
Im Dezember 2024 wurde eine neue EU-Kommission bestätigt. Wie viel Kontinuität, wie viel Veränderung erwarten Sie in den kommenden fünf Jahren?
Wir befinden uns in einer Zeit großer Umbrüche. Unser geopolitisches Umfeld verändert sich rapide. Darauf müssen wir als Europäische Union (EU) teilweise sehr kurzfristig reagieren. Gleichzeitig müssen wir langfristige strukturelle Herausforderungen angehen. Beides miteinander zu verbinden, wird eine der zentralen Herausforderungen für die neue EU-Kommission und für uns als Mitgliedstaaten. Kurzfristig geht es u. a. um die Unterstützung der Ukraine, aber z. B. auch um die Zusammenarbeit mit der neuen US-Regierung und in den multilateralen Gremien.
Mit Blick auf die übergreifenden Ziele hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Stärkung von Europas Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit ins Zentrum gerückt. Das halte ich für richtig. Sie hat auch ehrgeizige Pläne für den nächsten langfristigen Haushaltsplan der EU, den sogenannten mehrjährigen Finanzrahmen, der ab 2028 gelten wird. Dieser soll moderner und stärker auf die neuen Bedürfnisse ausgerichtet werden. Die Verhandlungen dazu werden die Amtszeit dieser Kommission stark prägen.
Immer wieder rückt die Wettbewerbsfähigkeit der EU in den Fokus, nicht zuletzt mit dem sogenannten Draghi-Bericht, der im September 2024 veröffentlicht wurde. Welche EU-weiten Maßnahmen werden aus Ihrer Sicht am ehesten Innovation und Wachstum fördern?
Die Kommission hat jüngst den Competitiveness Compass veröffentlicht. Er zeigt Handlungsfelder auf, die für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit relevant sind: Neben Maßnahmen zum Bürokratieabbau und zur Vertiefung des Binnenmarkts sind das u. a. die Verringerung der Innovationslücke, die Dekarbonisierung sowie die Stärkung der Sicherheit. Zudem wird die Mobilisierung insbesondere privater Investitionen eine zentrale Rolle spielen. Dafür ist ein effizienter Kapitalmarkt entscheidend. Die von der Kommission dargelegten Vorstellungen für weitere Arbeiten an der Kapitalmarktunion sind zu begrüßen. Wir erwarten nun die angekündigten konkreten Vorschläge der Kommission dazu. Zusätzlich zu den von der EU geplanten Initiativen müssen auch die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene umfassende Anstrengungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unternehmen.
Stimmen aus der Wirtschaft fordern seit längerem Bürokratieabbau. Welche Hoffnungen können sie sich mit Blick auf die Pläne der neuen EU-Kommission machen?
Das Thema hat national und auf europäischer Ebene an Fahrt aufgenommen. Bundesfinanzminister Jörg Kukies hatte sich gegenüber der Kommission mit Nachdruck für Fortschritte in diesem Bereich eingesetzt. Daher begrüße ich, dass der Bürokratieabbau einer der Schwerpunkte des Arbeitsprogramms der Kommission für das Jahr 2025 ist. Die Kommission wird sich jedoch an spürbaren Ergebnissen messen lassen müssen. Als ersten Schritt plant die Kommission, zeitnah ein Omnibus-Paket zum Bürokratieabbau bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung vorzulegen. Weitere Schritte sind bereits angekündigt. Wir benötigen unbedingt eine grundlegende Vereinfachung des gesamten Systems der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Auch in anderen Bereichen müssen wir vorankommen. Denn ein merklicher Abbau bürokratischer Hürden und Berichtspflichten ist ein essenzieller Schritt zur Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit. Deutschland hat sich mit konkreten Vorschlägen eingebracht, insbesondere im Bereich der Vereinfachung der Nachhaltigkeitsberichtspflichten: zur Streichung doppelter Berichtspflichten, zur Verbesserung der Proportionalität und zeitlichen Verschiebung neuer Berichtspflichten. Auch im Kreis der Finanzministerinnen und -minister finden unter der aktuellen polnischen Ratspräsidentschaft regelmäßige Beratungen zu konkreten Fragen des Bürokratieabbaus beim ECOFIN-Rat statt.
Seit gut einem Monat ist US-Präsident Donald Trump im Amt. Schon jetzt hat er viele Veränderungen angestoßen, beispielsweise mit neuen Zöllen beziehungsweise Zollandrohungen. Worauf sollte die EU sich im Bereich des Handels einstellen – und wie darauf reagieren?
EU-seitig bleiben wir dem Grundsatz des offenen und regelbasierten Handels mit der Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization) im Zentrum verpflichtet. Weltweit profitieren Staaten von handelspolitischer Offenheit. In der aktuellen Situation ist es besonders wichtig, dass wir unsere Handelspartnerschaften stärken und diversifizieren. Wir begrüßen daher den Abschluss der EU-Mercosur-Verhandlungen. Weitere Freihandelsabkommen sollten rasch finalisiert werden. Zölle hingegen erzeugen unnötige wirtschaftliche Hürden und wirken inflationstreibend. Sie sind schädlich für alle Seiten.
Ob EU, G7 oder G20: Multilaterale Formate stehen zunehmend unter Druck. Welche Bedeutung messen Sie ihnen bei und wie können Deutschland und die EU weiterhin globale Entwicklungen effektiv mitgestalten?
Die multilaterale Zusammenarbeit ist wichtiger denn je. Nur gemeinsam können wir Antworten auf globale Herausforderungen wie den Klimawandel und die hohe Verschuldung von Staaten entwickeln sowie die globale Finanzstabilität sichern. Auch wenn wir zum Teil unterschiedliche Interessen verfolgen, entstehen durch diese Formate doch Lösungen zum Wohle aller. Denn ihr Modus Operandi ist dieser: Wir kommen zusammen, wir hören einander zu und loten gemeinsame Positionen aus. Das sind oft stunden-, manchmal tagelange Verhandlungen. Das kann zäh sein und schweißtreibend, aber so schaffen wir gemeinsamen Fortschritt. Zugleich bleiben wir so flexibel, was sich verändernde Rahmenbedingungen angeht. Und gerade weil Deutschland als exportorientierte Volkswirtschaft besonders stark von offenen Märkten und verlässlichen internationalen Rahmenbedingungen profitiert, setzen wir uns entschieden für multilaterale Lösungen ein. Deutschland wird international als verlässlicher und starker Partner geschätzt. Entsprechend wird unserer Stimme auch viel Gehör geschenkt.
Wir müssen aber auch anerkennen, dass die geopolitischen und geoökonomischen Rahmenbedingungen sich stark verändern. Umso mehr gilt: Es gibt keine Alternative zu multilateraler Zusammenarbeit. Gleichzeitig werden wir unsere Interessen verteidigen, indem wir einseitige Abhängigkeiten reduzieren, unsere ökonomische Resilienz und Widerstandsfähigkeit stärken und unsere eigene wirtschaftliche Stärke ausbauen, u. a. durch vertiefte Handelsbeziehungen mit Partnern in aller Welt und neue Freihandelsabkommen, wie sie die EU aktuell vorantreibt. Denn nur auf der Basis eigener Stärke können wir globale Werte zum Wohle aller verteidigen.