Martin Werding ist seit 2022 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und seit 2008 Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität in Bochum. Zuvor leitete er seit dem Jahr 2000 den Forschungsbereich „Sozialpolitik und Arbeitsmärkte“ am ifo Institut in München.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört neben der Finanzierung des Sozialstaats die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. So hat er die Modellrechnungen für den Sechsten Tragfähigkeitsbericht des BMF erstellt, der im März 2024 veröffentlicht worden ist.
Der Gastbeitrag von Martin Werding für diesen BMF-Monatsbericht ist als Beitrag zum allgemeinen Diskurs zu verstehen; er gibt nicht notwendigerweise die Meinung des BMF wieder.

Einleitung
In Deutschland wird seit vielen Jahren zu wenig investiert, sowohl öffentlich als auch privat. Daher mehren sich in der Politik und auch unter Ökonominnen und Ökonomen derzeit Stimmen, die sich für erweiterte Spielräume zur Kreditfinanzierung öffentlicher Investitionen aussprechen. Solche Lösungsvorschläge nehmen das Problem anhaltend unzureichender öffentlicher Investitionen aber nicht ernst genug.
Polit-ökonomischer Blick
Menschen haben eine starke Gegenwartspräferenz. Sofortige Genüsse aufzuschieben, um später noch größere zu erreichen – wahrscheinlich sollte man hervorheben, dass sie dazu überhaupt in der Lage sind, aber es fällt ihnen schwer. Politikerinnen oder Politiker, die Mehrheiten benötigen, um ihre Ziele zu erreichen, müssen diese Gegenwartspräferenz ihrer Wählerinnen und Wähler in Betracht ziehen. Durch die Dauer der Wahlperioden ist ihr eigener Zeithorizont effektiv sogar noch stärker beschränkt.
Defizitneigung und fehlende Investitionen: zwei Seiten einer Medaille
Aus der ausgeprägten Gegenwartspräferenz der Politik ergeben sich aus ökonomischer Sicht zwei Probleme, die eng verwandt, aber nicht identisch sind. Zum einen neigen politisch Verantwortliche dazu, in den öffentlichen Haushalten Defizite entstehen zu lassen, um Finanzierungslasten für laufende Ausgaben in die Zukunft zu verschieben. Zum anderen wenden sie öffentliche Mittel bevorzugt für Ausgaben auf, die der aktuellen Wählerschaft zugutekommen, und vernachlässigen daher Investitionsausgaben, deren Erträge erst nach längerer Zeit anfallen.
Die Vernachlässigung öffentlicher Investitionen ist – etwa beim Zustand der öffentlichen Infrastruktur – in Deutschland mit Händen zu greifen. Dasselbe Grundmuster zeigt sich bei öffentlichen Bildungsausgaben, die statistisch nicht als Investitionen gezählt werden. Schwache Leistungen der Schülerinnen und Schüler in internationalen Vergleichstests zeigen, dass diese Ausgaben zu niedrig sind, vor allem im Bereich der frühkindlichen Bildung und während der Schulpflichtphase.
Schuldenbegrenzung ist nötig, reicht aber noch nicht aus
Mithilfe von Fiskalregeln wie der deutschen Schuldenbremse lässt sich die Defizitneigung der Politik erfolgreich eindämmen. Der Vernachlässigung zukunftsorientierter öffentlicher Ausgaben ist auf diese Weise dagegen nicht beizukommen. Um zu bewirken, dass solche Ausgaben erhöht und verstetigt werden, braucht es andere, und zwar zusätzliche Regeln. Umgekehrt gewährleistet eine Lockerung der Verschuldungsregeln nämlich noch lange nicht, dass der Staat anschließend mehr zukunftsorientierte Ausgaben tätigt.
Gängige Vorschläge, staatliche Kreditaufnahme so zu beschränken, dass sie nur für höhere Zukunftsausgaben genutzt werden kann, weisen ihrerseits Schwächen auf. So können verfassungsmäßig abgesicherte „Sondervermögen“ mit Kreditermächtigungen zur Finanzierung öffentlicher Investitionen dazu führen, dass zuvor immerhin schon getätigte Zukunftsausgaben aus dem Kernhaushalt ausgelagert und ebenfalls kreditfinanziert werden. Effektiv werden also die Spielräume für gegenwartsbezogene konsumtive Ausgaben erweitert.
Die Verschuldungsmöglichkeiten auf öffentliche Nettoinvestitionen zu beschränken, welche die Abschreibungen auf ältere Investitionsgüter übersteigen, könnte dieses Problem vermeiden. Ein solcher Ansatz ist aber voraussetzungsvoll, weil er eine umfassende Bilanzierung des gesamten öffentlichen Kapitalstocks erfordert. Zudem müssten zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben in vielen Bereichen erst ganz massiv gesteigert werden, um in den Bereich positiver Nettoinvestitionen zu gelangen, ab dem erweiterte Finanzierungsmöglichkeiten greifen.
Vorschläge des Sachverständigenrats
Im Jahresgutachten 2024/25, das der Sachverständigenrat im November vorgestellt hat, diskutiert er das Doppelproblem, das sich aus der überzogenen Gegenwartspräferenz der Politik ergibt. Der Rat konzentriert sich dabei auf fehlende Ausgaben für die Infrastruktur sowie für Bildung und Verteidigung und schlägt vor, institutionelle Vorkehrungen zu treffen, um der Vernachlässigung von öffentlichen Ausgaben in diesen Bereichen entgegenzuwirken. Grundidee ist, dass sich der Staat – ohne Erweiterung seiner Verschuldungsmöglichkeiten – dauerhaft zu gewissen Mindestausgaben mit Zukunftsorientierung verpflichtet. Die genauen Regeln müssen allerdings für jeden Bereich einzeln konkretisiert werden, um Umgehungen und Scheinerfüllungen einzugrenzen.
Verkehrsinfrastrukturfonds mit eigenen Einnahmen
Um zu verhindern, dass die Finanzierung des Straßen- und Schienennetzes immer wieder Teil der Manövriermasse bei der Aufstellung des Bundeshaushalts wird, bringt der Rat einen – idealerweise intermodal ausgelegten – Verkehrsinfrastrukturfonds ins Spiel. Entscheidend ist, dass dieser Fonds mit eigenen Einnahmen ausgestattet wird, die aus dem Kernhaushalt übertragen werden. Das gewährleistet zum einen, dass der Fonds regelmäßig über Mittel zur Erfüllung seiner Aufgaben verfügt und langfristig planen kann. Zum anderen verhindert es, dass im Kernhaushalt zusätzliche Spielräume für sonstige, eher gegenwartsbezogene Ausgaben entstehen.
Eigene Einnahmen des Infrastrukturfonds können aus der Lkw-Maut, dem Aufkommen der Kfz-Steuer und/oder der Energiesteuer auf fossile Kraftstoffe stammen. Da Letztere im Zuge der Transformation sinken werden, könnte perspektivisch eine Autobahnmaut für Pkw eingeführt werden, die möglichst entfernungsabhängig erhoben werden sollte. Prinzipiell könnte sich der Fonds auch verschulden, etwa um den enormen Nachholbedarf bei der Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur zu bewältigen. Die Spielräume dafür sollten jedoch den deutschen und europäischen Verschuldungsgrenzen unterliegen.
Mindestausgaben für Verteidigung und Bildung
Die im Bundeshaushalt eingeplanten Verteidigungsausgaben werden bis zum Jahr 2027 durch Ausgaben eines im Jahr 2022 errichteten Sondervermögens aufgestockt. Nach Ansicht des Sachverständigenrats sollten Verteidigungsausgaben ab 2028 wieder vollständig im Kernhaushalt angesiedelt sein, abgesichert durch eine Mindestausgabenquote, die sich etwa am Bruttoinlandsprodukt (BIP) orientieren kann. Zur quantitativen Festlegung bietet sich das Zwei-Prozent-Ziel der NATO an, das nach den dazu getroffenen Vereinbarungen ab dem Jahr 2024 einzuhalten ist.
Auch für die im Wesentlichen aus den (Kern-)Haushalten der Länder zu finanzierenden Bildungsausgaben fasst der Rat Mindestquoten ins Auge. Diese sollten sich nicht allein am BIP orientieren, sondern – zur Berücksichtigung unterschiedlicher demografischer Gegebenheiten – ausgehend von angemessenen Mindestausgaben je Schülerin beziehungsweise Schüler festgelegt werden. Standards für die Festlegung und Verankerung solcher Quoten müssten zwischen den Ländern abgestimmt werden.
Fazit
Mehr zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben erfordern nach Einschätzung des Sachverständigenrats verbindliche Regeln. Solche Regeln ohne größere Verschuldungsspielräume dauerhaft einzuhalten, wird die Politik zu strukturellen Reformen zwingen – das ist durchaus beabsichtigt. Zwar sind Szenarien denkbar, etwa rasche Verschlechterungen der geopolitischen Lage, in denen es ohne zusätzliche Schulden nicht geht. Auch dann ist jedoch strikt darauf zu achten, dass dies nicht zur Ausweitung sonstiger Ausgaben genutzt wird. Verfehlt wäre es schließlich, von der Politik strukturelle Reformen zu fordern und dann zu hoffen, dass an anderer Stelle eingesparte Mittel ohne besondere Vorkehrungen für höhere Zukunftsausgaben eingesetzt werden. Wer das für ausreichend hält, dem fehlt der polit-ökonomische Blick.