Strukturelle Neuverschuldung des Bundes
Seit dem Jahr 2011 ist die strukturelle Neuverschuldung der Maßstab für die Einhaltung der Schuldenregel [pdf, 584KB] gemäß Artikel 115 des Grundgesetzes. Nach Artikel 115 Abs. 2 Grundgesetz sind Einnahmen und Ausgaben des Bundes grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Dem wird entsprochen, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 Prozent des nominalen BIP nicht überschreiten (Obergrenze für die strukturelle Nettokreditaufnahme).
Der Deutsche Bundestag hatte für die Haushaltsjahre 2020, 2021, 2022 und 2023 eine außergewöhnliche Notsituation, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, festgestellt und beschlossen, von der Ausnahmeregelung des Artikels 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 Grundgesetz Gebrauch zu machen. Die Feststellung der außergewöhnlichen Notsituation beruhte auf den erheblichen Auswirkungen der Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie. Im Jahr 2022 kamen die erheblichen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, die sich der Kontrolle des Staates entzogen und die Finanzlage des Staates erheblich beeinträchtigten, hinzu. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 hat das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für nichtig erklärt. Mit dem Nachtragshaushalt 2023 wurden die Auswirkungen der Nichtigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 geheilt sowie die Maßstäbe dieses Urteils auf den Bundeshaushalt 2023 beziehungsweise mit dem Bundeshaushalt 2023 festgestellte Wirtschaftspläne verschiedener Sondervermögen übertragen. Gleichzeitig wurde der WSF-Energie ermächtigt, zur Finanzierung der Auswirkungen des Anstiegs der Energiepreise als Folge der Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine Kredite aufzunehmen. Für die Kreditaufnahme und die Zuführung aus dem Bundeshaushalt an das SV „Aufbauhilfefonds 2021“ zur Unterstützung der von der Flutkatastrophe des Sommers 2021 Betroffenen wurde vom Deutschen Bundestag am 7. Dezember mit der Drucksache 20/9676 eine außergewöhnliche Notsituation, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, festgestellt. Im Jahr 2024 hält der Bund die reguläre Obergrenze für die strukturelle Nettokreditaufnahme gemäß Artikel 115 Abs. 2 Grundgesetz wieder ein. Dies ist auch für den gültigen Finanzplan vorgesehen.
Maastricht-Finanzierungssaldo und mittelfristiges Haushaltsziel
Die erste Hälfte der 90er-Jahre war durch hohe gesamtstaatliche Defizite (Maastricht-Abgrenzung) in einer Größenordnung von rund 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) gekennzeichnet. Dabei waren die strukturellen Defizite (d. h. um konjunkturelle und bestimmte Einmaleffekte bereinigt) insbesondere durch die Folgen der deutschen Wiedervereinigung teils noch deutlich höher als die nominalen. Die konjunkturell gute Lage verdeckte also einen Teil der strukturellen Defizite. In der sich anschließenden Phase der Konsolidierung verschlechterte sich bis Mitte der 90er-Jahre gleichzeitig die konjunkturelle Situation, so dass zwar das strukturelle, jedoch nicht das nominale Defizit zurückging. Erst in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre kam es zu einem Rückgang sowohl des nominalen als auch des strukturellen Defizits.
Das Jahr 2000 markierte eine Trendwende: Trotz eines deutlich über dem Wachstum des Produktionspotenzials liegenden BIP-Zuwachses konnte das nominale Defizit nur geringfügig vermindert werden, das strukturelle Defizit stieg sogar wieder an. Die folgenden Jahre waren durch eine zum Teil sehr schwache konjunkturelle Entwicklung gekennzeichnet, die zu einem Anstieg der nominalen und strukturellen Defizite führte.
Mit der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahr 2005 wurde neben dem Maastricht-Defizit das mittelfristige Haushaltsziel (MTO) als strukturelle Kenngröße eingeführt. Deutschland hatte sein MTO seitdem auf 0,5 Prozent des BIP als Obergrenze für das strukturelle Defizit festgelegt. Das Maastricht-Defizit Deutschlands sank – auch aufgrund einer besseren konjunkturellen Lage – in den nachfolgenden Jahren deutlich und war in den Jahren 2007 und 2008 nahezu ausgeglichen. Das strukturelle Defizit näherte sich dem Zielwert von 0,5 Prozent.
Gleichzeitig führte die Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 bis 2010 zu einem drastischen Wiederanstieg des Maastricht-Defizits auf über 3 Prozent des BIP und teils auch zu einem Anstieg des strukturellen Defizits. Deutschland befand sich daher in den Jahren 2009 und 2010 erneut im Defizitverfahren.
Mit dem Jahr 2011, unterstützt von der deutlichen konjunkturellen Erholung, machte sich die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte positiv in einer spürbaren Verringerung sowohl des nominalen als auch des strukturellen Defizits bemerkbar. Deutschland wurde daher bereits 2012 aus dem Defizitverfahren entlassen. In den Jahren 2012 bis 2019 erzielte der deutsche Staat nominal und strukturell annähernd ausgeglichene Haushalte oder Finanzierungsüberschüsse.
Infolge der Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie verzeichnete der Staat in den Jahren 2020 und 2021 wieder ein deutliches Defizit von über 3 Prozent des BIP. Überwiegend entfiel das Defizit auf den Bund, der die Hauptlast bei der Bewältigung der Corona-Pandemie trug. Seit dem Jahr 2022 liegt das gesamtstaatliche Defizit wieder unter der europäischen 3-Prozent-Obergrenze. Der Rückgang gegenüber den Vorjahren ist insbesondere auf rückläufige Ausgaben im Kontext der Pandemie zurückzuführen. Im Jahr 2024 wird erwartet, dass die Defizitquote auf -1 ¾ Prozent des BIP sinkt, und in den Folgejahren auf dem Niveau von rund -1 und -1 ½ Prozent des BIP verbleibt.
Mit der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vom April 2024 wurde das MTO durch Pfade für das Wachstum der gesamtstaatlichen Nettoprimärausgaben (Ausgaben, bereinigt insbesondere um Zinsausgaben und diskretionäre einnahmeseitige Maßnahmen) ersetzt. Die Pfade sollen bestimmte Kriterien, insbesondere eine fallende Schuldenstandsquote, sicherstellen. Der Pfad, an dem Deutschland gemessen wird, wird im Rahmen des Finanzpolitisch-strukturellen Plans festgelegt.
Maastricht-Schuldenstandsquote
Die Entwicklung der Schuldenstandsquote spiegelt im Wesentlichen die Entwicklung des Maastricht-Defizits wider. Seit der Wiedervereinigung war ein trendmäßiger Anstieg von damals noch 40 Prozent des BIP – und damit deutlich weniger als dem Maastricht-Referenzwert von 60 Prozent – auf deutlich über 60 Prozent im Jahr 2005 zu beobachten.
Der ab dann einsetzende Rückgang wurde mit der Finanzmarktkrise abrupt beendet. Die Stabilisierungsmaßnahmen seit 2008 führten zu einem rapiden Anstieg der Maastricht-Schuldenstandsquote. Im Gegensatz zum Maastricht-Defizit, in dem nur vermögensmindernde Maßnahmen im Rahmen der Bankenkrise zu Buche schlugen, weist die Schuldenstandsquote als Bruttogröße den gesamten Anstieg der staatlichen Verbindlichkeiten aus. Dies waren zunächst unter anderem die Maßnahmen des Finanzmarktstabilisierungsfonds, aber auch die Errichtung der Abwicklungsanstalten, die statistisch einen Transfer von Verbindlichkeiten des Bankensektors in den Staatssektor darstellen. Seit 2010 kamen Stützungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der europäischen Staatsschuldenkrise hinzu, die den Schuldenstand weiter erhöhten. Dazu zählen die bilateralen Kredite an Griechenland sowie die Kredite der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) an Griechenland, Irland und Portugal. Letztere werden anteilig den Mitgliedstaaten zugerechnet, welche die EFSF mit Garantien absichern. Seit 2013 ging die Schuldenstandsquote sukzessiv zurück, auf 59,6 Prozent im Jahr 2019. Bis zum Jahr 2021 stieg sie – infolge der Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie – bis auf 69,0 Prozent an und ist im Jahr 2023 wieder bis auf 63,6 Prozent des BIP zurückgegangen.