Handgriffe wie Fachkräfteabkommen mit anderen Ländern, die Aktivierung der Zuwanderung für unseren Arbeitsmarkt, steuerliche Anreize für Mehrarbeit und eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit für alle, die dies wollen. Aber auch über den Abbau von Bürokratie kann man viel erreichen – da reichen schon einfachere Planungs- und Genehmigungsverfahren oder die Abschaffung überflüssiger Berichtspflichten: All das hilft, damit Unternehmen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder in der Wertschöpfung einsetzen können – und nicht beim Ausfüllen von Formularen. Energieintensive Branchen brauchen auch Verlässlichkeit dafür, welche Wege sie bei der Dekarbonisierung ihrer Wertschöpfungsketten einschlagen können.

Wenn das gelingt, dann steigen das Wachstumspotenzial und zugleich die Resilienz unserer Volkswirtschaft von ganz allein – nicht, weil eine groß angelegte staatliche Strategie es so vorschreibt, sondern weil viele kleine Unternehmen unter guten Rahmenbedingungen ihre eigenen Antworten auf die Herausforderungen finden. Aktuell arbeitet die Bundesregierung an einem Maßnahmenpaket, um genau diese Rahmenbedingungen zu verbessern.