Prof. Justus Haucap ist Direktor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 2006 bis 2014 war er Mitglied der Monopolkommission der Bundesregierung, davon vier Jahre als Vorsitzender (von 2008 bis 2012).
Prof. Justus Haucap ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) sowie der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.
Der Gastbeitrag von Prof. Justus Haucap für diesen BMF-Monatsbericht ist als Blick von außen und als Beitrag zum allgemeinen Diskurs zu verstehen; er gibt nicht notwendigerweise die Meinung des BMF wieder.
Im zweiten Jahr in Folge wird die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr schrumpfen. Waren Bundesregierung und Wirtschaftsforschungsinstitute im Sommer noch verhalten optimistisch, ist inzwischen Ernüchterung eingekehrt. Erwartet wird ein leichtes Schrumpfen. Erst im nächsten Jahr ist vielleicht wieder mit einem geringen Wachstum zu rechnen, sofern der private Konsum anspringen sollte. Unsere europäischen Nachbarn können zwar etwas bessere Wirtschaftsdaten vorweisen, doch auch für den gesamten Euroraum prognostiziert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für das laufende Jahr lediglich ein schwaches Wachstum von 0,7 Prozent. Immer mehr zeigt sich, dass das mangelnde Wachstum nicht nur ein konjunkturelles Phänomen ist, sondern auf strukturellen Problemen beruht.
Anfang September hat der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi eine schonungslose Diagnose der strukturellen Wachstumsschwäche in der Europäischen Union (EU) vorgelegt. In den Vordergrund stellt der sogenannte Draghi-Bericht die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der EU als Wirtschaftsstandort. Europa ist gegenüber den USA und China in den vergangenen 20 Jahren wirtschaftlich zurückgefallen, Besserung ist nicht in Sicht. Die wesentliche Ursache für die schwache wirtschaftliche Entwicklung ist laut Mario Draghi die mangelnde Produktivitätsentwicklung in der EU.
Einer der wichtigsten Faktoren zur Steigerung der Produktivität sind Innovationen. Hier mangelt es in der EU in besonderem Maße. Sowohl in China als auch in den USA werden heute mehr Patente angemeldet als in der gesamten EU. Innovative Unternehmen fehlen in Europa weitgehend. Von den 50 weltweit führenden Technologieunternehmen haben heute lediglich vier ihren Sitz in der EU. Von den erfolgreichsten Start-ups, die seit 2008 in der EU entstanden sind, haben 30 Prozent Europa inzwischen verlassen. In der Liste der sogenannten Einhörner – Unternehmen, deren Marktwert bereits eine Milliarde US-Dollar erreicht hat, obwohl sie noch nicht älter als zehn Jahre sind – ist mehr als die Hälfte in den USA beheimatet und nur zwei Prozent sind in Deutschland ansässig, obwohl auch bei uns zahlreiche talentierte junge Menschen leben.
Der vor Kurzem erschienene Innovationsindikator des Bundesverbands der Deutschen Industrie e. V. (BDI) bescheinigt vielen EU-Staaten im Übrigen prinzipiell eine sehr hohe Innovationsfähigkeit. In der Liste der zehn Volkswirtschaften mit der höchsten Innovationsfähigkeit befinden sich sieben EU-Mitgliedsstaaten. Selbst Deutschland steht im BDI-Innovationsindikator 2024 auf Platz 12 deutlich vor den USA (Platz 18) und China (Platz 25). Wie also kommt es, dass die EU-Staaten, bildlich gesprochen, ihre PS nicht auf die Straße bringen? Der Draghi-Report gibt auch hier eine Antwort: Die EU mache bei der Vertiefung des Binnenmarkts kaum noch Fortschritte. Dasselbe gelte für Freihandelsabkommen. Auch hier seien kaum Fortschritte erkennbar, obwohl Handelspolitik eigentlich eine wichtige Rolle der EU ist. So fehlt europäischen Unternehmen oftmals die Möglichkeit, ihr Geschäftsmodell zu skalieren – es entstehen Wettbewerbsnachteile zu den USA und China. Auch bei den europäischen Energie- und Bahnnetzen und bei der Kapitalmarktunion gibt es zu wenig Fortschritt, sodass die europäischen Märkte relativ klein und zersplittert bleiben.
Der mangelnde Fortschritt bei der Vertiefung des Binnenmarkts ist aber keineswegs das einzige Hemmnis für mehr wirtschaftliches Wachstum. Auch ausufernde Bürokratie und Regulierung machen Unternehmen in der EU das Leben schwer. In Deutschland wird dabei oft noch ein „Gold Plating“ vorgenommen und EU-Vorgaben werden noch weiter verschärft. Der Draghi-Report weist etwa darauf hin, dass seit 2019 in den USA etwa 5.500 neue Rechtsakte auf Bundesebene verabschiedet wurden, in der EU hingegen etwa 13.000. Europäischen Unternehmen werden immer weitere Berichts- und Dokumentationspflichten auferlegt, ohne dass klar ist, ob diese Berichte überhaupt effektiv zur Erreichung der meist hehren Ziele beitragen – von Effizienz ganz zu schweigen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Behörden und Unternehmen sind mit einem relativ sinnlosen Verfassen, Lesen und Überprüfen von Berichten beschäftigt, die die Welt nicht braucht. Zugleich fehlen diese Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt und verstärken so den Arbeitskräftemangel.
Auch bei den Energiekosten hat Europa Wettbewerbsnachteile gegenüber China und den USA und Deutschland noch einmal Nachteile innerhalb Europas. Inzwischen haben sich die Energiekosten zwar wieder in etwa auf dem Niveau eingependelt, das in Deutschland vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gegolten hatte. Doch auch vor dem Krieg hatte Deutschland bereits hohe Energiepreise. Selbst wenn die Strompreise mit dem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien weiter sinken sollten, bleibt ein Wettbewerbsnachteil gegenüber vielen Standorten selbst in der EU. Ökonomisch ist etwa langfristig nicht unbedingt zu erwarten, dass grüner Wasserstoff günstig im Süden oder Norden Europas erzeugt wird, um ihn dann nach Deutschland zu exportieren. Mindestens genauso plausibel ist, dass sich energieintensive Industrien – selbst bei erfolgreicher Transformation – dorthin verlagern, wo Wasserstoff günstig erzeugt werden kann, und das wird leider aufgrund eines Mangels an Wind und Sonne nicht Deutschland sein. Durch die grüne Transformation verändern sich die Relativpreise und damit auch die komparativen Vorteile. Die Vorstellung, man könne die bestehende Wirtschaftsstruktur einfach auf grün umstellen und dann gehe alles weiter wie bisher, wird sich als Irrtum herausstellen. Ein gravierender Strukturwandel ist dann letztlich unvermeidlich. Sofern in Deutschland die Deindustrialisierung nicht forciert werden soll, wäre eine erhebliche Ausweitung des Stromangebotes und – schon wieder – eine stärkere europäische Integration der Energiemärkte notwendig.
Auch bei Unternehmenssteuern hat Deutschland Wettbewerbsnachteile. Waren die Steuern auf Unternehmensgewinne von Kapitalgesellschaften im Jahr 2008 noch die zweitniedrigsten unter den G7-Staaten, haben wir inzwischen die höchsten Sätze unter Berücksichtigung kommunaler Steuern. Auch dies macht Investitionen in Deutschland im Vergleich der G7-Staaten nicht attraktiver.
Der Nachholbedarf bei der öffentlichen Infrastruktur ist ebenso bekannt wie Defizite in der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung. Hinzu kommt ein Arbeitskräftemangel, der sich aktuell neben dem mangelnden Produktivitätsfortschritt als wesentlicher Begrenzungsfaktor für wirtschaftliches Wachstum erweist. Wie lässt sich das Arbeitsangebot ausweiten? Hier sind eine ganze Reihe von Maßnahmen erforderlich. Maßnahmen zur Stärkung des Arbeitsangebots älterer Menschen hat die Bundesregierung bereits ergriffen. Gewisse Reserven dürften noch im Arbeitsangebot von Menschen mit Migrationshintergrund sowie dem Arbeitsangebot von Frauen liegen, denen keineswegs immer nur Anreize fehlen, mehr zu arbeiten, sondern auch diverse Hürden ganz unterschiedlicher Art dies verhindern. Zudem liegt in der Reallokation von Arbeitskräften ein Potenzial. Automatisierung und Digitalisierung können ebenso Arbeitskräfte freisetzen wie der Bürokratieabbau – salopp ausgedrückt, wenn also weniger Menschen damit beschäftigt sind, Berichte zu schreiben. Letztlich machen auch die relativ hohen marginalen Einkommensteuersätze eine Ausweitung des Arbeitsangebots vergleichsweise unattraktiv. Ökonomisch ist es durchaus nachvollziehbar, dass Gewerkschaften angesichts der relativ hohen Einkommensbesteuerung eher für Arbeitszeitverkürzung als für Lohnerhöhungen streiken.
Summa summarum ist eine echte Renaissance der Angebotspolitik erforderlich, wie der Kronberger Kreis, der wissenschaftliche Beirat der Stiftung Marktwirtschaft, sie schon lange anmahnt. Eine solche Politik zur Verbesserung der Standortbedingungen sollte folgende Punkte umfassen:
- eine Verbesserung steuerlicher und regulatorischer Bedingungen für unternehmerische Investitionen und Innovationen, wozu auch der systematische Abbau von überflüssiger Bürokratie und Regulierung zählt,
- eine umfassende Stärkung des Arbeitsangebots,
- eine Steigerung des Energieangebots und eine Anpassung an auch langfristig höhere Energiepreise,
- eine international abgestimmte Klimapolitik, die Klimaschutz und wachsenden Wohlstand miteinander verbindet,
- eine ambitioniertere Digitalisierungspolitik,
- eine Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur,
- weitere Handelsabkommen mit Drittstaaten.