Warum hat das BMF beschlossen, zwei Expertenkommissionen einzusetzen?
Die vergangenen Jahre waren von tiefgreifenden Krisen geprägt. Mit der Corona-Pandemie und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine hat sich auch unser Leben in Deutschland in vielen Bereichen verändert. Die Auswirkungen durch die hohe Inflation spüren wir tagtäglich. Die Folgen belasten den Wirtschaftsstandort Deutschland und die öffentlichen Haushalte gleichermaßen. Vor diesem Hintergrund wollen wir Deutschland mit einer angebotsorientierten und ordnungspolitisch stimmigen Steuerpolitik als Investitionsstandort attraktiv halten und zukunftsfest gestalten, um Wachstum und Wohlstand unseres Landes zu sichern. Gerade in diesen Zeiten werden an die Steuerpolitik große Anforderungen gestellt. Das Steuerrecht zu vereinfachen und bürgernah zu gestalten, ist dafür ein wesentliches Ziel.
Daher haben wir konzeptionell angelehnt an die Fokusgruppe private Altersvorsorge mit ihren verschiedenen thematischen Schwerpunkten die beiden Expertenkommissionen „Vereinfachte Unternehmensteuer“ und „Bürgernahe Einkommensteuer“ im Herbst 2023 einberufen.
Welche Vorschläge waren aus Ihrer Sicht besonders relevant und/oder interessant?
Beide Expertenkommissionen haben zahlreiche interessante Vorschläge vorgebracht, die eine eingehende Analyse verdient haben.
Im Unternehmensteuerrecht ist mir besonders die erhebliche Bandbreite an Vorschlägen aufgefallen, die von großen Reformansätzen wie der Senkung der Unternehmensteuerbelastung auf 25 Prozent, der Einführung einer „umgekehrten Option“ zur transparenten Besteuerung von Kapitalgesellschaften oder der weiteren Annäherung der Besteuerung von Personengesellschaften und Körperschaften über Verbesserungen bei der Verlustverrechnung und Umstrukturierungen bis hin zu einer ganzen Reihe an Detailregelungen mit hohem Vereinfachungspotenzial reicht.
Ohne das Ergebnis der Prüfung vorwegnehmen zu wollen, möchte ich einen Punkt herausgreifen, der mir persönlich besonders wichtig ist. Ich teile das Votum der Expertenkommission, die sogenannten Anti-Missbrauchsvorschriften im internationalen Steuerrecht zu überprüfen. Dies gilt insbesondere für Bereiche, in denen es zu Überschneidungen mit der jüngst eingeführten globalen effektiven Mindestbesteuerung kommt. Vor diesem Hintergrund und im Interesse des deutschen Wirtschaftsstandorts ist es essenziell, hier unnötige bürokratische Hürden abzubauen („decluttering“) und doppelte Zugriffe des deutschen Fiskus zu verhindern. Ein erster wichtiger Schritt wurde mit der Absenkung der Niedrigsteuergrenze bei der Hinzurechnungsbesteuerung und bei der Lizenzschranke von 25 Prozent auf 15 Prozent bereits erreicht.
Auch im Bereich der Einkommensteuer wurden von der Expertenkommission viele Vorschläge entwickelt, die das Steuerrecht für Bürger und Verwaltung vereinfachen sollen. Ich denke z. B. an die Vorschläge zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Einnahmenüberschussrechnung sowie zur Vereinfachung der Besteuerung von Alterseinkünften. Zudem könnte auch die vorgeschlagene Einführung einer Arbeitstagepauschale Vereinfachungspotenzial bieten.
Sehen Sie Synergien oder Überschneidungen zwischen den Vorschlägen der Kommissionen und den aktuellen Initiativen der Bundesregierung, z. B. der Wachstumsinitiative?
Die Bundesregierung hat sich auf ein umfassendes Maßnahmenpaket verständigt, das der deutschen Wirtschaft umgehend Impulse für mehr wirtschaftliche Dynamik geben wird. Vor allem aber wird die Bundesregierung mit den beschlossenen Maßnahmen das langfristige Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft substanziell erhöhen und so den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken. Maßnahmen wird es in folgenden Bereichen geben:
- Wettbewerbsfähigkeit stärken: Investitionen anreizen, Rahmenbedingungen verbessern,
- Unternehmerische Dynamik stärken: Unnötige Bürokratie abbauen,
- Dynamisierung durch bessere Arbeitsanreize und mehr Fachkräfte,
- Ein leistungsfähiger Finanzstandort für eine starke Wirtschaft,
- Leistungsfähiger Energiemarkt für die Wirtschaft von morgen.
Mit dem Steuerfortentwicklungsgesetz werden zentrale Maßnahmen der Wachstumsinitiative zeitnah umgesetzt.
Wie geht es jetzt mit den Vorschlägen der Expertinnen und Experten weiter?
Die Steuerabteilung analysiert derzeit eingehend die sachliche und zeitliche Realisierbarkeit der Vorschläge. Aus der Gewichtung der Vor- und Nachteile sollen Möglichkeiten zur Umsetzung entwickelt werden. Aus den realisierbaren Maßnahmen gilt es dann, ein Paket zu schnüren und dabei auch in den Dialog mit den Ländern zu treten.
Im Rahmen der Analyse der Vorschläge wird auch zu bewerten sein, welche Maßnahmen zügig – und damit noch in dieser Legislaturperiode – umsetzbar sind. Daneben gibt es die als Daueraufgabe zu qualifizierenden Maßnahmen, wie beispielsweise solche im Bereich der Digitalisierung.
Die Analyse der Vorschläge erfolgt mit einem klaren Fokus auf Vereinfachungspotenziale, Wettbewerbsfähigkeit und Systemgerechtigkeit des Einkommen- und Unternehmensteuerrechts. Sie erfolgt mit der Zielsetzung, Ressourcen noch effektiver einzusetzen.
Am 17./18. Juli hat das BMF die Jahreskonferenz 2024 des Netzwerks empirische Steuerforschung (NeSt) ausgerichtet. Damit verfolgt das BMF einen weiteren Ansatz, um Expertenwissen für eine evidenzbasierte Politikberatung zu nutzen. Welche Aspekte der Konferenz sind aus Ihrer Sicht hervorzuheben?
Das Ziel der Jahreskonferenz des NeSt, also des Netzwerks empirische Steuerforschung, war ein offener Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zahlreicher Universitäten und Forschungsinstitute sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verschiedener Behörden wie des Statistischen Bundesamts, des Bundeszentralamts für Steuern (BZSt), der Generalzolldirektion (GZD) und des BMF zu unterschiedlichen Aspekten der Dateninfrastruktur für die empirische Steuerforschung in Deutschland. Dabei ging es um Fragen, wie wir diese verbessern können, was bereits getan wurde und was noch notwendig ist, um zur Stärkung der evidenzbasierten Politikberatung beizutragen. Denn nur, wenn der Gesetzgeber ex ante die komplexen Wirkungen steuerpolitischer Maßnahmen kennt, kann er diese auch zielgenau ausgestalten. Davon profitieren dann Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft gleichermaßen.
Die Notwendigkeit von belastbaren Datengrundlagen für eine exzellente evidenzbasierte Forschung zeigt sich gerade auch bei den vorgelegten Berichten der beiden Expertenkommissionen, die ihre Vorschläge allerdings – teils aus Zeitgründen, teils aber auch mangels verfügbarer Daten – nicht alle durch quantitative Analysen fundieren konnten.
Das NeSt setzt sich dafür ein, die dazu notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, insbesondere, indem es die bestehenden Wissens- und Datensilos aufzubrechen versucht. Dafür haben wir bereits eine Vielzahl an Maßnahmen angestoßen, wie etwa die geplanten rechtlichen Änderungen am Steuerstatistikgesetz für neue Daten und Zusammenführungen von Angaben sowie die Erweiterung von Datengrundlagen durch die Bereitstellung der neuen Datenprodukte „Business-Tax-Panel“ und „Taxpayer Panel 2.0“ über das Forschungsdatenzentrum des Statistischen Bundesamts.
Außerdem schafft das NeSt einen Raum, der verschiedenste Disziplinen und Beteiligte auf dem Gebiet der empirischen Steuerforschung zusammenbringt. Wir hatten auch bei der diesjährigen NeSt-Jahreskonferenz die Gelegenheit, durch den vertieften Erfahrungsaustausch und die anregenden Diskussionen zahlreiche Ideen und Vorschläge für weitere Projekte und Aktivitäten im NeSt zu entwickeln. Mir hat die Veranstaltung sehr gut gefallen und das Feedback der Teilnehmenden hat den positiven Eindruck bestätigt.
Wofür setzt sich das NeSt neben der Verbesserung der steuerlichen Dateninfrastruktur ein?
Es existiert bereits eine große Gemeinschaft, der die Ziele des NeSt ein Anliegen sind. Die nun mehr als 200 NeSt-Mitglieder bringen viel Wissen, verschiedene Kompetenzen und zahlreiche Ideen ein, die es zu vernetzen gilt.
So können bei der NeSt-Geschäftsstelle im BMF u. a. Projektanträge eingereicht werden, deren Umsetzung sich etwa aufgrund mangelnder Datenverfügbarkeit als schwierig erweist. Das NeSt versucht, zwischen den verschiedenen Akteuren zu vermitteln, um die vorhandenen Daten für die Wissenschaft besser zugänglich und nutzbar zu machen.
Auch sind im Weiteren Vorträge und Workshops zu Einzelthemen im Bereich der empirischen Steuerforschung und mit unterschiedlichen Stakeholdern angedacht, um die Rahmenbedingungen für Evidenzbasierung in der Steuerpolitik weiter zu stärken.
Die Verbesserung der Dateninfrastruktur und der Wissensbasis eröffnet dem Gesetzgeber die Möglichkeit, die Wirkung von Steuergesetzen vorab besser abzuschätzen. In der Konsequenz leistet das NeSt somit einen Beitrag für ein modernes, effizientes und leistungsgerechtes Steuersystem, welches den Bürokratieaufwand für Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen auf ein Minimum reduziert sowie Leistungs- und Innovationsanreize setzt.